# taz.de -- Russischer Schriftsteller über sein Land: Sie fordern Blut und bek… | |
> Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky sieht sein Land auf dem | |
> Weg in eine Diktatur. Seine Generation stehe vor unerwarteten | |
> Erfahrungen. | |
Bild: Verteidiger der Zukunft: der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky | |
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Meine Generation hat nicht die [2][Massenunterdrückung und politischen | |
Säuberungen erlebt], ebenso wenig die Schauprozesse, in denen eine zornige | |
Öffentlichkeit die Exekution der Vaterlandsverräter forderte, sie lebte | |
nicht in einer Atmosphäre allgemeinen Schreckens, lernte nicht, ihre | |
Weltsicht von einem Tag auf den anderen zu ändern, ohne zu zögern an die | |
Hinterlist der Verbündeten von gestern und an die guten Absichten der | |
Feinde von gestern zu glauben oder Bruderkriege zu rechtfertigen, und sie | |
war auch nicht zugegen während der moralischen und militärischen | |
Vorwegnahme von Weltkriegen. | |
Die Sowjetunion, die wir erlebten, war schon ziemlich zum Pflanzenfresser | |
geworden: Sie exekutierte die Leute nicht mehr, wenn diese nicht an ihre | |
Grundlüge glaubten, erlaubte es ihnen, die Dinge im Stillen daheim in ihren | |
behaglichen Küchen anzuzweifeln. Und sie verlangte auch keinen Applaus, | |
wenn die Köpfe derer, die als „Volksfeinde“ galten, rollten. | |
Diejenigen aber, die die Vergangenheit miterlebt haben, erinnerten sich | |
nicht gern an das, was vorher war, und jetzt wird auch klar, warum. Es | |
liegt daran, dass das Überleben in einer solchen Lage einem vor allem | |
Kompromisse mit sich selbst, mit dem eigenen Gewissen abverlangte. Ja, es | |
war erforderlich, wegzusehen, und ja, es war auch erforderlich zu | |
applaudieren, und für manche war es sogar erforderlich, andere zu | |
exekutieren, gern oder ungern, um nicht selbst auf dem Richtblock zu | |
landen. | |
Die Leute wollen sich nicht an diese Dinge erinnern, und, um es genau zu | |
sagen, sie wollen diese Dinge auch nicht zugeben. Es brauchte nicht allein | |
Mut, um zu widersprechen, sondern auch, um etwas zu unterlassen, und es | |
braucht Mut, sich später daran zu erinnern, wie man sich einmal – oder | |
womöglich mehr als einmal – entschieden hat, um die Gefahr von sich | |
abzuwenden. | |
## Abgrund des Wahns | |
Und jetzt ereignen sich bei uns, in meiner Generation, live im Fernsehen | |
Dinge, von denen man dachte, dass sie nie wieder geschehen würden. Uns wird | |
eine überraschende Erfahrung zuteil: Wir bekommen die Gelegenheit zu | |
begreifen, warum unsere Großeltern und Urgroßeltern schwiegen und es | |
erduldeten, wie ganze Nationen in den Abgrund des Wahns stürzten, wie | |
Völker die Augen verschlossen vor Tyrannen, die Weltkriege anzettelten, wie | |
manche Völker stillschweigend auf den Richtblock kletterten und wie andere | |
sich bereit erklärten, ihnen den Kopf abzuschlagen. | |
Jetzt sehen wir mit eigenen Augen, wie Leute entmenschlicht werden, bevor | |
man sie vernichtet: durch Verspottung, durch Verleumdung, durch die | |
Verzerrung ihrer Worte und Beweggründe und indem man ihnen die Fähigkeit | |
abspricht, als Menschen überhaupt zu fühlen und zu denken. | |
Wir wissen, wie Raubtiere sich tarnen: Der Wolf zieht dem Schaf, das er | |
soeben getötet hat, das Fell ab und kleidet sich damit. | |
## Sich in ein Raubtier einfühlen | |
Wir lernen, uns in Gleichgültigkeit zu üben gegenüber der Ungerechtigkeit, | |
die eindeutig vor unser aller Augen geschieht: Sie betrifft uns einfach | |
nicht, und vielleicht wird sie das auch nicht, wenn wir bloß nicht mit dem | |
Feuer spielen. Man kann halt nicht für alle Empathie haben! | |
Wir lernen, nicht mit dem Opfer, sondern mit dem Täter zu sympathisieren. | |
Wenn man sich in ein Raubtier einfühlt, wirkt es so, als sei man auf seiner | |
Seite, neben ihm, mit ihm zusammen. Es ist so, als würde man sich in der | |
