| # taz.de -- Kulturwissenschaftlerin über Russland: „Es gibt gegenläufige Te… | |
| > Ekaterina Vassilieva glaubt nicht, dass ihre russischen Landsleute auf | |
| > Netflix verzichten wollen. Ein Gespräch zum 9. Mai. | |
| Bild: Moskau, 13.März: Sternchen gegen den Krieg: Dmitry Reznikov muss 50.000 … | |
| taz: Frau Vassilieva, der Dichter Wladimir Majakowski hat einst | |
| apostrophiert: „Malt bei Revolutionen keine monumentalen Gemälde; sie | |
| werden die Leinwand in Fetzen reißen.“ Er hat so davor gewarnt, in Krisen | |
| voreilige Schlüsse zu ziehen. Unter Einbeziehung dessen, was Sie seit dem | |
| 24. Februar wahrgenommen haben, wo soll der Krieg enden? | |
| Ekaterina Vassilieva: Für mich hat der Krieg spätestens 2014 begonnen, als | |
| die Krim annektiert wurde und die Auseinandersetzungen im Donbass | |
| angefangen haben. Trotzdem kam die neue Entwicklung seit dem 24. Februar | |
| überraschend, auch für Putins Unterstützer. Sie haben erste Hinweise für | |
| westliche Propaganda gehalten. Genau darin sehe ich auch die Handschrift | |
| von Putin. Er setzt gelegentlich auf grenzüberschreitende Schockereignisse. | |
| Was verstehen Sie darunter? | |
| Sie weichen von der Norm dermaßen ab, dass sie weltweit Fassungslosigkeit | |
| auslösen. Der Skandal ist ein wichtiges Instrument, sowohl in der Literatur | |
| als auch in der Politik, da er bei all den gravierenden, mitunter | |
| katastrophalen Folgen, die er in der Politik nach sich zieht, das kreative | |
| Potenzial des Urhebers demonstriert, der damit deutlich macht, dass er über | |
| die energetischen Ressourcen verfügt … | |
| Sie meinen die russischen Bodenschätze? | |
| Über das Gas- und Ölvorkommen hinaus. Mit energetischen Ressourcen meine | |
| ich die kreative Energie, die zugleich ein Zerstörungspotenzial bedeutet, | |
| wenn wir über Politik sprechen. Es ist wichtig, um zu begreifen, warum | |
| Putin trotz allem immer noch bewundert wird. Dass im Moment niemand sagen | |
| kann, wo dieser Krieg enden wird, gehört zu dieser Handschrift, die auf | |
| unvorhersehbare Wendungen des Handlungsverlaufs setzt. Man muss lernen, | |
| damit rational umzugehen, in dem man diese Politik entzaubert und ihr damit | |
| auch den Stachel nimmt. Dann wird man darauf angemessen reagieren können. | |
| Putin wird nicht auf die Ukraine zugehen. Wie muss das russische Volk nun | |
| auf die Ukrainer:Innen zugehen? | |
| Es gibt seit sowjetischer Zeit dieses ideologische Klischee, das Russen und | |
| Ukrainer als Brüdervölker definiert. Damit wollte man auch jetzt diesen | |
| Krieg legitimieren: Wenn Russen und Ukrainer einander so nahestehen, wozu | |
| dann Grenzen? Paradoxerweise kann sich genau dieses Klischee, von vielen | |
| Russen verinnerlicht, gegen den Krieg wenden. Denn es ist absolut | |
| unvorstellbar, im Krieg mit den Brüdern zu stehen. Ich kenne viele Russen, | |
| in Berlin und anderswo, die ukrainischen Flüchtlingen helfen, gerade, weil | |
| sie die gemeinsame Sprache sprechen. Und es gibt auch sonst viel | |
| Unterstützung, auch im Privaten. Die Menschen sind dafür dankbar. Auf | |
| dieser Ebene habe ich noch nie Spannungen erlebt. Es gibt keinen ethnischen | |
| Konflikt, der Russen und Ukrainer trennen würde. | |
| Und auf politischer Ebene? | |
| Politisch ist es natürlich schwierig, weil es wird jetzt von den Russen | |
| erwartet, dass sie gegen den Krieg protestieren. | |
| Man hört seit Längerem nichts mehr davon, weil die Zensur solche Proteste | |
| ausblendet. | |
| Zuerst mal das und zum anderen sind die Strafmaßnahmen dagegen sehr hart. | |
| Es gab aber, trotz aller Repressalien, seit Kriegsbeginn relativ viele | |
| Proteste, die sprechen für sich. | |
| In Ihrem Buch „Fantasie an der Macht“ ziehen Sie Schlüsse zwischen der | |
| autokratischen Politik von Putin, den ihr zugrunde liegenden Ideologien und | |
| vergleichen diese wiederum mit Tendenzen in der russischen | |
| Gegenwartsliteratur. Sie schreiben, dass sich russische Politik | |
