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# taz.de -- Enkel der Schoa-Überlebenden: Wissen, woher man kommt
> Wie tragen die Enkel der Schoa-Überlebenden ihre Geschichte weiter? Das
> Jüdische Museum in Wien zeigt, wie aus Erinnerung Geschichte wird.
Bild: Aufs Sweatshirt tradierte Heimat: „Trachimbrod“ war ein jüdisches Sc…
Da stehen zwei Rucksäcke im Raum, ein größerer und ein kleinerer, und der
erste Gedanke ist, dass dies Erinnerungsstücke eines Überlebenden sein
müssen, Behältnisse also, die authentisch davon berichten, wie ein
jüdischer Mensch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überstanden
hat, mithilfe dieser Rucksäcke nämlich.
Aber das stimmt in diesem Fall höchstens zur Hälfte. Wir befinden uns im
[1][Jüdischen Museum Wien] in einer Sonderausstellung mit dem Titel „Die
dritte Generation“. Ja, diese Rucksäcke erinnern an den Großvater einer
Familie. Er kam aus Budapest und wurde 1944 von den Nazis nach Serbien
deportiert. Er hat überlebt. Doch es sind nicht seine Rucksäcke.
Die dritte Generation – gemeint sind damit die Enkel der jüdischen Opfer –,
es wird die letzte sein, die die Überlebenden noch persönlich kennenlernen
konnte. [2][Erinnerung verändert sich] künftig fort von familiärer Nähe zu
Opa und Oma hin zu einer Geschichte, die man nur noch aus Büchern,
Interviews und Schwarz-Weiß-Bildern kennt. Erinnerung wird zur Geschichte.
Auch in jüdischen Familien?
Manch Nichtjuden sind der Auffassung, mit dem Tod der letzten jüdischen
Zeugen der Menschheitskatastrophe verschwinde auch der Schmerz der
Überlebenden (und, ganz nebenbei, die Verantwortung der Täternachfahren).
Doch das ist ein Irrtum, und dies ist der erste Punkt, den diese
Ausstellung macht. Trauer und Erinnerungen bleiben, sie suchen sich nur
andere Ausdrucksformen. So wie bei den beiden Rucksäcken.
Viele Menschen aus der Generation der Überlebenden waren unfähig zu
sprechen. Erinnerung war gleichbedeutend mit einem Albtraum, den man nicht
zum Leben erwecken wollte. Viele Menschen aus der zweiten Generation waren
unfähig zu fragen. Sie mochten sich Vater und Mutter nicht als gequälte
Opfer vorstellen, sondern als ihre Vorbilder.
## Erinnerung kann täuschen
Die dritte Generation hat einen größeren Abstand. Sie fragt – auch wenn die
Antworten häufig nur mehr verwaschen daherkommen. Denn dass die Großeltern
oder Urgroßeltern alle noch am Leben sind, das dürfte die Ausnahme sein. In
der Familie von Zsuzsi Flohr wussten die Nachfahren nicht viel über den
Großvater, nur wo er hergekommen war und wohin er verschleppt wurde. Er
starb, als Zsuzsi noch klein war. Es gibt keine Fotos. Zsuzsis Vater und
eine Tante erinnerten sich aber an den Rucksack, der das Leben des
Großvaters gerettet habe, mit Geheimfächern für Zuckerstücke.
Also begann die Künstlerin, den Rucksack nach den Angaben des Vaters
nachzuschneidern. Als sie damit fertig war, erklärte die Tante, er sähe dem
Original überhaupt nicht ähnlich. Also schneiderte Zsuzsi Flohr einen
zweiten Rucksack, nun nach der Erinnerung der Tante. Sie wusste jetzt:
Erinnerung kann täuschen. Und Verstummen ist keine Lösung. Fragen lohnt
sich immer. Das ist der zweite Punkt, den die Ausstellung macht. Man muss
kein Künstler sein, um der Familiengeschichte der Verfolgung auf den Grund
zu gehen.
Viele Angehörige der dritten Generation machen sich auf den Weg zu den
Ursprüngen ihrer Gruppe, nach Polen, Rumänien oder in die baltischen
Länder. Sie würden auch in die Ukraine oder nach Russland fahren, wenn es
dort nicht den Krieg geben würde. Sie wollen wissen, wo sie herkommen. Sie
stochern in vergilbten Papieren von Regionalarchiven herum, auf der Suche
nach der Urgroßmutter und dem Schwippschwager. Manchmal werden sie fündig.
## Das Schweigen überwinden
Es geht dabei um den Versuch, die Lücken der Familiengeschichte zu
schließen, die das Schweigen verursacht hat. Wobei die Wiener Ausstellung
klar macht, dass Begrifflichkeiten wie Generationen und Überlebende höchst
wacklige Konstruktionen sind. So wenig wie die Enkel oder Urenkel lassen
sich die Überlebenden selbst in eine Schachtel mit Etikett stecken.
Überleben konnte man im Lager, versteckt oder unerkannt, halbwegs geschützt
durch „arische“ Verwandte oder geflohen ins Exil.
Für fast alle war dieser Prozess ein Abstieg. Für alle gleich blieb am Ende
nur die bohrende Frage, warum man selbst überlebt hatte, die anderen aber
nicht. Vielen, nicht allen Überlebenden war es unvorstellbar,
zurückzukehren. Heute nehmen jüngere Israelis oder US-Amerikaner für sich
das Recht in Anspruch, wieder einen deutschen oder österreichischen Pass zu
besitzen, wenn die erste Generation aus dem Land stammte, und so von den
Segnungen der EU zu profitieren. „Bescheid über den Erwerb der
Staatsbürgerschaft durch Anzeige“ nennt sich das Ergebnis dieses Vorgangs
in Wien, und er ist in der Ausstellung zu besichtigen.
Doch eigentlich lässt sich das Thema nicht entlang nationaler Grenzen
erzählen. Schon die Überlebenden mussten häufig ihren Wohnort und ihr Land
verlassen. Zwei Generationen später ist Heimat ein sehr flüchtiger Begriff
geworden. Und deshalb steht im Jüdischen Museum in der Dorotheergasse jetzt
eine silberne Schatulle, die Isidor Löwit im Jahr 1931 zum 50-jährigen
Dienstjubiläum als Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde von Wien
geschenkt bekommen hat.
Elf Jahre später schrieb Löwit an seine vor den Nazis geflüchtete Enkelin:
„Sollte der liebe Gott es fügen, dass ich den Krieg überlebe, werde ich
glücklich sein, vielleicht noch Urenkel zu erleben.“ Der Wunsch ging nicht
in Erfüllung. Isisdor Löwit wurde am 28. Dezember 1942 im Ghetto
Theresienstadt ermordet. Die Enkelin und die Schwiegertochter von Isidor
Löwit überlebten. Ihre Nachfahren schenkten im Herbst 2023 das
Familienarchiv dem Jüdischen Museum in Wien.
2 Oct 2024
## LINKS
[1] /Schau-zu-juedischen-Formen-der-Sorge/!6022237
[2] /Juedisches-Leben-in-Deutschland/!5914363
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Ausstellung
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