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# taz.de -- Austritte bei der Linken: „Es gibt bei uns keine Antisemiten!“
> Unser Autor Alexander Karschnia ist aus der Linkspartei ausgetreten. Er
> plädiert für neue Netzwerke, um den regressiven Zeitgeist zu kontern.
Bild: Der Austritt aus einer Partei kann ein letzter Akt der Loyalität zu eine…
Manchmal ist ein Wort entscheidend. Ob man etwa gegen jeden Antisemitismus
eintritt oder gegen Antisemitismus, kann einen Unterschied ums Ganze
machen.
Beim Antisemitismus-Streit des Berliner Landesverbands der Partei Die Linke
ging es um Änderungen, die an einem Antrag des früheren Kultursenators
Klaus Lederer vorgenommen werden sollten. Das erste Wort, das gestrichen
werden sollte, war das zweite des Antragstitels „Gegen jeden
Antisemitismus“. Dass auch das berühmte Adorno-Zitat, dass alles getan
werden müsse, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, gestrichen werden
sollte, erscheint nur folgerichtig. Die Kenntlichmachung der Hamas als
Trägerin eines „eliminatorischen Antisemitismus“ brachte dem Antrag dann
auch noch den zynisch klingenden Vorwurf der Holocaustverharmlosung ein.
Nun lässt sich darüber streiten, ob Daniel Goldhagen, Autor des epochalen
Werkes „Hitlers willige Vollstrecker“, diese Bezeichnung für die Nazis
reserviert hatte. Man kann aber auch einfach auf die Hamas-Charta von 1988
verweisen, die unumwunden die Vernichtung Israels als jüdischen Staat zum
Ziel erklärt. Konsequenterweise zogen die Antragssteller:innen um
Klaus Lederer ihren solchermaßen verunstalteten Antrag zurück und verließen
am 11. Oktober den Sitzungssaal auf dem Berliner Landesparteitag der
Linken.
## Klingt ausgewogen, ist es nicht
Beim Bundesparteitag in Halle, der eine Woche später stattfand, sollte ein
ähnlicher Eklat wie in Berlin verhindert werden. Im Vorfeld wurde zäh über
Formulierungen verhandelt. Das Ergebnis waren dann Sätze wie: „Unsere
Solidarität endet dort, wo das Massaker des 7. Oktober als Akt des
Widerstandes gefeiert wird oder die Kriegsverbrechen der israelischen Armee
bejubelt werden.“
Klingt ausgewogen, nach Beschluss gewordener Äquidistanz: weder Massaker
feiern noch Kriegsverbrechen bejubeln. Das Problem ist nur, dass es für die
erste Handlung genügend Beispiele gibt: von den Süßigkeiten, die am 7.
Oktober 2023 auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln verteilt worden sind,
bis zur Preisung des Massakers am ersten Jahrestag des Überfalls auf Israel
als „Widerstand“. Die Frage ist aber, wer im Umfeld der Partei die
militärischen Maßnahmen der IDF „bejubelt“ hat, zumal solche, die als
„Kriegsverbrechen“ bezeichnet werden könnten.
Ob solche umformulierten Beschlüsse das Papier wert sind, auf dem sie
gedruckt werden, musste man sich spätestens fragen, als kurz nach dessen
Verkündigung der Redebeitrag von Teilnehmenden einer anti-israelischen
Demonstration vor dem Parteitagsgelände nicht mit Verweis auf eben jenen
Beschluss, sondern auf Brandschutzbestimmungen abgelehnt wurde. Henriette
Quade aus Halle, die aus den Reihen der Demo beleidigt und beschimpft
worden war, trat daraufhin am Folgetag aus der Partei Die Linke aus.
Die Solidaritätserklärung des neuen Parteivorsitzenden Jan van Aken wies
Quade zurück. Nicht die Tatsache, dass „Bullshit“ über sie gesagt wurde,
sei der Grund, sondern Behauptungen wie: „Es gibt bei uns keine
Antisemiten!“
## Mit Wagenknecht auf der Bühne
Womit wir wieder beim Wörtchen „jeden“ wären: Was hilft es, wenn im
Nachgang der beiden Parteitage versichert wird, man sei jetzt auch gegen
jeden Antisemitismus, man aber beim besten Willen in den eigenen Reihen
keine Antisemit:innen entdecken kann?
So bleibt der Antisemitismus ein Problem der anderen. Agitationen wie etwa
gegen das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden von Martin Walser bis
Björn Höcke werden als antisemitisch erkannt. [1][Die Parole „Free
Palestine from German Guilt“] von [2][der documenta fifteen] bis zu den
Berliner Demos hält man hingegen für einen Akt antikolonialen Widerstands.
