# taz.de -- Posy Simmonds über ihre Graphic Novels: „Was für ein Schatz!“ | |
> Posy Simmonds ist die große alte Dame der britischen Graphic Novel. Die | |
> Chronistin der Mittelschichten spricht über ihr Werk. | |
Bild: In ihren Graphic Novels spielen häufig Frauen die Hauptrolle: die Autori… | |
Die ältere Frau mit der Pelzmütze, dem dicken Wintermantel und der Brille | |
sieht – von ihrer Leibesfülle einmal abgesehen – eigentlich recht harmlos | |
aus. Allerdings irritieren die schreiend gelben Reinigungshandschuhe, die | |
sie über die Hände gezogen hat. Und in der einen Hand hält sie eine | |
Pistole, den Finger am Abzug. | |
Das Cover der Graphic Novel „Cassandra Darke“ zeigt eine Frau, die die | |
Betrachter*innen direkt ansieht, vielleicht gar zu bedrohen scheint. In | |
jeden Fall wirkt es ungewöhnlich. Entworfen hat es die englische | |
Comic-Autorin [1][Posy Simmonds], die sich gerade auf Lesereise in | |
Deutschland befindet. | |
Die 74-Jährige ist selbst das genaue Gegenteil ihrer gezeichneten | |
Titelheldin: schlank und eher zierlich. Die Comicfigur Cassandra Darke | |
wirkt etwas plump und schwerfällig, ist eine Einzelgängerin und meist | |
barsch zu ihren Nächsten. Posy Simmonds ist hingegen sehr höflich, bei | |
einem Treffen in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs sagt sie, ohne | |
jeglichen Akzent: „Entschuldigen Sie bitte mein schlechtes Deutsch.“ | |
Simmonds sagt, im Weiteren auf Englisch, sie sei gern in Berlin. „Ich liebe | |
die vielen Museen und Ausstellungen.“ Doch für diese wird sie dieses Mal | |
kaum Zeit haben. Posy Simmonds hat von ihrem deutschen Verlag Reprodukt ein | |
dichtes Programm verordnet bekommen. Am Abend hat sie ein Podiumsgespräch, | |
danach geht es weiter nach Frankfurt und München. Also kommen wir im | |
Gespräch schnell zum Kern ihrer Tätigkeit, dem Comiczeichnen. | |
Mit Leidenschaft erzählt sie von ihrer Kindheit in einem Dorf in Berkshire, | |
einer Grafschaft westlich von London, wo sie 1945 geboren wurde. Zu Hause | |
las man „anspruchsvolle“ Literatur, aber eben auch die satirische | |
Zeitschrift Punch. Auch die US-Comics entdeckte sie schon früh: „Es gab | |
eine Airbase in der Nähe, befreundete Kinder der GIs dort brachten viele | |
Comics mit und liehen mir diese aus. Darunter waren ‚Superman‘, ‚Batman�… | |
‚Micky Maus‘, alles Mögliche. | |
Ein Kind schenkte mir damals sogar eine ganze Kiste voll. Was für ein | |
Schatz!“. Darunter waren auch Hefte des „berüchtigten“ EC-Verlags, die | |
Mitte der 1950er Jahre in den USA auf den Index gesetzt wurden – Horror- | |
und Mordstorys, die als „Schund“ gebrandmarkt wurden. Posy Simmonds las | |
auch diese. „Einmal erwischte mich meine Mutter mit einem solchen Heft. Da | |
wurde ein Mann von einer Olivenpresse zerquetscht. Meine Mutter schrie auf: | |
‚Grauenvoll!‘ “ | |
Heute fällt die Bewertung der EC-Comics allgemein anders aus. Sie hatten | |
einen hohen Textanteil und eine relativ hohe literarische Qualität. Was | |
wiederum zu Simmonds eigenen Arbeiten führt. Bereits 1969 hat die Autorin | |
erste Comicstrips für die britische Boulevardzeitung The Sun gezeichnet. | |
Seit den frühen 1970ern arbeitete sie für die in London erscheinende | |
Tageszeitung The Guardian. | |
## Comic für das linksliberale Milieu | |
Und hier entwickelte sie auch ihren typischen Stil. Insbesondere durch „The | |
Silent Three of St Botolph’s“, einem wöchentlichen humoristischen Strip um | |
drei Freundinnen in mittleren Jahren und einen Uni-Professor wurde sie bald | |
in ganz Großbritannien bekannt. „Die Vorgabe des Guardian damals war, den | |
Comic im linksliberalen Milieu seiner Leserschaft anzusiedeln.“ | |
Und so wurde Posy Simmonds zur Chronistin der englischen Middle Class. „Es | |
gibt nicht viele Comics über die Mittelschicht. Heutzutage ist dieses | |
Milieu am Verschwinden: Die Mieten steigen derartig, dass Studenten, auch | |
die Mittelklassekinder, sie sich nicht mehr leisten können.“ 1981 wurde | |
sie als „Cartoonist of the Year“ ausgezeichnet. | |
Parallel schuf sie auch zahlreiche Kinderbücher. Etwa „Die Katze des | |
Bäckers“ oder „Fred“ (das auch verfilmt wurde), sie wurden auf Deutsch im | |
