| # taz.de -- Belarus und der Widerstand der Literatur: Land im Koma | |
| > Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ greift historische Ereignisse | |
| > in Belarus auf und zeigt mit Humor das Bild eines Unterdrückungsapparats. | |
| Bild: Polizisten nehmen während der Proteste gegen Machthaber Lukaschenko eine… | |
| Wenn jemand mehr als zehn Jahre lang im Koma liegt und dann wieder zu | |
| Bewusstsein kommt, sollte man eigentlich davon ausgehen, dass für diese | |
| Person die Außenwelt eine völlig andere ist als zuvor. Anders ist es bei | |
| Franzisk Lukitsch. Als er im Jahr 2009 in einem Minsker Krankenhaus nach | |
| einem Jahrzehnt wieder erwacht, gibt es zwar ein paar Neuigkeiten – zum | |
| Beispiel dieses WLAN, mit dem man jetzt das Internet über die Luft | |
| empfangen kann –, sonst aber ist vieles im Land gleich geblieben. | |
| Immer noch gibt es einen Präsidenten, dessen Eishockeyteam stets gewinnt | |
| und der seine Gegner und Feinde wegsperrt und verschwinden lässt. Immer | |
| noch schwärmen sie in den Nachrichten vom wunderbarsten Land der Welt, in | |
| dem das Gras am grünsten ist und es keine Probleme gibt. | |
| Es ist dasselbe Land, in dem jedes Kind weiß, dass die Polizei dazu da ist, | |
| Demonstranten niederzuknüppeln. Auf der Straße heißt deshalb ein beliebtes | |
| Kinderspiel „Proteste zerschlagen“. So war es immer in Belarus und so | |
| bleibt es auch. | |
| Dieses Gedankenspiel des zehnjährigen Komas spielt der [1][belarussische | |
| Schriftsteller und Satiriker Sasha Filipenko] in seinem Roman „Der | |
| ehemalige Sohn“ durch. Es liest sich wie ein Gegenentwurf zu „Good Bye, | |
| Lenin!“. | |
| ## Mit den Mitteln der Satire | |
| Im Original ist der Debütroman bereits 2014 erschienen, nun liegt er auf | |
| Deutsch vor, übersetzt von Ruth Altenhofer. Die Handlung spielt in den | |
| Jahren 1999 bis 2011, der Autor greift viele historische Ereignisse jener | |
| Zeit auf und zeichnet das Bild eines schon damals hoffnungslos zerrütteten | |
| Unterdrückungsstaats. | |
| Filipenko ist in Minsk aufgewachsen und hat in St. Petersburg Literatur | |
| studiert, wo er heute auch lebt und arbeitet. Er hat eine eigene | |
| Satiresendung beim TV-Sender Doschd. Auf Deutsch ist von ihm bisher der | |
| Roman „Rote Kreuze“ (Diogenes, 2020) erschienen – darin beschreibt er, wie | |
| die Sowjets während des Zweiten Weltkriegs mit den eigenen Kriegsgefangenen | |
| und deren Familien umgingen, wie diese zu Verrätern gestempelt und in den | |
| Gulag gesteckt wurden. | |
| Aktuell spricht Filipenko der [2][Oppositionsbewegung in Belarus immer | |
| wieder Mut] zu, erst Ende März schrieb er in einem viel beachteten | |
| Facebook-Post: „Wir werden einem neuen Tag entgegenstrahlen! Und all das | |
| wird so bald passieren, dass wir jetzt auf keinen Fall den Mut verlieren | |
| dürfen!“ | |
| „Der ehemalige Sohn“ könnte nun kaum zu einer passenderen Zeit erscheinen | |
| als während der Lukaschenko-Dämmerung in Belarus. Der Protagonist des | |
| Romans ist der 16-jährige Schüler Franzisk, er wird 1999 bei einer | |
| Massenpanik während eines Stadtfests erdrückt und fällt ins Koma. | |
| ## Babuschka hofft weiter | |
| Niemand – abgesehen von seiner Babuschka, seiner Oma – glaubt daran, dass | |
