# taz.de -- Braindrain aus Belarus: IT-Experten verlassen das Land | |
> Ein belarussischer Computer-Fachmann floh nach Krakau. Für immer. Olga | |
> Deksnis erzählt von stürmischen Zeit in Minsk. Folge 79. | |
Bild: Weiß-rot-weißen Flagge an einem Fenstern Minsk | |
Am Morgen hat sich in meinem Messenger die Telefonnummer eines Bekannten | |
von einer belarussischen auf eine polnische umgestellt. „Viber hat mir | |
mitgeteilt, dass Du das Land verlassen hast?“, frage ich bei Wladimir nach. | |
„Ja, meine Frau und ich sind erst nach Kiew gefahren. Da haben wir ein | |
Schengen-Visum bekommen, mit dem sind wir nach Krakau weiter gefahren, um | |
dort ein neues Leben zu beginnen. Vorher hatte mir die Miliz verschiedenes | |
vorgeworfen: [1][Teilnahme an Hof-Chats] (die vom Staat als extremistische | |
Verbindungen betrachtet werden; Anm. der Autorin), das Aufhängen einer | |
weiß-rot-weißen Flagge auf dem eigenen Hof, die Teilnahme an einem einzigen | |
Streikposten und das Re-Posten von Dokumenten des Telegram-Kanals ‚Nexta | |
live‘“. | |
„Unter welchen Umständen seid ihr ausgereist?“ | |
„Als meine Frau im Krankenhaus war, wurde ich zum Migrationsdienst gelockt, | |
dort wurde ich vom GUBOP (Hauptverwaltung im Kampf gegen organisierte | |
Kriminalität und Korruption) empfangen“, erinnert sich Wladimir. | |
Die Miliz hatte die Versammlungen auf den Hinterhöfen aufgelöst (nach den | |
Wahlen gingen die Menschen in die Höfe ihrer Häuser und Wohnanlagen, mit | |
Gebäck und Tee, um ein Zeichen der Solidarität gegen die Wahlfälschungen zu | |
setzen; Anm. d. Autorin). Mittlerweile kann sich auch die Miliz Zugang zu | |
diesen Hof-Chats verschaffen. Sie haben auch Einblick in detaillierte | |
Telefonabrechnungen (so observierten sie die Leute: Gingen sie zu den | |
Demos?Gingen sie in die Höfe? Sie suchten die Organisatoren der Chats und | |
der Protestveranstaltungen). | |
## Die Zerstörung des Bildungssystems | |
Sie präsentierten mir einen Durchsuchungsbefehl zu, forderten mich auf, | |
mein Telefon zu entsperren, und drohten, sie würden meine Frau deportieren. | |
Ich machte alles, was sie von mir forderten, obwohl es dazu eigentlich | |
keinen Grund gab. Sie legten mir Handschellen an und fuhren mich nach | |
Hause. Dort schlugen sie solange zu, bis ich ihnen alle Geräte-Passworte | |
verraten hatte. Sie nahmen persönliche und dienstliche Computer und andere | |
technische Geräte mit. [2][Sie fotografierten die weiß-rot-weiße Flagge am | |
Fenster des Hauses], und brachten mich zur Verbüßung einer 24-stündigen | |
Administrativstrafe ins Gefängnis. Während ich dort war, erhielt meine Frau | |
die Weisung, das Land zu verlassen (sie ist Russin, deshalb ist sie dann | |
auch ausgereist). | |
Nachdem ich frei gekommen war, erhielt ich noch einmal zehn Tage für das | |
Re-posten von Material des „extremistischen Telegram-Kanals ‚Nexta live‘�… | |
Und es war klar, dass sie weiter Druck machen würde, solange ich im Land | |
bliebe. | |
„Warum habt ihr euch gerade für Krakau und Polen entschieden?“ | |
„Vieles dort hat gut gepasst: die geographische Lage, rundherum sind Berge. | |
Die Nähe von Orten, die uns gefallen. Eine stabile Wirtschaft, die | |
Lebenshaltungskosten und die Jobmöglichkeiten. Ich werde nicht nach Belarus | |
zurückkehren. Meine Frau und ich arbeiten in den IT-Firmen, die es auch in | |
Belarus gibt, nur jetzt eben weiter weg. Ich kümmere mich schon um | |
Unterlagen, um meine IP-Adresse zu ändern, [3][damit ich künftig in Polen | |
Steuern zahle und nicht mehr in Belarus] – womit ich die OMON | |
(Sondereinheit der Polizei, die vor allem gegen Demonstrant*innen | |
eingesetzt wird, Anm. der Redaktion) unterstützen würde, die ihre eigenen | |
Leute verfolgen. Mein größter Schmerz bei all dem ist, dass ich meinen Sohn | |
aus erster Ehe nicht mehr sehen kann. Er ist in Minsk geblieben.“ | |
Die Eltern von Wladimir wohnen auf dem Land, im Bezirk Witebsk. Sie glauben | |
den Fernsehnachrichten, in denen immer noch gesagt wird, dass Lukaschenko | |
der ideale Führer für Belarus sei. | |
„Sie lesen, dass an allem die Feinde schuld sind, die ‚versuchen, Belarus | |
zu erobern‘“, erzählt Wladimir. Es gibt viele ungebildete Leute, | |
hauptsächlich sie sind die Stützen des Systems. Eine der Prioritäten | |
staatlicher Politik ist die Zerstörung des Bildungssystems. Denkende | |
Menschen sind dem Land von Nachteil. Die Verluste, die Belarus jetzt tragen | |
muss, können wahrscheinlich nicht ausgeglichen werden. Denn die Menschen | |
verlassen das Land für immer.“ | |
Übrigens: bei einer Umfrage unter Angestellten in der IT-Branche liegt | |
Polen auf dem ersten Platz bei den Ausreisezielen. 65 Prozent der Befragten | |
„stimmten“ dafür. Auch Litauen und die Ukraine lagen weit vorne. Weitere | |
beliebte Ziele sind laut Angaben von dev.by aus dem Jahr 2020 Tschechien, | |
Schweden, Portugal, Spanien und Dänemark | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
29 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Olga Deksnis | |
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