| „poetologisiert“ habe und staatstragende Literatur umgekehrt wiederum im | |
| Dienst der Politik stehe. Was steht dahinter? | |
| Diese Kunst hat sich immer auch in den Dienst von Macht gestellt. Autonome | |
| Kunst sowie „bürokratische“ Politik sind dagegen relativ jung. Das beginnt | |
| erst mit dem Zeitalter der Aufklärung. Natürlich haben die totalitären | |
| Regime des 20. Jahrhunderts die „Ästhetisierung von Politik“, mit Walter | |
| Benjamin gesprochen, mithilfe der Medien als Instrument der | |
| Massenbeeinflussung auf ein neues Niveau gebracht. | |
| Sie sprechen mit Boris Groys vom „Gesamtkunstwerk Stalin“. Warum? | |
| In seinem Buch wird die These vertreten, dass Stalin mit seinem Land und | |
| Leuten genauso umgegangen ist wie ein bildender Künstler mit seinem | |
| Material, das er komplett seinem Gestaltungswillen unterwirft. Zu seiner | |
| Zeit hatten Künstler dem Herrscher gar nichts zu sagen, diese Beeinflussung | |
| lief nur in eine Richtung, deshalb wird Stalin von Groys als der „größte | |
| Künstler seiner Zeit“ bezeichnet, denn die anderen Künstler haben von | |
| Stalin exakte Anordnungen bekommen, welche Werke sie zu schaffen haben. In | |
| der spätsowjetischen Zeit hat sich das Verhältnis zwischen Künstler und | |
| Herrscher gelockert. | |
| Vor allem entstand die inoffizielle Kunstszene, die von der politischen | |
| Macht unabhängig war. Nach der Perestroika sind Künstler und Politiker, so | |
| scheint es, zu gleichwertigen Partnern geworden und sofort in ein offenes | |
| Konkurrenzverhältnis getreten. Denn unter den neuen Bedingungen des sich | |
| entwickelnden Parlamentarismus in den 1990er Jahren ging es darum, den | |
| Bürger mithilfe von bestimmten rhetorischen Mitteln zu überzeugen, genau | |
| das zu machen, was die Schriftsteller auch tun. Dann konnten Politiker von | |
| Schriftstellern viel lernen. Aber auch die Schriftsteller wollten ihre neu | |
| gewonnene Macht sozusagen nicht einfach so abgeben. | |
| Was bedeutet eigentlich „der Westen“ aus russischer Sicht? | |
| Ich würde sagen, dass der Westen aus russischer Sicht auch heterogen und | |
| mit verschiedenen, zum Teil polaren Bedeutungen besetzt ist. Vom Westen | |
| ging die Aufklärung aus. Der Ort, an dem man Menschenrechte und Humanismus | |
| zur neuen (Zivil-)Religion gemacht hat. Zumindest wird das so gesehen, | |
| vielleicht sogar idealisiert. Es gibt in Russland immer noch ein | |
| möglicherweise naives Bildungsideal aus Sowjetzeiten, dass jeder, egal | |
| welcher sozialen Schicht man angehört, an der Kunst und Kultur | |
| partizipieren soll. | |
| Und deswegen glaube ich, dass ein differenziertes Bild über den Westen | |
| durchaus verbreitet ist, auch über die Intellektuellen hinaus. Aber es gibt | |
| andererseits den „Wilden Westen“, wo angeblich das Recht des Stärkeren gilt | |
| und der uneingeschränkte Wettbewerb herrscht. | |
| Bereits in den 1990ern wurde in Russland das Narrativ geprägt, dass man zu | |
| spät in die Marktwirtschaft eingestiegen sei und nur als Verlierer aus dem | |
| globalen Wettbewerb herausgehen könne. Dass der westliche Humanismus nur | |
| ein Aushängeschild sei, das dies die wahre Natur des Westens verbergen und | |
| in den wirtschaftlich schwächeren Ländern unerfüllbare Sehnsüchte erzeugen | |
| soll, um sie zu unterdrücken und daraus Profit zu schlagen. So wurde der | |
| Boden dafür bereitet, dass Russland seine vermeintlich ursprünglichen Werte | |
| aufrechterhalten soll, statt mit dem Westen auf seinem Feld zu | |
| konkurrieren, wo Russland angeblich ohnehin keine Chance habe. | |
| Wie hat sich das Bild gewandelt? | |
| Dieser Gedanke wurde unter Putin zementiert und gehört nun zur | |
| Staatsideologie. Das bedeutet nicht, dass alle Russen daran glauben. Bis | |
| zuletzt war der kulturelle und wissenschaftliche Austausch zwischen | |
| Russland und dem Westen möglich. Es ist das, was ich in meinem Buch als | |
| „Freiräume“ innerhalb des autokratischen Systems bezeichnet habe. In der | |
| aktuellen Situation werden solche Freiräume zunehmend geschlossen. Aber die | |