Natürlich ist es ein Machtkampf, der sich in der Linken abspielt – wenig
verwunderlich für eine politische Partei. Unzutreffend jedoch ist die
Vermutung, es handele sich dabei um ein [3][Rückzugsgefecht der alten
Garde] von „Regierungslinken“. Unter den Austritten befinden sich auch
Leute, die wie der Autor dieser Zeilen erst Anfang des Jahres eingetreten
sind, weil sie dachten, mit dem Abgang von Sahra Wagenknecht sei endlich
die Zeit gekommen, offensiv progressive Politik zu machen.
Spätestens am 3. Oktober mussten sie feststellen, dass der progressive Teil
der Partei an der Demonstration der ukrainischen Organisation Vitsche in
Berlin teilnahm, während die designierten Vorsitzenden mit Wagenknecht auf
der Bühne der Friedensdemo am Brandenburger Tor standen.
## „Exit, Voice, and Loyalty“
Diese Differenzen sind nicht länger zu überbrücken, sie lassen sich jedoch
auch nicht länger deckeln, wie es am Wochenende vom 18. bis 20. Oktober in
Halle erneut versucht wurde. Wenn die Möglichkeit, Differenzen auszutragen,
verunmöglicht wird, bleibt nur der Austritt – als letzter Versuch, sich
Gehör zu verschaffen.
Dieses Dilemma hat der Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman einst auf
die Formel von „Exit, Voice, and Loyalty“ gebracht. Vor wenigen Wochen ist
die Neuausgabe dieses Buch erschienen, exakt fünfzig Jahre nach dem ersten
Erscheinen der deutschen Übersetzung. Als ich im Frühjahr als Herausgeber
dieses Bands an dem Vorwort schrieb, konnte ich nicht ahnen, wie schnell
die realen Ereignisse Hirschmans Überlegungen bestätigen würden.
Er selbst hatte das Buch als Reaktion auf 1968 geschrieben und verwies
dabei auf die Auseinandersetzung bei den US-Demokraten wegen des
Vietnamkrieges. In einer komplexen Konfliktlage kann es passieren, dass
ausgerechnet die engagiertesten Mitglieder einer Partei den Rücken kehren.
Die „Loyalty“ zu einer Idee führt dann zu „Exit“, dem Austritt aus ein…
Institution, als letzter Form von „Voice“, also seine Stimme zu erheben.
Bleibt hinzuzufügen, dass Hirschman selbst Anfang der 1930er Jahre vor
einem ähnlichen Dilemma stand, als er Mitglied der Sozialistischen
Arbeiterjugend in Berlin war. Damals spaltete sich die SPD aufgrund der
Tolerierung von Brünings Sparpolitik. Willy Brandt verließ die Partei und
schloss sich der SAP an, Hirschman blieb. Wenig später kämpften beide im
Rahmen der Gruppierung Neu Beginnen gegen die Nazis.
## Gegen die Regression
Das Besondere an diesem antifaschistischen Netzwerk war, dass sie nicht
versuchten, eine neue Partei aus der Taufe zu heben, sondern Mitglieder der
verfeindeten Arbeiterparteien miteinander zu verbinden. Es bleibt zu
hoffen, dass diejenigen, die jetzt die Die Linke verlassen, und diejenigen,
die sich entschlossen haben, weiter innerhalb der Partei zu kämpfen,
ebenfalls durch ein Netzwerk miteinander verbunden bleiben.
Gegen die „große Regression“, die Tag für Tag weiter – auch und derzeit
besonders in „der“ Linken – um sich greift, muss man alle Kräfte bündel…
vor allem um Antisemitismus und Rassismus gemeinsam zu bekämpfen. So wie es
eine Initiative von Überlebenden des Anschlags von Halle nun schon seit
mehr als fünf Jahren versucht.
Dass ausgerechnet Henriette Quade, eine Vorkämpferin für ein solches
Bündnis, von israelfeindlichen Aktivist:innen attackiert wurde, zeigt,
wie schwierig es geworden ist, solche Bündnisse aufrechtzuerhalten. Gegen
jeden Antisemitismus zu sein heißt daher auch, den Antisemitismus zu
benennen, der sich hinter einem Antirassismus verschanzt. Und der von
Antisemitismus nichts mehr wissen will bzw. den Antisemitismus immer nur
bei anderen verortet. Denn damit sind sie nicht besser als rechte
Anti-Antisemit:innen, die Judenhass gerne in linken und migrantischen
Milieus anprangern, aber nach dem Bekanntwerden von Aiwangers
neonazistischem Flugblatt ganz schnell wieder zur alten Tagesordnung
übergegangen sind.
Wie der Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 gezeigt hat, treten
Rassismus, Antisemitismus und Misogynie in ihrer tödlichsten Form zumeist
zusammen in Erscheinung. Der Attentäter wollte so viele „Anti-Weiße“ wie
möglich ermorden.
Diese Wortwahl gilt es zu bedenken, will man künftig neue Allianzen
schmieden.
28 Oct 2024
## LINKS
[1] /Free-Palestine-from-German-Guilt/!5967918
[2] /Antisemitismus-auf-der-documenta-fifteen/!5860742
[3] /Parteitag-der-Linken/!6041158
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