Diogenes Verlag veröffentlicht. Erst 1999 zeichnete Posy Simmonds ihre | |
erste längere Graphic Novel, „Gemma Bovery“, eine ironische, moderne | |
Variante des Klassikers „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert. | |
## Eigenes Genre geschaffen | |
Simmonds schuf ihr eigenes Genre, indem sie längere literarische Passagen | |
mit Illustrationen und kurzen oder längeren Comicteilen verband. „Das lag | |
auch an der Publikationsform: Im Guardian wurde die Geschichte als | |
wöchentlicher Fortsetzungscomic abgedruckt. Ich versuchte in jeder Folge, | |
so viel Handlung wie möglich unterzubringen, und das ging nur mit mehr | |
Text.“ | |
Simmonds holt eine Reihe von Kopien aus ihrer Tasche hervor, um zu zeigen, | |
wie die Comics in der Zeitung aussahen. Jeweils etwa eine halbe Seite des | |
späteren Buchs „Gemma Bovery“ passte auf die untere Hälfte einer | |
Zeitungsseite. | |
Seit ihrem Studium, das sie teilweise an der Sorbonne absolvierte, fuhr sie | |
immer wieder nach Frankreich. Auch zum berühmten Comicfestival in | |
Angoulême. „Als ich ‚Gemma Bovery‘ veröffentlichte, kritisierten meine | |
französischen Kollegen, dass das doch kein Comic sei, da sei zu viel Text | |
drin. Seitdem sage ich immer: Das ist kein Comic, sondern ein illustrierter | |
Roman – damit war es okay.“ | |
„Tamara Drewe“ war ihre zweite Graphic Novel, die ebenfalls zuerst im | |
Guardian veröffentlicht wurde, eine Satire auf den Literaturbetrieb, | |
diesmal angelehnt an Thomas Hardys Roman „Far from the Madding Crowd“ („Am | |
grünen Rand der Welt“, 1874). „Ich schätze Hardys Bücher sehr“, so | |
Simmonds, „sie erzählen von gewöhnlichen Menschen und sind oft auch | |
düster.“ | |
## Das gruselige Element hinter der heiteren Fassade | |
Auch in Simmonds Comics verbirgt sich hinter einer scheinbar sehr lockeren | |
und heiteren Bilderfassade so manch gruseliges Element. Beide Graphic | |
Novels wurden verfilmt, die Hauptfigur in beiden Fällen mit der britischen | |
Schauspielerin Gemma Arterton besetzt. „Die Verfilmungen unterscheiden sich | |
von den Comics, aber das ist okay so, es ist eine andere Kunstform“, sagt | |
Simmonds. | |
Im Zentrum ihrer Graphic Novel „Cassandra Darke“ steht wiederum eine Frau. | |
Doch ist sie – im Gegensatz zu ihren früheren Heldinnen – weder jung noch | |
schön, sondern alt und dick. „Wenn ich in London spazieren gehe, ist dort | |
die Armut seit der Finanzkrise 2008 deutlich sichtbarer.“ | |
## Wie bei Charles Dickens | |
Der Kontrast zwischen Vierteln mit Einkaufstempeln und extrem teuer | |
vermieteten Häusern und schäbigen Quartieren voller Bettler erinnerte mich | |
an die viktorianische Zeit und Charles Dickens’ ‚A Christmas Carol‘. | |
Cassandra Darke wird so zu meiner Variante der Dickens-Figur des Ebenezer | |
Scrooge.“ | |
Simmonds Cassandra ist eine wohlhabende Londoner Kunsthändlerin, die ihr | |
Vermögen durch Betrügereien mehrt, aber eines Tages auffliegt. Sie nimmt | |
ihre unbekümmerte, mittellose Stieftochter Nicky auf, die selbst mit | |
albern-schlüpfrigen Projekten „Kunst“ machen will, wofür Cassandra nur | |
Verachtung übrig hat. So weit die Satire. Doch eines Tages entdeckt | |
Cassandra eine Waffe in Nickys Mülleimer. | |
Geschickt verwebt Posy Simmonds Elemente einer Krimihandlung in das Porträt | |
dieser Eigenbrötlerin aus besseren Kreisen. Dabei wechselt die Autorin auch | |
geschickt die Erzählperspektiven. „Cassandra Darke“ führt die Leser*innen | |
so auch ein Stück weit an der Nase herum. Wann geschieht denn nun endlich | |
der Mord? Gibt es überhaupt ein Todesopfer? Die Spannung hält bis zum Ende, | |
man will wissen, wie’s weitergeht, ob sich die Titelheldin in ihrem | |
Charakter noch wandelt. | |
Auf die Frage, wie bewusst sie die gängigen Regeln für das Thrillergenre | |
unterwandere, sagt Posy Simmonds: „Ich kenne sie noch nicht einmal.“ Das | |
sei so ähnlich wie damals, als sie mit dem Comiczeichnen anfing. | |
3 Dec 2019 | |
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[1] /Longlist-des-Comicpreises-von-Angoulme/!5266842 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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