# taz.de -- Roman über ukrainisches Heimkind: Das Ende einer furchtbaren Odysee | |
> Lana Lux’ Debüt „Kukolka“ ramponiert ihren Lesern die Seele: Es erzäh… | |
> von einem Kind, das als Bettlerin, Diebin und Prostituierte ausgebeutet | |
> wird. | |
Bild: Kukolka war keines dieser Püppchen (Archivbild 2012) | |
Es ist wirklich ziemlich schwierig, einem Menschen, der vielleicht zum | |
Zweck der Erbauung oder des Erkenntnisgewinns Lektüretipps verlangt, das | |
Debüt der in der Ukraine geborenen und in Deutschland lebenden Autorin Lana | |
Lux ans Herz zu legen. | |
Vielleicht so: „Kukolka“, das ist nicht von der Hand zu weisen, ist ein | |
Katastrophenroman über eine Person mit dem schlimmstmöglichen Schicksal. Es | |
ist aber auch ein Roman, der einen derart nah an ein nur vermeintlich weit | |
entferntes Schicksal rückt, dass man es im ganzen Körper spürt. | |
Erzählt wird also nicht nur die Geschichte eines Heimkinds in der Ukraine, | |
das zunächst als Bettlerin und Diebin ausgebeutet wird, sich dann in einen | |
Zuhälter verknallt und nach ihrer Ausreise nach Deutschland zur | |
Prostitution gezwungen wird. Erzählt wird in diesem Buch auch, wie es zu | |
schaffen ist, eine Sprache für eine Person zu finden, die sonst eher kaum | |
gehört wird, eine wahrhaftige, einfache und knappe Sprache jenseits aller | |
moralischen Wertungen und Erklärungen. | |
Nur diese Sprache macht dieses Buch zu einem der schmerzhaftesten und | |
verstörendsten – zu einem Buch, das weder Voyeurismus erlaubt noch | |
Katharsis, das einem vollständig und nachhaltig die Seele ramponiert. | |
## Flucht aus dem Bordell | |
Kukolka, das ist das ukrainische Wort für Püppchen. Eigentlich heißt das | |
Mädchen, um das es geht, Samira. Sie erzählt, das erfährt man erst spät, | |
ihre Geschichte als Fünfzehnjährige. Da ist sie gerade aus dem Bordell | |
geflüchtet, in dem sie versklavt wurde – zur Tochter einer | |
Zufallsbekanntschaft, deren Adresse sie sich gemerkt hat und die eine gute | |
Ärztin kennt. | |
Samiras Erinnerungen beginnen in einem Heim, sie ist ungefähr fünf Jahre | |
alt, es ist das Jahr 1993. Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind, und sie | |
hat keinen Kontakt zur Außenwelt. Vom Heimpersonal wird sie als Zigeunerin | |
beschimpft, geschlagen, gequält. All das erscheint ihr ebenso | |
selbstverständlich wie unvermeidlich. | |
Als dann aber die beste Freundin von deutschen Eltern adoptiert wird, haut | |
das siebenjährige Mädchen ab und wird am Bahnhof von Rocky aufgelesen. | |
Rocky fährt einen roten Alfa Romeo, nimmt Straßenkinder in seinem Haus auf | |
und lässt sie für sich betteln, wenn sie ihn nicht gerade befriedigen | |
müssen. | |
Mit dem Wissen um das, was Samira später noch passieren wird, erscheint er | |
wie ein weichherziger Waschlappen. | |
Im völlig baufälligen und verdreckten Haus Rockys, wo es weder Strom noch | |
warmes Wasser gibt, freundet sich Samira mit den älteren Mädchen Lydia und | |
Dascha an. Beide krepieren sinnlos – die eine an der Abtreibung des Kindes, | |
das ihr Rocky gemacht hat, die andere wird in Samiras Anwesenheit von einem | |
Beklauten zuerst vergewaltigt und dann erschossen. | |
## Dima, das Monster | |
Mit zwölf schließlich begegnet Samira Dima, dem schönsten Mann mit der | |
