# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Es fehlt ein russischer Jaspers | |
> Wie kann man die Russen von der durchdringenden, ureigenen Schuld des | |
> Landes überzeugen? Ein Nachdenken über die Zeit nach dem ukrainischen | |
> Sieg. | |
Bild: In der Nähe von Kiew, ein Fenster mit gestapelten Büchern ausgefüllt | |
Der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Irwanez schrieb die folgenden | |
Gedanken am 1. März 2022 in dem kleinen Haus in Irpen, wo er mit seiner | |
Frau und seiner 91-jährigen Schwiegermutter aushält. Sie können nirgendwo | |
hin, die Schwiegermutter ist zu alt, die Brücken und Straßen nicht zu | |
passieren. | |
Ich schreibe auch diese Zeilen aus dem kleinen Haus in Irpen (in der Nähe | |
von Kyjiv, nur wenige Kilometer von den Kämpfen um den Flughafen Hostomel, | |
Anm. d. Red.), morgen endet die erste Kriegswoche und es ist | |
Frühlingsbeginn, sicher nicht ein „russischer Frühling“, eher das | |
Gegenteil. | |
Draußen sind weiterhin Artilleriesalven zu hören, doch ein ganzes Stück | |
entfernt. Ich hab mir einen starken Tee gekocht (Oksana hatte es am 24. | |
Februar noch geschafft, die letzten Päckchen Tee im Supermarkt zu | |
ergattern) und beginne über [1][Jaspers und seine Schrift „Die Schuldfrage“ | |
nachzudenken.] | |
Diese Arbeit entstand unmittelbar nach dem Krieg und erschien erstmals | |
1946, also im besiegten, besetzten, zerstörten und gebrandmarkten, aber | |
noch nicht denazifizierten Deutschland, sozusagen auf heißer Spur. In | |
seinem Buch unterscheidet der deutsche Philosoph vier Schuldbegriffe: | |
kriminelle Schuld, politische Schuld, moralische Schuld, metaphysische | |
Schuld. | |
Dementsprechend gibt es Verantwortlichkeiten und Strafen – für die | |
kriminelle Schuld das Gericht, für die politische Schuld eine kollektive | |
Haftung und Wiedergutmachung, für die moralische Schuld ist das | |
individuelle Gewissen zuständig und für die metaphysische Schuld Gott. | |
Entsprechend ist die Zuständigkeit im Falle der ersten beiden | |
Schuldbegriffe äußerlich und bei den anderen beiden eher innerlich: | |
Gewissen, naja, und mit Gott ist es eh kompliziert. | |
Einen Menschen zur Reue zu zwingen, ist freilich sinnlos. Mit Gewalt | |
überzeugt man hier keinen. Der Mensch muss selbst zum ehrlichen Verstehen | |
seiner Schuld kommen. Aufrichtig und im vollen Bewusstsein des Unrechts | |
seiner früheren Überzeugung. Mit Tränen der Scham und der Reue für das | |
verübte Unrecht, mit bitteren Seelenqualen. | |
In der Forschung heißt es, Jaspers habe mit seiner Schrift die geistigen | |
Grundlagen für die Denazifizierung Deutschlands gelegt. Da schaut! Jetzt | |
hab ich es schon wieder benutzt, dieses Wort: Denazifizierung. Auch | |
[2][Putin gebrauchte es zur Begründung seines Angriffs auf die Ukraine], | |
der zwecks Demilitarisierung und Denazifizierung unseres Staates | |
unternommen wird. Mir scheint, dass nach unserem ukrainischen Sieg die | |
beiden Begriffe auf die Russische Föderation anzuwenden sind. Doch wie | |
lässt sich das umsetzen? | |
Der Krieg ist noch nicht zu Ende und ich bin mir durchaus bewusst, dass er | |
bis zu unserem Sieg noch lange dauern wird, denn ich will einfach daran | |
glauben, dass das Gute, auf dessen Seite die Ukraine steht, wir alle, das | |
Böse besiegen. Und wie weiter? Lassen wir den Feind still und leise nach | |
Rostov und Belgorod abziehen und feiern nur für uns seine Vertreibung? Ohne | |
ihm über die Grenze nachsetzen? Um den Henker vor sich herzutreiben bis | |
nach Moskau? Bis hinter den Ural, Baikal und weiter? (Und am Pazifik halten | |
wir an?) | |
All das wird es nicht geben, die Ukraine hat nicht ausreichend eigene | |
Kräfte und eine bewaffnete Anti-Putin-Allianz auf die Beine zu stellen, | |
wird uns kaum gelingen. Nun, wie soll es also zu aufrichtiger Reue und | |
einem Bewusstsein der eigenen Unlauterkeit des mehr als | |
