| # taz.de -- Schau zu jüdischen Formen der Sorge: Wider alle Widerstände | |
| > Die Ausstellung „Who Cares?“ im Jüdischen Museum in Wien dokumentiert | |
| > jüdische Antworten auf Leid und Not. Sie ist radikal diesseitig | |
| > ausgerichtet. | |
| Bild: Die Arzttasche von Sigmund Freud | |
| Ein bekannter jüdischer Witz geht so: Ein Jude wird Präsident der USA und | |
| lädt seine Mutter ins Weiße Haus ein. Nach zahlreichen Einwänden und | |
| nachdem der Sohn ihr versichert, dass es koschere Küche gibt, stimmt sie | |
| schließlich einem Besuch zu. Als kurz darauf eine Freundin anruft, sagt ihr | |
| die Mutter des Präsidenten: „Ich gehe mit meinem Sohn essen.“ – „Mit d… | |
| Arzt?“, fragt die Freundin. „Nein, mit dem anderen.“ | |
| Das ist nur einer der zahlreichen jüdischen Witze, die auf die große | |
| Bedeutung des Arztberufs und der Medizin im Judentum verweisen. | |
| Als die Christen das Einwirken auf den Körper noch mit Hexerei in | |
| Verbindung brachten, war die jüdische Heilkunde, die antike Medizin | |
| aufgreifend und als deren Vermittlerin wirkend, schon weit entwickelt. | |
| Bereits im Mittelalter war der Anteil jüdischer Ärzte überdurchschnittlich | |
| hoch, obwohl Juden lange Zeit vom Medizinstudium ausgeschlossen waren, nur | |
| an einzelnen italienischen Universitäten studieren konnten oder privat | |
| ausgebildet werden mussten. | |
| [1][Der berühmteste jüdische Arzt und Philosoph des Mittelalters ist | |
| Maimonides]. Nach seiner Vertreibung aus Andalusien lebte er ab 1148 in | |
| Ägypten und verfasste in arabischer Sprache Schriften über Medizin. | |
| Zwischen Diskriminierung, Ghettoisierung, Vertreibung und punktueller | |
| Teilhabe entwickelte sich ein medizinisches Wissen, das jüdische Ärzte | |
| immer wieder in wichtige Positionen bei Sultanen, Kaisern oder Päpsten | |
| brachte und zum Überleben der verfolgten jüdischen Gemeinschaft beitrug. | |
| Zu thematisieren, wie elementar jüdische Wissenschaftler an | |
| medizinischem Fortschritt beteiligt waren, ist Anliegen einer großen | |
| Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, die allerdings nicht bloß die Medizin | |
| fokussiert, sondern unter dem Titel „Who Cares?“ jüdische Antworten auf | |
| Leid und Not dokumentieren will – psychische und soziale Hilfeleistungen | |
| eingeschlossen. Das ermöglicht, auch die Geschichte von Müttern, Hebammen, | |
| Pflegern und Fürsorgerinnen in den Blick zu nehmen. Wien ist der | |
| Hauptort dieser Dokumentation, im Fin de Siècle war die Stadt ein Zentrum | |
| wissenschaftlicher Innovation. | |
| ## Zwei jüdische Gebote | |
| Entlang von mehr als 300 Objekten ist hier lehrreich ein Teil jüdischer | |
| Geschichte vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart dokumentiert. | |
| Zahlreiche Personenfahnen machen mit bedeutenden Ärzten, Fürsorgerinnen, | |
| Hygienikern, Analytikerinnen und Institutionen bekannt. | |
| Das Arztdiplom der Jüdin Virdimura von 1376, die als Ärztin praktizieren | |
| durfte, nachdem sie die Ärzte Königs Friedrich III. von ihrem Können | |
| überzeugt hatte, ist hier ebenso zu sehen wie frühe Elektroschockgeräte, | |
| Zwangsjacken oder ein Modell des Wiener Narrenturms, der ersten | |
| psychiatrischen Klinik Kontinentaleuropas, die 1784 von Joseph II. in | |
| Auftrag gegeben wurde und in der viele elendig starben. | |
| Die Ausstellung folgt keiner Systematik, statt von strukturellen Ursachen | |
| geht sie von zwei jüdischen Geboten aus. | |
| Das [2][Tikun Olam] – es steht für die Verbesserung oder Vervollkommnung | |
| der Welt – und die Zedaka – die Pflicht, soziale Gerechtigkeit herzustellen | |
| – sind die beiden Gebote, aus denen heraus die Entwicklung hier gedacht | |
| werden soll. Das Judentum ist stark auf das Diesseits gerichtet, Leben zu | |
| erhalten und das Gelingen eines würdigen, gesunden und gerechten Lebens | |
| sind grundlegend. Allein die Zahl der Gebote in der Tora gibt einen Hinweis | |
| darauf: Ihre Anzahl entspricht mit 248 der Zahl der Knochen im menschlichen | |
| Körper. | |
| Wie wichtig das Tikun Olam auch gegenwärtig im Judentum ist, kann man zum | |
| Beispiel an jüdischen Schulen erleben; dort leitet das moralische Gebot zu | |
