# taz.de -- Alltags-Reaktionen auf russischen Akzent: „Bei euch in Sibirien“ | |
> Wie ist das Russischsein in Deutschland in Kriegs- und Friedenszeiten? | |
> Unser Gastautor über den ungewollten Repräsentantenstatus und Putin-Fans. | |
Bild: Sibirien = Russland = Russen = Putin? So einfach ist es nicht | |
Bremerhaven taz | Zu den Nebeneffekten der Pandemie gehört, dass wesentlich | |
mehr Menschen als sonst deinen Namen und Nachnamen erfahren. So auch der | |
Security-Mann an der Uni-Bibliothek, der nur wenige Tage vor dem | |
Kriegsbeginn meinen Impfpass und meinen Ausweis kontrollierte. „Russe oder | |
Ukrainer?“, fragte er, nachdem er meinen Vor- und Nachnamen mühevoll | |
vorgelesen hatte. | |
Normalerweise würde ich dieser Frage keine Bedeutung zumessen. Ich habe | |
kein Problem damit, wenn Menschen mich fragen, woher ich komme. Mein Akzent | |
macht deutlich, dass ich die ersten Jahre meines Lebens eine andere Sprache | |
als Deutsch gesprochen habe, und ich beantworte die Frage auch gern – | |
zugegeben wesentlich freundlicher, wenn sie nicht als erste kommt. | |
Aber als ich vor der Bibliothek schon zur wahrheitsgemäßen Antwort | |
ansetzte, fiel mir ein, dass sie [1][im aktuellen Kontext] ganz andere | |
Konnotationen hervorrufen könnte. Vermutlich erklang „Russe“ diesmal etwa | |
bemühter als sonst. „Ah, genau wie mein früherer Kollege“, antwortete der | |
Mann freundlich. Wir lächelten uns zu, und ich ging erleichtert weiter. | |
Dass das Russendasein in dem Land, wo man Wodka mit Cola und ohne Essen | |
dazu konsumiert, kein Zuckerschlecken ist, war mir auch zu Friedenszeiten | |
klar. Als mich vor zehn Jahren der hippieske Buchhändler vor der | |
Humboldt-Universität unvermittelt fragte, ob „bei euch da in Sibirien keine | |
Menschenrechte bekannt“ seien, antwortete ich noch höflich, ich stammte aus | |
Moskau und sei nie in meinem Leben in Sibirien gewesen. Woraufhin der | |
Anbieter vergilbter Werke von Erich Fromm und Erich Fried mich als | |
„Oligarchensohn“ beschimpfte. | |
## Repräsentanten der Regierung | |
Vermutlich steht der Buchhändler immer noch vor den Gebäuden, in denen die | |
woken Nachwuchskräfte der Sozialwissenschaften darüber diskutieren, ob es | |
so etwas wie antislawischen Rassismus überhaupt geben kann. Schräg über die | |
Straße ist auch das Humboldt-Forum, in dem geneigtes Publikum die | |
Flugblätter aus der 1848er-Revolution gegen Russen und Kroaten bestaunen | |
darf. Ohne jeglichen einordnenden Kommentar – in einem Museum, das | |
ansonsten mit Triggerwarnungen nicht gerade sparsam umgeht. | |
Auch wenn ich mit dem aktuellen Krieg nicht ernsthaft gerechnet habe, war | |
ich darauf schon seit 2014 vorbereitet. Auf Fragen wie „Weißt du als Russe, | |
wann/wo/womit Putin angreifen wird?“ mit „Weißt du als Deutscher, welche | |
Sanktionen Baerbock durchsetzen wird?“ zu entgegnen, ist also nur die | |
einfachste Übung. | |
Generell ist die Vorstellung weit verbreitet, Menschen seien aufgrund ihrer | |
Herkunft oder ihres Passes so etwas wie Repräsentanten der jeweiligen | |
Regierung, an die man offizielle Noten abgeben und von denen man jederzeit | |
Stellungnahmen verlangen kann. Die derzeit allgegenwärtigen Absagen an | |
russische Künstler erinnern mich an den Bekenntniszwang, den die Kampagne | |
„Boycott, Divestment and Sanctions“ auf israelische Kulturschaffende und | |
Wissenschaftler auszuüben versucht: die Bekenntnis gegen den israelischen | |
Staat. | |
Ich frage mich, ob die kritischen Intellektuellen, die so etwas mittragen, | |
sich auch bei jedem Döner- oder Falafelkauf nach der Haltung des | |
Imbisspersonals zu Erdoğan und Assad erkundigen. Okay, es gibt auch | |
schlichtere Gemüter, die alle Muslime recht unvermittelt nach ihrer Haltung | |
zur Terrorgruppe Islamischer Staat befragen. | |
Ein mündiger Bürger sagt nun mal gern seine Meinung, wenn sich die | |
