# taz.de -- Überfall auf die Sowjetunion 1941: „Er nutzt den Krieg zur Propa… | |
> In Russland wie in Belarus wird die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg | |
> zur Unterdrückung genutzt, sagt der belarussische Autor Sasha Filipenko. | |
Bild: Eine Demonstrantin wird am 12 September 2020 vom belarusichen Militär fe… | |
taz: Herr Filipenko, in Ihrem Roman „Rote Kreuze“ spielt die | |
Auseinandersetzung mit dem Stalinismus eine wichtige Rolle. Das gilt auch | |
für Ihr neues Buch über den Direktor eines Moskauer Krematoriums. Woher | |
kommt dieses historische Interesse? | |
Sasha Filipenko: Dokumente zu lesen ist ein unvergleichliches Gefühl, vor | |
allem, wenn man dann davon erzählen kann. In Belarus und Russland ist das | |
jetzt besonders wichtig, weil die Machthaber versuchen, die Geschichte | |
umzuschreiben und alle Schrecken, die passiert sind, vergessen zu machen. | |
Woran ist das zu merken? | |
Du siehst in Russland Leute, die auf ihren Autos Aufkleber mit der | |
Aufschrift „1941–1945“ haben. Das bedeutet: Wir sind bereit, die Deutschen | |
noch einmal zu besiegen. | |
Welche Rolle hat der „Große Vaterländische Krieg“ in Ihrer eigenen Familie | |
gespielt? | |
Der Krieg hatte für mich als Kind der Sowjetunion immer eine große | |
Bedeutung. Mein Großvater war Luftwaffengeneral. Von frühester Kindheit an | |
wurde uns gesagt, dass wir die Guten seien, die das Böse besiegt hätten. | |
Das war doch auch die offizielle Lesart? | |
Ja, aber als wir im Hof Krieg spielten, wollten alle Kinder immer die | |
Deutschen sein, weil ihnen die deutschen Uniformen aus den Filmen so gut | |
gefielen. Wenn du jedoch ein Hakenkreuz auf die Bank maltest, kamen sofort | |
Eltern und Freunde und schimpften, das dürfe man nicht, weil es sonst | |
wieder Krieg geben würde. | |
Welchen Stellenwert hat dieser Krieg heute, vor allem in der jungen | |
Generation? | |
Die einen sehen das als große Tragödie. Andere erkennen, dass der Staat | |
diesen Krieg jetzt zur Propaganda nutzt, um die Menschen einzuschüchtern | |
und äußere Feinde zu finden. In Russland werden alle heutigen | |
Schwierigkeiten in der Wirtschaft mit dem Zweiten Weltkrieg begründet. | |
Dabei weiß die junge Generation kaum noch etwas von den Schrecken des | |
Krieges. | |
Gibt es weitere Folgen von Propaganda? | |
In Russland sind viele davon überzeugt, dass der Krieg 1941 mit dem | |
Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion begonnen hätte. Niemand erinnert | |
sich daran, dass Russland und Deutschland Verbündete waren, als sie 1939 | |
Polen aufgeteilt haben. | |
Gilt das auch für Belarus? | |
Auch Alexander Lukaschenko benutzt den Krieg als Rechtfertigung für alles. | |
Der ganze Westen ist für ihn gleichbedeutend mit Faschisten, alle | |
europäischen Werte sind faschistisch. Die Sowjetunion gilt als Bollwerk | |
dagegen. | |
Auch nach innen? | |
Seit 26 Jahren lautet Lukaschenkos Erzählung: Hauptsache kein Krieg! Alles, | |
was er getan hat, alle Repressionen, aber auch alle wirtschaftlichen | |
Probleme, hat er immer so begründet. | |
Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch fühlt | |
sich von den Ereignissen in Belarus an finsterste Stalin-Zeit erinnert … | |
Es gibt viele Parallelen. Jeden Tag verschwinden Menschen und werden so | |
lange gefoltert, bis sie sagen, Lukaschenko sei ein großer Führer. Der | |
einzige Unterschied ist, dass wir nicht so viele Opfer haben wie während | |
der Stalin’schen Repressionen. Aber wir sind ja in Belarus auch nur neun | |
Millionen. Doch allein in den letzten neun Monaten sind 40.000 Menschen | |
durch die Gefängnisse gegangen. | |
Sie haben davon gesprochen, dass die Geschichte umgeschrieben werden soll. | |
Wie geschieht das? | |
Dafür gibt es sehr viele Beispiele. Aus Dokumenten geht hervor, dass die | |
sowjetischen Truppen, als sie deutsche Lager befreit haben, hinterher sogar | |
die Wände der Baracken mitgenommen haben, um sie zu Hause wieder | |
aufzubauen. | |
Oder etwa bei den Nürnberger Prozessen, wo Roman Rudenko als sowjetischer | |
Ankläger auftrat, ein Mann, der persönlich außergerichtliche Erlasse | |
unterschrieb, um Menschen zu erschießen. Und so einer trat im Namen des | |
Guten auf, um über Nazis zu richten. Heute ist in Russland die Rede davon, | |
für Felix Dserschinski (Leiter der ersten sowjetischen Geheimpolizei, Anm. | |
d. Red.) wieder ein Denkmal zu errichten. | |
Und wenn Historiker bei dieser „Umdeutung“ nicht mitspielen? | |
Historiker, die über die Repressionen schreiben, stehen unter großem Druck. | |
Außerdem sind viele Quellen nicht zugänglich. Die Dokumente, die ich in | |
