| # taz.de -- Ausbürgerung aus Belarus: Squid Game in Minsk | |
| > Lukaschenko will Geflüchteten die Staatsbürgerschaft aberkennen. In | |
| > Frankfurt protestierten Autoren. Janka Belarus über stürmische Zeiten in | |
| > Minsk. Folge 107. | |
| Bild: Sasha Filipenko protestierte gegen seine Ausweisung während der Buchmess… | |
| Man könnte meinen, der Mann, der sich für den Präsidenten von Belarus hält, | |
| wolle das Land von Belaruss*innen befreien. Vor einigen Tagen hat | |
| Alexander Lukaschenko die im Land gültigen Anti-Covid-Maßnahmen kritisiert. | |
| Daraufhin hat das belarussische Gesundheitsministerium die Maskenpflicht | |
| abgeschafft, die erst am 9. Oktober eingeführt worden war. | |
| [1][Dem Diktator zu Gefallen] haben die Beamten Bedingungen zur Infektion | |
| von 9 Millionen Menschen geschaffen. In den sozialen Netzwerken werden | |
| schon Witze darüber gemacht, dass man bald fürs Maskentragen bestraft | |
| werde. In Belarus breitet sich gerade die neue Coronavariante „Delta light“ | |
| aus. Sie ist sehr ansteckend – ein bis zwei Minuten Kontakt reichen, um | |
| sich zu infizieren. Täglich sterben in praktisch jedem belarussischen | |
| Krankenhaus um die zehn Menschen mit der bestätigten Diagnose | |
| „Coronavirus“. Die Zahl der Neuinfizierten liegt bei mehr als 2.000 | |
| Menschen am Tag. Und das sind nur die Daten der offiziellen Statistik, die | |
| die Wahrheit verschleiert und die realen Zahlen herunterspielt. | |
| Diejenigen, die gesund und in Freiheit sind, sind auch nicht zu beneiden. | |
| Das Innenministerium hat vorgeschlagen, denjenigen die Staatsbürgerschaft | |
| abzuerkennen, die das Land verlassen haben und [2][„für die Interessen | |
| westlicher Staaten arbeiten“], die „alles mögliche tun, um dem Staat zu | |
| schaden“. Das einzige Land, das in den letzten hundert Jahren wirklich | |
| massenhaft Menschen die Staatsangehörigkeit entzogen hat, war | |
| Nazideutschland. Die Nazis haben fast 40.000 Menschen ausgebürgert, | |
| darunter bekannte Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen: Lion | |
| Feuchtwanger, Albert Einstein, Erich Maria Remarque, Stefan Zweig, Hannah | |
| Arendt und viele andere. | |
| Bereits kurz nach Beginn seiner Präsidentschaft 1994 hatte Lukaschenko | |
| offen Adolf Hitler gelobt. In einem Interview mit dem deutschen | |
| Handelsblatt 1995 bezeichnete er den Politiker Hitler als Vorbild: „Es | |
| dauerte Jahrhunderte, um die deutsche Ordnung herzustellen. Unter Hitler | |
| erreichte diese Formation ihren Höhepunkt. Dies entspricht unserem | |
| Verständnis einer Präsidentenrepublik und der Rolle eines Präsidenten | |
| darin.“ | |
| ## Protest im Rahmen der Frankfurter Buchmesse | |
| Sasha Filipenko ist ein bekannter zeitgenössischer belarussischer Autor. | |
| Sein Buch „Rote Kreuze“ wurde sogar von Oprah Winfrey empfohlen. Und jetzt | |
| schreibt das wichtigste Sprachrohr der belarussischen Staatspropaganda, die | |
| Tageszeitung Belarus Segodnja (Belarus heute), dass „unsere Gesellschaft | |
| schon darüber diskutiert, ob man ihm nicht die Staatsbürgerschaft | |
| aberkennen solle“. | |
| Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse (bei einer Kundgebung auf dem | |
| Frankfurter Goetheplatz am 23. Oktober; Anm. d. Redaktion) sagte Sasha | |
| Filipenko: „Wir erleben seit über einem Jahr eine echte humanitäre | |
| Katastrophe. In Belarus gibt es keine unabhängige Presse, keine | |
| unabhängigen Theater mehr, alle gesellschaftlichen Organisationen wurden | |
| verboten und allein für Kommentare im Internet sind hunderte von Menschen | |
| festgenommen worden. | |
| Jetzt, da ich vor Ihnen stehe, sitzen in belarussischen Gefängnissen fast | |
| 1.000 politische Gefangene, aber das fünfte EU-Sanktionspaket wird bislang | |
| nur diskutiert und überarbeitet. In Belarus gehen die politisch motivierten | |
| Morde weiter, [3][jetzt werden schon friedliche Bürger in ihren eigenen | |
| Wohnungen umgebracht.] Aber noch immer gibt es kein internationales | |
| Tribunal zur Untersuchung der Verbrechen des Lukaschenko-Regimes. Mehr als | |
| 40.000 Menschen sind bereits durch die belarussischen Gefängnisse gegangen. | |
| [4][Und alleine eine Inhaftierung in einem belarussischen Gefängnis ist | |
| schon Folter.] | |
| Aber noch immer ist Lukaschenko nicht delegitimiert. Der Diktator hat die | |
| Wahlen gefälscht, er hat Repressionen entfesselt, die im modernen Europa | |
| beispiellos sind, aber noch immer gibt es Politiker und Journalisten, die | |
| ihn als Präsidenten bezeichnen. Allein deswegen haben bislang fast 400.000 | |
| Menschen Belarus verlassen, die jetzt gezwungen sind, sich ein neues Leben | |
| weit weg von ihrer Heimat aufzubauen. Aber wenn zwischen der Freiheit eines | |
| ganzen Landes und Wirtschaftsbeziehungen mit einem Diktator gewählt werden | |
| muss, entscheidet sich Europa immer für Letzteres. Und Länder wie | |
| Österreich und Belgien bitten sogar um mildere Sanktionen. | |
| Jetzt, wo er Migranten statt Waffen einsetzt, greift Lukaschenko Europa mit | |
| Menschen an, die vor dem Elend in ihren eigenen Ländern fliehen. Und ich | |
| bitte Sie nicht darum, die Probleme dieser Länder zu lösen oder das Problem | |
| meines Landes. Aber ich fordere Sie dazu auf, zumindest das, was Sie selbst | |
| erklären, aktiver durchzuführen. | |
| Ich bitte Sie sehr darum, nicht länger Kommas zu setzen, wo ein Punkt | |
| hingehört.“ | |
| Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey] | |
| 30 Oct 2021 | |
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