Hundert-Millionen-Volkes der Russischen Föderation kommen? | |
Ich lese zur Zeit Russian Posts und Tweets von all den Kasparovs, | |
[3][Chodorkowskis], Bykovs etc. In ihre liberalen, aufrichtig | |
pazifistischen Texte, ja-ja, stiehlt sich eine leichte, hübsch verpackte | |
Diskrepanz mit der Realität, dem Lauf der Ereignisse. | |
## Dünnflüssig wie das Erbrochene eines kranken Magens | |
„Ach, die Ukraine darf nur nicht in Selbstmitleid verfallen!“, jammert | |
[4][Dmitri Bykov] in der Novaja gazeta vom 1. März. „Ich sage nicht, dass | |
der Ukraine die Zukunft gehört, ich sage, ihr steht die Führungsrolle zu …�… | |
Diese Wortspielereien sind so dünnflüssig wie das Erbrochene eines kranken | |
Magens oder kranken Hirns. | |
Es ist kein russischer Jaspers in Sicht. Einer, der diesem | |
Millionenkonglomerat von Menschen meist unterdrückter Völker, die alle | |
zusammen Russen genannt werden, alles schön ordentlich in die Ablagen ihres | |
Bewusstseins sortieren würde. | |
Im besetzten Deutschland zwangen die Amerikaner in der zweiten Hälfte der | |
1940er Jahre im Zuge der Denazifizierungsmaßnahmen die Bewohner des | |
unterworfenen Reichs unter anderen dazu, die Massengräber bei den KZs und | |
Gefängnislagern aufzugraben, die namenlosen menschlichen Überreste zu | |
sortieren, nach Möglichkeit zu identifizieren und dann entsprechend den | |
religiösen Vorschriften anständig zu beerdigen. Man dachte, das würde | |
dieses große europäische Volk ernüchtern und es würde sich seiner tiefen | |
Schuld, die es auf sich lud, bewusst werden und durch das Eingeständnis der | |
Schuld moralisch gereinigt. Fraglich, ob die Deutschen diese schreckliche | |
Aufgabe mit Zufriedenheit erfüllte. | |
Und wie kann man die heutigen Russen ernüchtern – nicht die in Moskau und | |
Petersburg, wo die „liberale Intelligenz“ verbreitet ist, aber in all den | |
Kalugas, Twers-Omsk-Tomsk? Wie kann man sie von der durchdringenden, | |
ureigenen Schuld dieses großen Landes überzeugen? Wer wird diese schwere | |
und undankbare Mission im flächenmäßig größten Land der Welt übernehmen? | |
## Die Mütter sollen kommen und die Kriegsgefangenen abholen | |
ich habe dieser Tage auf Facebook den Vorschlag gelesen, man soll die | |
gefangenen russischen Wehrdienstler nicht gleich mittels des Roten Kreuzes | |
zu ihren Müttern zurückschicken, sondern ihre Mütter sollen selbst in die | |
Ukraine kommen und ihre Söhne abholen, jede einzeln. Sollen sie durch die | |
zerstörten Städte Sumy, Tschernihiw, Ochtyrka in der Ostukraine kommen, | |
sollen sie sich doch [5][den verwüsteten Hauptplatz von Charkiw] anschauen | |
und die Reste der Wohnsiedlungen in Cherson, die Folgen der Streubomben an | |
den Hochhäusern in den Städten Irpen und Butsch, die von Kugeln | |
durchlöcherten Wände von Kindergärten und Schulen, die Krater auf Straßen | |
und Feldern entlang ihres Wegs, all die grässlichen Folgen der Taten ihrer | |
Söhne. | |
Ja, denkt man, das könnte funktionieren – doch tatsächlich nachhaltig? Wird | |
das reichen, um ein Bewusstsein für die Unmenschlichkeit des Putinschen | |
Russlands zu entwickeln, das sich innerhalb von zwei Jahrzehnten in ein | |
Monster verwandelte, und das noch vor kurzem, vor einer Woche, verächtlich | |
auf die verängstigte Welt blickte und sich das Geschwür seiner | |
Großartigkeit vor lauter Hochmut blutig kratzte? | |
Wo ist der neue Tolstoj, der den Russen die bittere Wahrheit verkündet? | |
Ha-alloo! Antworte! | |
… doch nur Schweigen …. | |
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil | |
7 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /!856524/ | |
[2] /Nachrichten-zum-Angriff-auf-die-Ukraine/!5837492 | |
[3] /Russlands-Geldadel/!5838960 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Lwowitsch_Bykow | |
[5] /Millionen-Metropole-Charkiw/!5839527 | |
## AUTOREN | |
Oleksandr Irwanez | |
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