hellsten Haut und der teuersten Wohnung. Dima, der Machtmensch, das | |
ungeheuerliche Monster, macht Samira mit ihrem Körper bekannt, und dann | |
bringt er sie auch noch nach Deutschland, ins gelobte Land, in dem einst | |
die beste Freundin verschwand. Man weiß, was sie erwartet. Man weiß es | |
durch die Art, wie Dima sie rasiert und zu einer käuflichen Lolita | |
umgestaltet – man weiß es auch schon dadurch, wie er seine Jeans | |
zusammenlegt, bevor er sich zu ihr legt. | |
Am Ende ihrer furchtbaren Odyssee wacht Samira in einem gelben Berliner Bus | |
auf und schaut an sich runter. Sie kann kaum sitzen vor Schmerzen. Aber „in | |
meinem Körper war nicht genug Platz für den Schmerz. Es floss aus allen | |
Öffnungen raus. Tränen, Rotz, Blut, Scheiße. Scheiße tröpfelte ständig, | |
weil sie mein Po-Loch ausgeleert und in Fetzen zerrissen hatten“. | |
Es wäre gemein, zu verraten, ob am Ende alles zumindest besser werden kann, | |
wie man bis fast zum Ende nicht aufgeben will zu hoffen. Aber das darf man | |
schon preisgeben: In einem Interview hat sich Lana Lux die Fortsetzung der | |
Geschichte Samiras ausgemalt, und diese Fortsetzung ist vielsagend. „Samira | |
studiert Gesang, bekommt auch Engagements, aber sie funktioniert nicht im | |
gutbürgerlichen Leben. Sie lernt einen Typen kennen, der misshandelt sie, | |
im Krankenhaus stellt man fest, dass sie HIV-positiv und schwanger ist. Sie | |
treibt das Kind ab und findet ihren Seelenfrieden in einem Kloster in | |
Russland.“ | |
Lana Lux, das ist vielleicht auch noch interessant zu wissen, wanderte 1996 | |
im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling aus der | |
Ukraine nach Deutschland aus. Für den ersten Teil, sagt sie, musste sie | |
nicht viel recherchieren, denn sie konnte sich noch gut erinnern an die | |
Bilder von bettelnden Straßenkindern in ihrer alten Heimat. Für den zweiten | |
Teil hat sie viel geforscht: Auch das macht ihren Roman so spannend. | |
Denn es ist selten, dass sich Autoren mit Biografien wie Lana Lux in ihrem | |
Debüt nicht zuerst einmal auf die Suche nach den eigenen Wurzeln begeben. | |
17 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
## TAGS | |
Ukraine | |
Sexarbeit | |
Kinderheim | |
Roman | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Roman | |
Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Literatur in Berlin: „Wie kann Leben unpolitisch sein?“ | |
Im Rahmen der Reihe „Das Literarische ist politisch“ spricht die | |
Schriftstellerin Lana Lux über Unabhängigkeit und den Krieg in der Ukraine. | |
Krieg in der Ukraine: „Hat Putin Kinder?“, fragt meine Tochter | |
Die Autorin Lana Lux zog 1996 als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland | |
und begann, sich vor ihrem Geburtsland Ukraine zu fürchten. Das hat sich | |
nun geändert. | |
„Jägerin und Sammlerin“ von Lana Lux: Was die Körper erzählen | |
Eine Geschichte vom Aufwachsen in der Fremde, Bulimie und einer schwierigen | |
Mutter-Tochter-Beziehung. All das vereint Lux in ihrem zweiten Roman. | |
Bürgermeister in der Ukraine: Fast wie bei Dostojewski | |
Michel Tereschtschenko baut wieder auf, was zerstört wurde. Seine | |
Urgroßeltern wurden in der Ukraine reich, sie stifteten viel, bis Lenin sie | |
vertrieb. |