# taz.de -- Forschung zu Ghetto in der Ukraine: Die Toten suchen | |
> Esther Safran Foer porträtiert ein ausgelöschtes Dorf und die | |
> Entkommenen. Es ist die Geschichte hinter dem Roman ihres Sohns Jonathan | |
> Safran Foer. | |
Bild: Esther Safran Foer fand den Retter ihres Vaters | |
Wo früher einmal das kleine Schtetl Trochenbrod war, sind heute nur noch | |
Wiesen, Wald und schmale Pfade, vereinzelt stehen Mahnmale und Grabsteine | |
auf den Feldern. | |
Zwischen 1835 und 1942 existierte ein Ort dieses Namens auf dem Gebiet der | |
heutigen Ukraine, bis zu 4.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger lebten hier, | |
es gab sieben Synagogen. 1941 errichteten die Nazis in der Nähe das Ghetto | |
Tschetwertnja, zwischen August und Oktober 1942 ermordeten sie fast alle | |
ansässigen Jüdinnen und Juden und zerstörten Trochenbrod. | |
Einer der wenigen Überlebenden war Louis oder „Leibel“ Safran. Leibel | |
Safran hatte Glück. Die Nazis schickten ihn manchmal zu Arbeitseinsätzen | |
außerhalb des Ghettos – so auch an dem Tag, als das Ghetto auf Kommando der | |
SS aufgelöst wurde und die Insassen hingerichtet wurden. | |
Als er zurückkam, hatten die Nazis seine Frau und seine sechsjährige | |
Tochter ermordet. Safran entkam, er konnte sich bei einer Familie | |
verstecken, nach dem Krieg floh er mit seiner neuen Frau Ethel Bronstein | |
nach Washington, D. C. In fiktionalisierter Form ist seine Geschichte | |
weltberühmt geworden: Er war der Großvater des Autors [1][Jonathan Safran | |
Foer], der mit „Alles ist erleuchtet“ aus seiner familiären Spurensuche in | |
der Ukraine Romanstoff gemacht hat. | |
## Die Tocher von Leibel Safran | |
Die historischen und genealogischen Lücken von „Alles ist erleuchtet“ | |
beschäftigen dessen Mutter Esther Safran Foer – die Tochter von Leibel | |
Safran – schon ihr Leben lang. Sie wusste fast nichts über die frühere | |
Familie ihres Vaters und ihre ermordete Halbschwester. | |
Danach fragen konnte sie ihn nicht: Er nahm sich 1954 das Leben, als sie | |
acht Jahre alt war. „Ich glaube, dass ihn letztlich der Holocaust | |
umgebracht hat“, schreibt Esther Safran Foer nun in ihrem Buch „Ihr sollt | |
wissen, dass wir noch da sind“ und erinnert in diesem Zusammenhang an die | |
vielen Holocaust-Überlebenden wie Bruno Bettelheim, Jean Améry, Primo Levi | |
und Paul Celan, die Suizid begingen. | |
Esther Safran Foer geht in dem Buch ihrer Familiengeschichte auf den Grund | |
– das, was ihr Sohn mangels Wissen zu Fiktion machte, recherchiert sie | |
gründlich nach. Sie will wissen, wer ihre Halbschwester war, wer ihren | |
Vater versteckt und ihm das Leben gerettet hat, denn sie will seinen Retter | |
in Yad Vashem zu einem Gerechten unter den Völkern erklären lassen. Esther | |
Safran Foer befragt dazu Angehörige in den USA und Brasilien, 2009 bereist | |
sie schließlich das Gebiet um das einstmalige Trochenbrod. | |
Dieser Teil, in dem sie die Ukraine-Reise mit ihrem anderen Sohn Frank | |
schildert, bildet den Kern des Buchs. Die beiden suchen die Massengräber | |
auf, rekonstruieren die grausamen Details vor Ort: | |
## Von hinten erschossen | |
„Dann befahlen die Nazis den Juden, sich in Siebenerreihen aufzustellen, | |
sich umzudrehen und an den Rand der Grube zu stellen, wo sie von hinten | |
erschossen wurden. Während dieser Prozess immer wieder wiederholt wurde, | |
versuchten viele, in den Wald zu flüchten. Andere drehten bei dem Anblick | |
durch. Doch egal ob sie davonliefen oder schreiend dastanden, es wurden | |
alle erschossen. Als diese Grube voll war, brachten die Nazis die übrigen | |
Juden zu einer zweiten Grube im Wald. An diesen beiden Gruben waren die | |
beiden anderen Mahnmale errichtet worden. Frank und ich begruben unsere | |
Familienkarte an jedem der Gräber. Unsere Vorfahren sollten wissen, dass | |
wir noch da sind“, schreibt sie (an jedem Grab lassen die beiden ihre | |
Rosch-Ha-Schana-Karte – jüdische Neujahrskarten – zurück). | |
Stück für Stück erforscht Safran Foer die Namen und Biografien, nach denen | |
sie sucht, sie greift dabei auch auf die wissenschaftlichen Arbeiten von | |
Patrick Desbois („Der vergessene Holocaust: Die Ermordung der ukrainischen | |
Juden“) und Timothy Snyder zurück. In einem Dorf, das heute Krynychne | |
heißt, treffen die beiden auf die Nachfahren des Retters, und sie erfahren | |
auch den Namen der ermordeten Halbschwester: Asya Safran. | |
Dieser zweite Teil des Buchs ist spannend geschrieben, ergreifend, | |
erschütternd in seinen Details. Allerdings sind viele Passagen davor, in | |
denen die Autorin die Vorgeschichte und ihre Vorbereitungen beschreibt, zu | |
ausführlich und ungelenk geraten. Teilweise liest sich das Buch da wie ein | |
Satzgeflecht gewordener Stammbaum, und man blickt nicht mehr durch. Hinten | |
im Buch gibt es übrigens tatsächlich einen aufgezeichneten Stammbaum, der | |
helfen kann. | |
## Ausgelöschtes Dorf | |
Aber es lohnt sich dranzubleiben. Safran Foer porträtiert ein ausgelöschtes | |
Dorf, sie porträtiert jene, die der Auslöschung entkommen sind. Sie würdigt | |
die Geschichte derer, die menschlich blieben, während rings um sie herum | |
die deutschen Barbaren wüteten. | |
Als die Autorin Esther Safran Foer und ihr Sohn Frank bei der Enkelin des | |
Retters von Leibel Safran ankommen, fragt diese sie, warum sie gekommen | |
seien. Die beiden antworten: „Geschichte ist teils Glück, teils Zufall (…). | |
Unser Glück war es, dass Leibel ihre Familie um Hilfe gebeten hatte, denn | |
dies war der Zufall, ohne den es uns nicht gäbe.“ | |
17 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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