# taz.de -- Krieg in der Ukraine: „Hat Putin Kinder?“, fragt meine Tochter | |
> Die Autorin Lana Lux zog 1996 als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland | |
> und begann, sich vor ihrem Geburtsland Ukraine zu fürchten. Das hat sich | |
> nun geändert. | |
Bild: Der Sozialismus wird demontiert: Kiew im September 1991 | |
Seit Donnerstag, den 24. Februar 2022, erreichen mich unablässig | |
Nachrichten von Menschen, die bei den schrecklichen Schlagzeilen aus der | |
Ukraine sofort an mich denken. Dabei habe ich nur eine zarte, gerade erst | |
wieder erblühende Beziehung zu diesem Land. Meinem Geburtsland. | |
1986: Ich komme in Dnipro in der Ostukraine zur Welt. Meine Mutter spricht | |
Russisch. Mein Vater spricht Russisch. Meine Tante spricht Russisch. Meine | |
Oma spricht ein sehr witziges, falsches Russisch und manchmal auch gar kein | |
Russisch, sondern Jiddisch. | |
Ich bin fünf Jahre alt, als ein Mädchen im Kindergarten zu mir sagt, ihr | |
Vater hätte es ihr verboten, mit Jüdinnen zu spielen. Ich habe früh | |
verstanden, dass das Land, in dem ich lebe, nicht mein Land ist, dass meine | |
Eltern ausreisen wollen. Irgendwann. Vielleicht bald. Ich lebe in | |
ängstlicher Erwartung des Aufbruchs. | |
1991: Die Sowjetunion ist endgültig Geschichte. Man sagt uns Kindern, dass | |
die Ukraine jetzt unabhängig sei. „Unabhängig von was?“, frage ich. | |
Irgendwie hat keiner Zeit, mir das richtig zu erklären. Ich versuche aus | |
den Gesprächsfetzen der Erwachsenen schlau zu werden, sitze still neben | |
ihnen vor dem Fernseher und schaue mir die Gewalt in den Nachrichten an. | |
Verbrechen, Entführungen. Zwangsprostituierte Frauen. Der | |
Tschetschenienkrieg. | |
Im Kindergarten gibt es für uns gerade zwei wichtige Fragen zu klären: | |
Erstens: Was ist besser: ein Penis oder eine Vulva? (Natürlich haben wir | |
Kinderwörter dafür verwendet.) Und zweitens: Wer ist besser: ein Russe oder | |
ein Ukrainer? Bei Frage eins bin ich mir unsicher. Bei Frage zwei halte ich | |
mich lieber ganz heraus. | |
Weil die Ukraine jetzt unabhängig ist, wird künftig alles auf Ukrainisch | |
sein, sagen sie uns. Auch die Schule. Darum müssen wir fleißig Ukrainisch | |
lernen. Ich will aber kein Ukrainisch lernen. Ich will meine ganz normale | |
Sprache sprechen! Das Leben ist auch so schon beschwerlich genug. | |
Immer wieder haben wir kein Gas, kein Wasser oder Strom. Immer wieder | |
müssen wir für Lebensmittel anstehen. Stundenlang. Es gibt keine Fahrpläne, | |
wir warten ewig auf Busse. Die Busfahrer lieben es, mit uns Passagieren ein | |
Spiel zu spielen: Sie halten weit vor der Busstation, und während wir alle | |
hinrennen, fahren sie wieder los und kommen erst weit hinter der | |
Haltestelle wieder zum Stehen. Die Busse sind so voll, dass die Türen | |
häufig nicht zugehen. Einmal werden meiner Mutter in so einem überfüllten | |
Bus die Rippen gebrochen. Nicht alle, nur drei. | |
1996: Wir sind ausgereist. Ausgerechnet nach Deutschland. Gelsenkirchen | |
heißt die neue Stadt. Wann immer die Kinder in der Ukraine Krieg gespielt | |
haben, haben sie Lose gezogen, wer die Nemzy spielen musste. Ein Wort, das | |
eigentlich nur „Deutsche“ heißt, aber „Nazis“ meinte. Kein Kind wollte | |
freiwillig Nazi sein. Ich frage mich, ob die ukrainischen Kinder künftig | |
Lose ziehen werden, wer die Russen spielt? | |
Ich habe Krieg nie mitgespielt. Es hat mir zu viel Angst gemacht. Wirklich: | |
Todesangst. „Ist nur ein Spiel“, haben die anderen mir zugerufen. „Sei | |
