# taz.de -- Queeres Leben in der Ukraine: „Nach dem Krieg wird es schlimmer“ | |
> Wadim Jakowlew ist queer und Autor*in. Ein Gespräch, wie Queers den Krieg | |
> in der Ukraine erleben und wie eine Zukunft aussehen könnte. | |
Bild: Die Kyiw Pride im Juni 2019 | |
taz: Wo sind Sie gerade? Und wie geht es Ihnen? | |
Wadim Jakowlew: Ich bin in Lwiw, das ist im Moment die sicherste größere | |
Stadt in der Ukraine. Viele Menschen aus anderen Städten flüchten gerade | |
hierher, um hierzubleiben oder weiter nach Polen, Rumänien, Ungarn oder | |
Deutschland zu fliehen. Mir geht es so weit gut, ich versuche | |
Zivilist*innen zu helfen, die vor dem Krieg flüchten, und organisiere | |
Unterkünfte für sie. Aber ich mache mir große Sorgen um meine Familie. | |
Meine Verwandten wohnen im Süden des Landes, der gerade ein wichtiges | |
Angriffsziel für Putin ist. Ich hoffe, meine Familie kann die Ukraine | |
verlassen. | |
Im Moment dürfen [1][Männer im kampffähigen Alter die Ukraine nicht | |
verlassen]. Das betrifft auch queere Menschen wie Sie, die sich nicht als | |
männlich identifizieren, aber laut Pass männlich sind. | |
Laut Gesetz haben in Kriegszeiten nur Frauen und Kinder das Recht, das Land | |
zu verlassen. Für trans und nichtbinäre Personen, bei denen „männlich“ im | |
Pass steht, ist das ein großes Problem. Ich weiß, dass einige trans und | |
nichtbinäre Menschen versuchen, das Land illegal zu verlassen, was sehr | |
gefährlich ist. Es ist so, dass wir als queere Menschen auf staatlicher | |
Ebene quasi nicht existieren, unsere Probleme sind der Regierung und dem | |
Großteil der Bevölkerung egal. | |
Für queere Menschen war es schon vor dem Krieg nicht leicht in der Ukraine, | |
sie haben mit Diskriminierung und Marginalisierung zu kämpfen. Bedeutet | |
das, dass auch jetzt während des Krieges queere Menschen es schwerer haben | |
als andere? | |
Ja, die Ukraine ist ein sehr konservatives Land. In einer Extremsituation | |
wie dem Krieg denken nur wenige daran, wie es Minderheiten geht. Die | |
meisten sehen uns nicht und wollen uns auch nicht sehen. Für sie sind wir | |
Bürger*innen zweiter Klasse. Es gab den Fall, dass ein trans Mann in | |
einem Luftschutzkeller Schutz suchen wollte, aber seine Nachbarn haben ihn | |
nicht reingelassen. Weil er trans ist. Und Rassismus ist auch ein Problem | |
in der Ukraine. Ich habe gelesen, dass die ukrainischen Grenzbeamten an der | |
Grenze zu Polen ukrainische Bürger*innen bevorzugt behandelt haben, | |
besonders die, die weiß sind. Schwarze Studierende wurden nicht | |
durchgelassen. Das schmerzt mich, ich habe erst vor ein paar Monaten einen | |
Artikel über eine schwarze Ukrainerin geschrieben, die hier geboren wurde. | |
Sie sagte, dass die Gesellschaft dabei ist, toleranter und weniger | |
rassistisch zu werden, aber es dauert. | |
Führt der Krieg nicht dazu, dass die Ukrainer*innen sich über die | |
Unterschiede hinweg als Gemeinschaft verstehen? | |
Es ist eine komplexe Situation, ich kann nicht sagen, dass das stimmt oder | |
nicht stimmt. Ich kann nur das berichten, was ich erlebt habe. Eine meiner | |
Freundinnen ist eine trans Frau. Sie war vor einigen Jahren in der Armee. | |
Als die Lage eskalierte und die Invasion begann, zog sie ihre Uniform an | |
und wollte zum Einberufungsbüro gehen. Auf der Straße wurde sie von | |
Zivilist*innen umringt, die dachten, sie wäre ein russischer Saboteur, | |
weil sie für sie aussah wie ein „Junge in Mädchenkleidern“. Diese | |
transfeindlichen Menschen ließen sie nicht durch und wollten ihre Papiere | |
sehen. Als sie ihren ukrainischen Pass zeigte, glaubten sie ihr immer noch | |
nicht. Die Polizei kam ihr zu Hilfe und sie konnte sich zur Armee melden. | |