| er je wieder erwacht. Nicht einmal seine Tante Nora, eine angesehene | |
| Neurochirurgin, hält dies für möglich, und für den Staat sei er nun nur ein | |
| lästiges belegtes Krankenbett mehr, also sagt sie zur Oma: „Du weißt ja, in | |
| welchem Land du lebst. Hier sind schon die nichts wert, die gesund und am | |
| Leben sind, von Menschen im Koma ganz zu schweigen.“ | |
| Doch seine Babuschka hält Franzisk die Treue, sitzt immer wieder bei ihm am | |
| Krankenbett. Sein Wiedererwachen aber soll sie nicht mehr erleben. Kurz | |
| nach ihrem Tod, wir schreiben das Jahr 2009, passiert das Wunder: Franzisk | |
| öffnet die Augen, er spricht, ist bei Bewusstsein. Fortan lässt er sich von | |
| seinem Kumpel Stass erklären, was sich getan hat. | |
| Doch der hat wenig Neues zu berichten: Alles sei gleichgeschaltet wie eh | |
| und je, aus den Nachrichten erführe man nichts, im Radio gebe es nun | |
| übrigens eine Quote für einheimische Produktionen und wer mit der | |
| Opposition sympathisiere, dessen Musik wird nicht gespielt. | |
| „Warum?“, fragt Franzisk. Stass antwortet: „Versuch, dieses Wort zu | |
| vergessen. Du kriegst es gesagt – akzeptiere es. […] Gesunde Menschen | |
| stellen keine Fragen, und du solltest erst recht keine stellen. Andernfalls | |
| kannst du verrückt werden. Vor allem jetzt. Nimm einfach alles als Tatsache | |
| hin.“ | |
| ## Viele reale Ereignisse | |
| Die Handlung bewegt sich derweil auf die Präsidentschaftswahlen 2010 zu, in | |
| deren Folge es zu massiven Protesten kommt, die brutal niedergeschlagen | |
| werden. Sowieso spielt Filipenko auf viele reale Ereignisse an. Die | |
| Massenpanik mit vielen Toten im Jahr 1999, bei der Franzisk ins Koma fällt, | |
| gab es wirklich, genauso kommen die Bombenanschläge in Minsk 2008 und 2011 | |
| vor. Auch der – vorgebliche – Suizid des oppositionellen Journalisten Aleh | |
| Bjabenin im Jahr 2010 spielt eine Rolle. | |
| Genauso werden viele oppositionelle Künstler genannt, etwa Ales Puschkin, | |
| der Ende der 1990er Jahre einen Misthaufen vor dem Präsidentenpalast | |
| kippte. Auch Texte der Rockband N. R. M. und des bekannten oppositionellen | |
| Rocksänger Sergei Michalok werden zitiert. Auf diese Weise gelingt | |
| Filipenko ein Gesellschaftsporträt jener Zeit. | |
| Durchzogen ist die Erzählung von subversivem Humor, stellenweise ist das | |
| sehr komisch – zum Beispiel, als nach dem Anschlag 2008 Fingerabdrücke des | |
| Komapatienten Franzisk genommen werden. Denn: Verdächtig ist jeder. | |
| Filipenkos Figuren halten sich meist mit Witzen über den Präsidenten bei | |
| Laune, beliebt ist es auch, sich absurde Geschichten zu erzählen. Die | |
| Bedingung: Sie müssen wahr sein. Es gibt eine Menge von ihnen. | |
| „Der ehemalige Sohn“ ist eine Geschichte der vorerst gescheiterten | |
| Revolution. Franzisk erkennt, dass es in diesem Land der Unterdrücker, | |
| Drangsalierer und Knüppler in Uniformen keine Zukunft für ihn gibt. Good | |
| Bye, Lukaschenko? Schön wär’s. Franzisk reist aus. Wieder ein Jahrzehnt | |
| später ist Belarus aus dem Koma erwacht. Der Zustand aber ist immer noch | |
| mehr als nur kritisch. | |
| 21 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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