| Erinnerung daran kann nicht von einem Tag auf den anderen getilgt werden. | |
| Der Westen, allen voran die USA, ist wichtigste Bezugsquelle von | |
| Unterhaltungskultur. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russ:Innen | |
| auf Netflix verzichten würden. Das ist ein sehr wichtiger Teil der | |
| Selbstidentifikation, der alltäglichen Kultur. | |
| Der russische Schriftsteller Sachar Prilepin schloss sich den Separatisten | |
| in Donezk an. Was bedeutet es, wenn Kultur direkt am Krieg beteiligt ist? | |
| Die Teilnahme von Künstlern verschafft dem Krieg zusätzliche Legitimität, | |
| deshalb ist es für das Regime enorm wichtig, Unterstützung aus | |
| Kulturkreisen zu bekommen. Es gibt aber durchaus gegenläufige Tendenzen. | |
| [1][Schon in den ersten Kriegstagen haben mehrere Tausend Kulturschaffende | |
| einen offenen Protestbrief unterschrieben], der ihre Solidarität mit der | |
| Ukraine zum Ausdruck gebracht hat. Er musste unter dem Druck der Behörden | |
| aus den öffentlichen Bereichen entfernt werden. Man darf schließlich nicht | |
| gegen einen Krieg protestieren, den es aus offizieller Sicht gar nicht | |
| gibt. [2][Prominente Schriftsteller] wie Vladimir Sorokin und Viktor | |
| Jerofejew haben sich dagegen ausgesprochen. Allerdings befinden sich die | |
| meisten von ihnen im Ausland. | |
| Was bedeutet dieser kulturelle Braindrain für das Land? | |
| Er bedeutet zunächst, dass nur noch die bleiben, die dem Regime treu sind. | |
| Vielleicht war das auch eine Idee dahinter, dass diejenigen, die den Krieg | |
| verurteilen, dann ohnehin ausreisen. Das könnte auch bedeuten, dass jetzt | |
| im Westen ein neues russisches Kulturleben erblüht. Dass es dann in der | |
| Diaspora wieder wird, wie nach der russischen Revolution in den 1920er | |
| Jahren. | |
| Heute, am 9. Mai, wird in Russland der Sieg über Nazideutschland gefeiert. | |
| Der Feiertag ist Ausdruck von Patriotismus. Was wird dieses Jahr | |
| geschehen? | |
| Zu Sowjetzeiten war der 9. Mai eine offizielle Angelegenheit und die vom | |
| Staat getragenen Feierlichkeiten erschienen den Betroffenen, wie meiner | |
| Großmutter, die den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt hatten, dem Anlass kaum | |
| angemessen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die alljährlichen | |
| Militärparaden zu Sowjetzeiten nicht am 9. Mai, sondern am 7. November, dem | |
| Tag der Revolution stattgefunden haben. Es gab zu runden Jubiläen auch am | |
| 9. Mai eine Militärparade, aber nicht regelmäßig. Nach der Perestroika | |
| wurde der 7. November nicht mehr auf diese Weise gefeiert. Und in den | |
| 1990er Jahren wurden die Militärparaden auf dem Roten Platz ganz | |
| abgeschafft. | |
| Erst seit 1995, dem 50. Siegesjubiläum, wurden sie dann im jährlichen | |
| Rhythmus wieder am 9. Mai aufgenommen, und zwar nicht auf dem Roten Platz, | |
| sondern auf dem Poklonnaja-Hügel außerhalb des Zentrums. Dort ließ man eine | |
| neue Gedenkstätte errichten, um an die nationale Tragödie zu erinnern. Bis | |
| 2007 hat man dort Militärparaden durchgeführt. Danach gab es auch Versuche | |
| „von unten“, dem Siegestag ein menschlicheres Antlitz zu verleihen: 2012 | |
| wurde die Initiative „unsterbliches Regiment“ ins Leben gerufen. Sie hat | |
| die Bürger dazu aufgerufen, am 9. Mai einfach auf die Straße zu gehen, mit | |
| Fotografien ihrer Angehörigen, die am Krieg teilgenommen hatten. So sollte | |
| auch die private, vom Staat unabhängige Erinnerung zelebriert werden. | |
| Doch einige Jahre darauf marschierte Putin wiederum in ihren Reihen mit | |
| einem Porträt seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. | |
| [3][Damit nahm er dem Event seinen alternativen Charakter und besiegelte | |
| seine ideologische Vereinnahmung.] Seitdem gehört er zu den offiziellen | |
| Feierlichkeiten. Das ist ein Beispiel dafür, was ich als „Fantasien der | |
| Macht“ bezeichne. | |
| 9 May 2022 | |
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