| sozialer Aktivität an, die Natur und Tierwelt eingeschlossen. Auch das | |
| Gebot „Liebe deinen Nächsten“ war in der Tora zentral, lange bevor das Neue | |
| Testament es predigte. | |
| ## Notwendige Selbsthilfe | |
| Diese Gebote mögen hier und da den Impuls für einige der jüdischen | |
| Hilfsorganisationen gegeben haben. Jedoch drängt sich die Frage auf, ob | |
| nicht viel eher aufgezwungenes Elend, Berufsverbote und Vertreibungen den | |
| medizinischen und sozialen Fortschritt sowie die Selbsthilfe notwendig | |
| machten. | |
| Wie stark wiederum die Verpflichtung zur Wohltätigkeit im Judentum | |
| tatsächlich ist, zeigt in der Ausstellung eine Zedaka-Wertmarke aus Blei. | |
| Sie wurde im Polen des 18. Jahrhunderts an Arme verteilt und konnte gegen | |
| die kleinste Münze eingetauscht werden. So war es auch den Ärmsten möglich, | |
| ihrer Spendenpflicht nachzukommen. | |
| 1867 gewährte das Habsburger Reich seinen Untertanen freies | |
| Ansiedlungsrecht, und die Industrialisierung lockte viele nach Wien. Dass | |
| es den Juden mit am schlechtesten ging, zeigen einige Fotos aus der Wiener | |
| Vorstadt. Die religiösen Reinheitsgesetze, die das Judentum bereits seit | |
| der Antike kennt und die viele Aspekte der medizinischen öffentlichen | |
| Hygiene des 19. Jahrhunderts vorwegnahmen, waren unter solchen | |
| Lebensbedingungen lebenserhaltend. | |
| Eine Kundmachung aus Czernowitz von 1915 zeigt, dass im Kampf gegen die | |
| Cholera bereits damals nur geimpfte Personen die Synagoge betreten durften. | |
| All das hat jedoch Antisemiten freilich nicht davon abgehalten, immer | |
| wieder die Lüge über Juden als Überträger von Krankheiten zu verbreiten. | |
| ## Zeugnisse einer untergegangen Welt | |
| Beeindruckend ist, wie die Ausstellung die Geschichte der Frauen aufgreift. | |
| „Die neue Zeit“ ist der Titel einer Zeitschrift, auf deren Cover eine Frau | |
| in Ketten dargestellt ist. Der „Bund für Geburtenregelung“, der sich | |
| bereits in der Zwischenkriegszeit für das Recht auf Abtreibung einsetzte, | |
| hatte sie herausgegeben und Vorträge organisiert, die den | |
| „Mutterschaftszwang“ thematisierten. Die sehr düstere Radierung „Tod, Fr… | |
| und Kind“ (1910) von Käthe Kollwitz unterstreicht das Furchterregende, das | |
| Mutterschaft mit sich bringen kann. | |
| 1938 wurden alle jüdischen Hilfsvereine aufgelöst, jüdischen Ärzten die | |
| Approbation entzogen, einige konnten fliehen, nicht wenige nach Schanghai, | |
| andere konnten nur noch notdürftig Mithäftlinge in den Todeslagern | |
| versorgen, bevor sie selbst ermordet wurden. | |
| Im selben Jahr verlässt [3][Sigmund Freud] Wien und geht nach London. | |
| Freuds Hut und Tasche, sonst in dessen ehemaliger Wohnung in der Wiener | |
| Berggasse zu sehen, zeugen auch hier von einer untergegangen Welt. Auch | |
| Berta Pappenheim, Freuds berühmte Hysterie-Patientin mit dem Pseudonym Anna | |
| O., ist in der Schau präsent. Als Feministin gründete sie den Jüdischen | |
| Frauenbund und ein Mädchenwohnheim. | |
| ## Medizinische Versorgung in Palästina verbessert | |
| Was Nationalsozialisten im Namen des medizinischen Fortschritts Verfolgten | |
| angetan haben, ist bekannt. Über die Kontinuität sadistischer Ärzte in | |
| hohen Ämtern auch nach dem Zweiten Weltkrieg wird noch immer zu wenig | |
| gesprochen. | |
| Am Ende der Ausstellung hätte man gern mehr über die Organisierung der | |
| Alija und die Displaced-Persons-Lager nach 1945 erfahren. Auch die | |
| Tatsache, dass die Säuglingssterblichkeit unter muslimischen Kindern in | |
| Palästina um die Hälfte sank, als sich mit der jüdischen Einwanderung die | |
| Hygieneverhältnisse und die medizinische Versorgung in der Region | |
| verbesserten, wäre dokumentationswürdig gewesen. | |
| Stattdessen schließt die Ausstellung mit allgemeinen Appellen für eine | |
| Zukunft des Miteinanders statt des Gegeneinanders. Eine pädagogische | |
| Überfrachtung, die am Ende dieser reichen und affizierenden Schau | |
| überflüssig ist. | |
| 21 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
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