nicht feige!“ Nun, in Deutschland, möchte ich beim Völkerball nicht | |
mitspielen, weil es mich ans Kriegspielen erinnert und ich wieder diese | |
unsagbare Angst spüre, die mir das Denken vernebelt. | |
Kurz vor der Ausreise wurden unsere Namen ins Ukrainische übersetzt. Mein | |
Vater, der Wladimir heißt, wurde zu Wolodymyr. Unsere Nachnamen verloren | |
das „Ja“ am Ende. Aus Chukovskaja wurde Chukovska. Im Kyrillischen besteht | |
das „Ja“ nur aus einem Buchstaben, der gleichzeitig „ich“ bedeutet. | |
Es dauert lange, bis ich aufhöre, das „Ja“ anzuhängen, wenn man mich nach | |
meinem Nachnamen fragt. Im Gelsenkirchen der 1990er Jahre kennt man mein | |
altes Land nicht. „Die Ukraine, ist das irgendwo in Russland?“, fragen sie. | |
Meine Muttersprache ist Russisch, also werde ich zu einer Russin gemacht. | |
Ich wehre mich nicht. Wer Ausländer nicht per se schlecht findet, findet | |
Russen immerhin ganz okay. | |
Erst als Jugendliche höre ich auf, die Russin zu spielen. Werde ich | |
gefragt, ob ich eine sei, sage ich nein, ich sei in der Ukraine geboren. | |
„Bist du also Ukrainerin?“, fragen sie – „Nein, ich bin Jüdin“, antw… | |
ich. „Wenn du nicht religiös bist, dann bist du keine Jüdin. Was ist an dir | |
jüdisch?“, fragen sie weiter. Was an mir außer der Staatsangehörigkeit | |
ukrainisch ist, fragt keiner. | |
Seit meine Tante und meine Jiddisch sprechende Oma zu uns nach Deutschland | |
emigriert sind, verliere ich jegliches Restinteresse an der Ukraine. Meine | |
Ukraine ist eine abgeschlossene Erfahrung. Ich habe sie zusammen mit meiner | |
Kindheit behutsam in ein steriles Glas gelegt, beides mit salzigen Tränen | |
begossen und den Deckel fest zugeschraubt. Das Konservieren habe ich von | |
meiner Oma gelernt. | |
2014: Erst mit dem Euro-Maidan und dem daraus resultierenden Krieg im Osten | |
des Landes bekommt die Ukraine wieder etwas Aufmerksamkeit von mir. Wer | |
kämpft dort gegen wen? Warum? Zeitgleich steht mein eigenes Leben in | |
Flammen. Ich lebe inzwischen in Berlin, bin schwanger, muss operiert | |
werden, stecke in großen finanziellen Schwierigkeiten. | |
Auf den Straßen schreien propalästinensische Demonstranten: „Scheiß Juden, | |
wir bringen euch um!“ Ich habe keine Kraft, mich näher mit dem mir | |
inzwischen so fernen Land zu befassen, in dem ich geboren bin. Meine Mutter | |
erzählt von Nationalisten und von Faschisten in der Ukraine. Von | |
Übergriffen und Pogromen auf russischsprachige Menschen. Ich habe Angst vor | |
der Ukraine. | |
Ebenfalls 2014 beginne ich mit der Arbeit an meinem ersten Buch. | |
[1][„Kukolka“ heißt der Roman], für den ich ein Stück der konservierten | |
Ukraine aus meinem Schraubglas nehme, um es der Protagonistin Samira zu | |
leihen, einem Waisenmädchen, das zur Kriminalität erzogen und schließlich | |
zwangsprostituiert wird. Noch ahne ich nicht, dass dieses Buch mich auch | |
persönlich wieder in engeren Kontakt mit der echten Ukraine bringen wird. | |
2018: Ein Jahr nachdem „Kukolka“ erschienen ist, lerne ich D. kennen. Eine | |
deutsche Frau in meinem Alter, die in der Ukraine lebt und für den | |
Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) arbeitet. Sie lädt mich zu | |
einem Literaturfestival ein, zu dem ich nicht kommen kann. Später fragt | |
sie, ob ich mich den Volontären anschließen möchte, die die kleine jüdische | |
Community von Lwiw im Westen des Landes unterstützen. Es gehe darum, | |
[2][die verlassenen jüdischen Friedhöfe und Mahnmale der | |
Massenerschießungen von Juden während der Shoa zu pflegen]. Ich sage zu – | |