Gelegenheit bietet. Wenn eine engagierte Stimme auf die Auskunft darüber, | |
wo ich Anfang der 1990er zur Grundschule gegangen bin, munter poltert: „Ich | |
habe den Eindruck, in Russland werden die Menschenrechte mit den Füßen | |
getreten“, kann ich immer noch „Aber nicht mit meinen“ antworten. | |
## Deutsche Putin-Fans als Herausforderung | |
„Ich würde nie nach Russland reisen, solange dort …“, setzt ein jovialer | |
älterer Herr an, der sich um Pussy Riot und LGBT-Rechte besorgt zeigt. | |
Okay, das werde ich der Föderalen Agentur für Tourismus (ja, so heißt die | |
Behörde wirklich) so weiterleiten. | |
Eine besondere Herausforderung stellen die deutschen [2][Putin-Fans] dar. | |
Die projizieren in den russischen Präsidenten all das, was ihnen beim | |
westlichen Staatspersonal fehlt. Teils sind es auch frustrierte Linke, die | |
froh sind, dass jemand ihrer Regierung Paroli bietet. Das ist übrigens ein | |
Grund, warum so etwas wie eine „Internationale der regierungskritischen | |
Menschen“ es so schwer hätte, zustande zu kommen. Kritik an der eigenen | |
Regierung treibt viele direkt in die Arme der Hardliner auf der anderen | |
Seite. | |
Wie auch immer – ohne dass ich nach meinen eigenen politischen Ansichten | |
gefragt wurde, werde ich von manchen mit Liebesbekundungen an den | |
Staatschef überhäuft, den ich möglicherweise nie gewählt habe. | |
Eine weitere Challenge: historische Parallelen, speziell die | |
Faschismus-Vergleiche. Die sind omnipräsent – russische Propaganda greift | |
beherzt dazu, weil Faschist sei, wer Russland und Russen nicht mag. Das | |
lässt die Gegenseite nicht auf sich sitzen – Faschist sei, wer in fremde | |
Länder einfällt. Nichts geht über eine ordentliche Diskussion über den | |
antifaschistischen Charakter der Nato-Politik, die wiederum auf den | |
antifaschistischen Widerstand russischer Rechtsradikaler stößt, die auf | |
Seiten der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk kämpfen. | |
Putin ist ja wie Stalin und Stalin wie Hitler. Oder Iwan der Schreckliche. | |
Attila, der Hunne, würde auch noch gehen. Wie schon mein Geografielehrer | |
an einem deutschen Gymnasium zum Untergang des U-Boots „Kursk“ zu sagen | |
pflegte: „In Russland war ein Menschenleben nie viel wert.“ Der Kontrast zu | |
Deutschland liegt auf der Hand. | |
Ich dachte, ich wäre schon durch die Erfahrung der vorherigen Jahre, vor | |
allem seit 2014, auf alles vorbereitet. Treffe ich nun auf Menschen, deren | |
Familien im Kriegsgebiet sind, frage ich, ob niemand zu Schaden kam und | |
drücke die Hoffnung aus, dass der Krieg bald endet. Wer mich als | |
Repräsentanten meines Herkunftslandes anspricht und auf der Stelle Lösungen | |
für politische Probleme verlangt, dem erläutere ich gern, dass ich nicht im | |
Besitz von Vollmachten bin, Verträge abzuschließen. | |
Schwieriger wird es bei denjenigen, die für einen Kampf bis zum Sieg für | |
die eine oder andere Seite eintreten. Solchen Zeitgenossen stelle ich | |
irgendwann die höfliche Frage, warum sie, statt an der Front zu kämpfen, im | |
sicheren Hinterland stehen und mich volltexten. | |
Neuerdings höre ich Geschichten, die zeigen, dass sich etwas ändert. Als | |
eine Bekannte von einer langjährigen deutschen Freundin eine | |
Sprachnachricht mit der Empfehlung bekam, Deutschland schnell zu verlassen, | |
denn „die Menschen mit einem starken russischen Akzent werden hier nicht | |
mehr geduldet“, wollte ich es zunächst nicht glauben. Die Adressatin dieser | |
Botschaft, die mit langen Exkursen über die russische „Liebe zur | |
Unfreiheit“ und den historisch gewachsenen „Größenwahn“ der Moskowiter | |
gespickt war, kommt übrigens aus Belarus. | |
10 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ewgeniy Kasakow | |
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