Nähe eines Hais aufhalten. Es ist weniger furchteinflößend, und man kann | |
sogar an den Resten nagen, die ihm aus dem scharfzahnigen Kiefer fallen. | |
Wir lernen hinwegzusehen über den sich steigernden Wahnsinn von Herrschern | |
und versichern uns stattdessen ihrer Weisheit und ihres Weitblicks. Wie der | |
Offiziersdiener in [3][Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des braven Soldaten | |
Schwejk“], der tröpfchenweise den Schwachsinn seines Oberleutnants | |
verabreicht bekommt, schlucken wir ihre verdrehten Verschwörungstheorien, | |
bis wir uns so sehr an den Geschmack gewöhnt haben, dass wir um Nachschlag | |
bitten. | |
Denn wenn ihr sie nicht glaubt, wer bleibt dann noch, um sie zu glauben! | |
Ist es nicht besser, Fäkalien zu essen, als zu Bett zu gehen mit dem | |
Gedanken, dass das eigene Leben in der Hand von Verrückten ist? Gibt es gar | |
so etwas wie Kollektivwahn? | |
## Feiglinge oder Sklaven | |
Ja, wir wissen, wie man stillhält, wie man wegschaut, sich wegduckt und | |
seine Gedanken für sich behält, aber wir müssen noch lernen, diese Gedanken | |
selbst beiseite zu schieben. Um nicht in Angst zu leben, um nicht das | |
Gefühl zu haben, wir seien Feiglinge oder Sklaven, müssen wir lernen, | |
aufrichtig zu glauben, was wir vor noch nicht allzu langer Zeit für falsch | |
hielten. | |
Es bedeutet zu lernen, Seite an Seite zu marschieren, nach Aufforderung zu | |
klatschen, aufrichtig, verzweifelt zu klatschen, wenn die Staatsfeinde | |
exekutiert werden, und eine Gänsehaut zu spüren, wenn wir uns ehrlich an | |
den Reden unseres Führers ergötzen. | |
Es bedeutet Kriege zu feiern. Blutvergießen zu begrüßen. Erklärungen und | |
Rechtfertigungen dafür zu finden, hochgestimmt zu sein durch den Verrat | |
unserer Brüder und die Vergeltungsakte gegen sie. Zu heucheln, dass man | |
nicht bemerkt, und womöglich bemerkt man es sogar wirklich nicht mehr, wie | |
das eigene Heimatland den Weg von faschistischen Diktaturen beschreitet, | |
sich buchstäblich in deren Fußstapfen begibt, hin zu dem Ziel, das wir alle | |
nur zu gut kennen. | |
Wir wollten nichts von der Vergangenheit wissen, weil wir dachten, wir | |
hätten sie hinter uns gelassen. Es schien, als würde das Herbarium dieser | |
grausig bizarren Gefühle auf alle Zeiten zwischen den Seiten von | |
Lehrbüchern eingeschlossen bleiben. Doch die Geister, die sich von Groll, | |
Straffreiheit und Anspruch nähren, nehmen an Größe zu und schieben die | |
Seiten auseinander, kriechen aus der verstorbenen Vergangenheit in das | |
lebendige Jetzt. Sie fordern Blut und bekommen es. Das Blut derer, die im | |
Hier und Jetzt leben. Unser Blut, das heiß und rot ist statt braun und | |
trocken. | |
## Furcht davor, gar nicht zu leben | |
Wir werden lernen müssen, zusammen zu denken und zu marschieren, aus Angst | |
vor allzu neugierigen Nachbarn und Autos mitten in der Nacht, und sabbernd | |
demonstrativ die Ikonen und Portraits unserer Führer küssen, andächtig | |
alles glaubend, was von den Solowjews und Tolstois dieser Welt an | |
Binsenweisheiten verkündet wird, während wir uns unverdächtig verhalten, | |
aus beständiger Furcht davor, gar nicht zu leben: lernen, all das zu tun … | |
Oder lernen, das Gegenteil zu tun: [4][unsere Erinnerungen zu bewahren] und | |
an die Zukunft zu denken, vom Groll abzulassen und nicht in der | |
Vergangenheit zu leben. Nicht die Lügen zu glauben und immer die Wahrheit | |
einzufordern. Unangenehm ins Auge zu stechen, zu debattieren, unsere Würde | |
zu verteidigen und für sie zu kämpfen. | |
Bis jetzt haben wir noch nichts verstanden von der Erfahrung derer, die vor | |
uns lebten und starben, um es selbst anders zu machen. Darum müssen wir | |
noch sehr viel lernen. | |
Aus dem Englischen von Tim Caspar Boehme | |
10 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dmitry Glukhovsky | |
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