Die anderen Soldat*innen haben sich ihr gegenüber tolerant verhalten. | |
Sie sehen sie als eine von ihnen, weil sie gegen Putins Armee kämpfen will. | |
[2][Wenn Putin Erfolg hat] und er die Ukraine zum Teil eines neuen | |
„Russischen Imperiums“ machte, würde das bedeuten, dass Homo- und | |
Transphobie zur Staatsräson würden und queere Ukrainer*innen nicht nur | |
unter russischer Besatzung leben müssten, sondern auch mit noch stärkerer | |
Diskriminierung zu kämpfen hätten. Aber auch ein Sieg der Ukraine würde die | |
Situation für LGBTQ-Personen im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg | |
wahrscheinlich nicht verbessern. Es könnte sich ein martialischer, | |
wahrscheinlich ziemlich queerfeindlicher Nationalismus ausbilden, oder? | |
Absolut. Es macht mich ziemlich traurig. Lassen Sie mich die spezifische | |
Situation erklären, in der wir uns befinden. Die Zivilgesellschaft in der | |
Ukraine ist eine Mischung aus Konservativen, Liberalen und Nationalisten. | |
Für die sind alle, die sich als links verstehen, Feinde oder „prorussisch“. | |
Dabei sind die meisten Linken gegen Putin, auch wenn es einige gibt, die | |
sich gegen die Nato und den westlichen Imperialismus aussprechen. Ich kenne | |
einige talentierte linke Wissenschaftler und Kulturschaffende, die das Land | |
verlassen mussten, weil sie in diesem nationalistischen Klima nicht | |
arbeiten konnten. Und was die queere Bewegung betrifft – die großen, | |
etablierten LGBTQ-Organisationen sind sehr patriotisch. | |
So ist es auch mit der feministischen Bewegung. Seit dem Maidan gibt es | |
zwar mehr Sichtbarkeit. Aber es sind vor allem die Stimmen von | |
privilegierten, weißen, gebildeten, großstädtischen Frauen und Queers, die | |
Gehör finden. Sie versuchen zwar, eine tolerante ukrainische Gesellschaft | |
aufzubauen, aber ich denke nicht, dass ihre rechtsliberale, patriotische | |
Haltung dazu beitragen wird. Wir haben jedes Jahr eine Pride-Parade, aber | |
den Umfragen zufolge hat sich an der Homophobie in der Gesellschaft kaum | |
etwas geändert, und an der Misogynie ebenso wenig. Ich denke, dass nach dem | |
Krieg die Situation noch schlimmer sein wird. | |
Gibt es in Ihren Augen irgendein Szenario, in dem queere Menschen in der | |
Ukraine in Zukunft ein besseres Leben haben könnten? | |
Zuerst einmal will ich, dass dieser Krieg endet und dass Putins Regime | |
fällt. Dann wären die Ukrainer*innen und die Russ*innen frei. Ob ich | |
eine optimistische Zukunftsvision für mein Land nach dem Krieg habe? Ich | |
weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. In meinem Debütroman „Wo das | |
Territorium beginnt“, der gerade ins Englische übersetzt wird, ging es mir | |
um die Frage, was uns im 21. Jahrhundert zu Menschen macht. Ich hoffe, dass | |
wir, wenn Putins Regime fällt, erfahren werden, was menschlich ist, und | |
darauf unser Leben aufbauen. Denn in meinen Augen hat die heutige Welt ihre | |
humanistische Vision verloren, die Idee davon, wer wir als Menschen sind. | |
Wir müssen humanistischer werden und Verantwortung für die Zukunft | |
übernehmen. | |
Gibt es irgendetwas, was Sie sich von den Menschen in Deutschland und | |
anderen Ländern wünschen? | |
Bitte, drängen Sie ihre Regierungen dazu, mehr Sanktionen gegen Putins | |
Regime zu verhängen! Bieten Sie den Ukrainer*innen humanitäre Hilfe an | |
und helfen Sie dabei, in Ihren Ländern Arbeit und ein Zuhause für | |
diejenigen zu finden, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind. | |
4 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Norma Schneider | |
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