und es wird zu einer Erfahrung, die alles verändert. Danach fliege ich noch | |
einmal in die Ukraine. Und noch einmal. Und noch einmal. | |
2021: Im September lande ich erneut in Kiew. D. schließt mich in ihre Arme. | |
Inzwischen hat sie ihren ukrainischen Partner geheiratet. Sie wollen | |
Kinder, erzählen sie, ihre Wohnung ist frisch renoviert und stylisch | |
eingerichtet. Der Kopf ihres Hundes liegt schwer und warm auf meinem | |
Oberschenkel, als ich mit D., ihrem Mann und deren Freunden am Tisch sitze. | |
Wir essen veganes Chilli aus hübschen Tonschalen, unterhalten uns auf | |
Englisch, Russisch, Deutsch und Ukrainisch. | |
Ich stelle Fragen. Zunächst zaghaft. Je mehr sie erzählen, desto mehr | |
begreife ich, wie wenig ich weiß, über das Land, in dem ich zur Welt kam – | |
über die Ukraine von heute. Ich weiß eigentlich nur, was in meinem | |
Schraubglas ist. Wir nehmen uns vor, im nächsten Frühling, März oder April | |
2022, zusammen nach Dnipro zu fahren, an meinen Geburtsort, D., ihr Mann | |
und ich. Wieder in Berlin, beginne ich, Ukrainisch zu lernen. | |
Seit Donnerstag, dem 24. Februar 2022, verbessern sich meine | |
Sprachkenntnisse rasant. Jede frei Sekunde hänge ich vor den | |
Nachrichtenkanälen aus Kiew, Charkiw, Dnipro, in denen nicht nur | |
Ukrainisch, sondern auch jetzt noch immer wieder und wie selbstverständlich | |
Russisch gesprochen wird. Schon zwei Wochen vor der russischen Invasion hat | |
der DAAD meine Freundin D. nach Deutschland zurückbeordert. Ihr Mann, | |
zerrissen zwischen der Pflicht seiner schwangeren Frau und der Pflicht | |
seinem Land gegenüber, blieb dort. Er will helfen. Er muss helfen. Während | |
ich diese Zeilen schreibe, ist er in Lwiw, wo stündlich Tausende von | |
geflüchteten Menschen, vom Baby bis zum Greis, ankommen. Die Zukunft ist | |
gänzlich ungewiss. | |
Sonntag, 28. Februrar 2022: [3][Auf der großen Antikriegsdemo in Berlin] | |
trägt meine siebenjährige Tochter unser Plakat. Sie hat zwei weiße | |
Friedenstauben darauf gemalt. I stand with Ukraine haben wir dazu | |
geschrieben. Ich erkläre ihr, dass es ein großes Privileg ist, frei | |
demonstrieren zu können. Und dass ich den Mut derjenigen Russen bewundere, | |
die jetzt in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten auf die Straße | |
gehen, obwohl sie dafür verhaftet werden. | |
„Ist es richtig, für sein Land zu kämpfen?“, fragt meine Tochter. „Ja�… | |
sage ich. | |
„Würdest du für dein Land kämpfen?“, fragt sie. „Nein“, antworte ich… | |
habe kein Land, zu dem ich gehöre. Ich habe Sprachen, ich habe Werte, ich | |
habe Traditionen, ich habe Familie und Freunde, aber kein Land. Stell dir | |
vor“, sage ich, „es gibt Menschen, die haben ein eigenes Haus, ein Erbe | |
über Generationen vielleicht. Wenn jemand es ihnen wegnehmen will, kämpfen | |
sie dafür. Und dann gibt es andere, wie mich, die haben nur eine | |
Mietwohnung, und die Generationen vor ihnen haben auch immer nur | |
Mietwohnungen gehabt. Mal hier, mal da.“ | |
„Bist du traurig darüber“, fragt sie, „dass du kein Haus hast?“ | |
„Nein, schon lange nicht mehr.“ | |
„Werden wir aus Deutschland auch mal fliehen müssen?“ | |
„Ich weiß es nicht“, sage ich, „jetzt gerade müssen andere Menschen fli… | |
und wir müssen sie unterstützen, so gut wir können.“ | |
„Hat Putin eigentlich Kinder?“, möchte mein Kind nach einer Pause wissen. | |
„Ja“, sage ich, „zwei Töchter.“ | |
„Ob sie sich für ihren Vater schämen?“, fragt sie. | |
7 Mar 2022 | |
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