„Rote Kreuze“ benutzt habe, wurden mir nicht in Russland ausgehändigt, ich | |
habe sie in Genf gefunden. Moskau erkennt nicht an, dass der Kommunismus | |
ein genauso verbrecherisches System war wie der Faschismus. | |
Was sind die Gründe dafür? | |
Reiner Machterhalt und der Aufbau einer totalitären Gesellschaft, die mit | |
den gleichen Mitteln regiert wird wie in der Sowjetunion. Putin sehnt sich | |
nach einem neuen Imperium, zu dem auch die Ukraine und Belarus wieder | |
gehören. | |
Umfragen des Lewada-Zentrums in Moskau zeigen, dass der Zuspruch für Stalin | |
wächst … | |
Die Umfragen zeigen nur, was sie zeigen müssen. Die Soziologie ist tot, in | |
Russland gibt es keine unabhängigen Erhebungen mehr. Durch die Propaganda, | |
der wir seit zehn Jahren ausgesetzt sind, steigt die Zahl der Anhänger der | |
Sowjetunion. Heute werden Bücher mit Preisen bedacht, in denen steht: Gut, | |
dass es in der Sowjetunion auch Lager gegeben hat, auch da habe man sich | |
verlieben können. | |
Moskau und Minsk gebrauchen den Begriff Faschismus inflationär. So wird | |
gesagt, dass die ukrainische Regierung eine faschistische Junta sei, und | |
der Direktor der belarussischen Fluggesellschaft Belavia hat die | |
Einstellung des Flugverkehrs durch die EU eine „faschistische Perversität“ | |
genannt … | |
Der Begriff Faschismus wird als Synonym für das Böse schlechthin gebraucht | |
und das von Leuten, wie den Anhängern Lukaschenkos, die selbst für das Böse | |
stehen. Als Putin Truppen in die Ukraine geschickt hat, musste schnell eine | |
Erklärung her: Es hieß, alle dort seien Faschisten, die russische Menschen | |
erschießen. Das versteht jeder, weil jeder eine Großmutter oder einen | |
Großvater hat, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. | |
Wenn keine Auseinandersetzung mit der Geschichte stattfindet, wie wirkt | |
sich das auf künftige Generationen aus? | |
Glücklicherweise gibt es immer noch Verrückte, die versuchen, in die | |
Archive zu gelangen. Der größte Fehler von Putin und Lukaschenko ist, dass | |
sie gegen ihre eigenen Völker kämpfen. Doch ihnen läuft die Zeit davon. | |
Lukaschenko hat 2020 die Wahl genauso gefälscht wie allen anderen zuvor. | |
Nur hat er nicht verstanden, dass er die Leute nicht mehr betrügen kann. | |
Warum? | |
Während Europa das Internet weiterentwickelt, versuchen Putin und | |
Lukaschenko, es zu verbieten. | |
Mit welchem Ziel? | |
Um Geschichte zu verschleiern, Informationen zurückzuhalten. Doch das geht | |
nicht mehr. Daher wird es ihnen nicht gelingen, die jungen Menschen | |
umzuerziehen. Ein simples Beispiel: Als Kind habe ich Trickfilme geschaut, | |
die liefen immer zur selben Zeit auf demselben Kanal, es gab ja nur zwei. | |
Mein Sohn kann sich auf Youtube zwischen unendlich vielen Filmen | |
entscheiden. Putin und Lukaschenko begreifen nicht, dass sich die Menschen | |
längst daran gewöhnt haben, mehrere Optionen zu haben. | |
Welche Rolle spielt Literatur in diesem Kontext? | |
Keine. Die Bücher von Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn wurden schon | |
zur Sowjetzeit millionenfach gelesen. Das hat Russland nicht daran | |
gehindert, in nur 20 Jahren dorthin zurückzukehren, wo es jetzt steht. | |
Deshalb sollten wir die Rolle von Literatur keinesfalls überschätzen. | |
Sie schreiben trotzdem. | |
Die Frage ist nicht, welchen Einfluss ein Buch hat, sondern ob ein Autor | |
diese Sisyphos-Arbeit tun muss. Wenn du Zugang zu Dokumenten hast und darin | |
deine Mission siehst, musst du schreiben und veröffentlichen. Das | |
Wichtigste ist, dass die Geschichte nicht vergessen wird. Sobald Menschen | |
die Repression vergessen, wird sie sich wiederholen. | |
Sie halten sich derzeit in der Schweiz auf. Werden Sie dort bleiben? | |
Ich habe nur bis Oktober einen Aufenthaltstitel. Dann werde ich mit meiner | |
Familie wohl nach Russland oder Belarus zurückkehren müssen. | |
Das ist sehr riskant. | |
Ja. Die Schweiz ist das einzige Land im Westen, das Swetlana Tichanowskaja | |
(belarussische Oppositionsführerin, derzeit im Exil, Anm. d. Red.) nicht | |
auf höchster Ebene empfangen hat. Hier ist man immer noch der Meinung, dass | |
Lukaschenko ein rechtmäßig gewählter Präsident ist. | |
Dennoch versuchen wir, hierzubleiben. Mein Vater wurde in Belarus bereits | |
viermal vorgeladen, er hat seine Arbeit verloren und man teilte ihm mit, | |
welche Gefängnisstrafe mich erwartet. Es ist erniedrigend, nachweisen zu | |
müssen, dass ich in Gefahr bin. Sie werden mir wohl erst glauben, wenn ich | |
festgenommen werde. | |
21 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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