# taz.de -- Protokoll einer Flucht aus der Ukraine: Der Sound des Krieges | |
> Viele Menschen in der Ukraine wurden vom Angriff der russischen Armee | |
> überrascht. Protokoll einer überstürzten und gefährlichen Flucht. | |
Bild: Flüchtlinge aus der Ukraine kommen am 28. Februar am Budapester Bahnhof … | |
Als ich am 22. Februar, zwei Tage vor Beginn des russischen Überfalls auf | |
die Ukraine, nach Kiew kam, um einen Vortrag zu den Forschungsergebnissen | |
einer Mediennutzungsanalyse vorzubereiten, die ich im Auftrag der | |
staatlichen ukrainischen Medienaufsicht erstellt hatte, war die | |
[1][Stimmung] noch entspannt. Die Menschen in meiner Umgebung rissen sogar | |
Witze und weigerten sich, überhaupt nur an die Möglichkeit des Krieges zu | |
denken. Sie versicherten mir, wie gut ich es hätte, da ich aus der | |
westukrainischen Stadt Ternopil komme. | |
Mit rund 200.000 Einwohner:Innen liege Ternopil doch in der sicheren | |
Provinz. Putin würde es niemals wagen, in den westlichen Teil der Ukraine | |
einzumarschieren, habe ich zu hören bekommen. Die Forschungsergebnisse | |
hätte ich dann zwei Tage später offiziell präsentieren sollen, im Beisein | |
von Regierungsvertreter:Innen. Am 23. Februar gab es noch ein feierliches | |
Dinner in einem Thai-Restaurant. | |
Frühmorgens um 5 Uhr am 24. Februar wurde ich von Granateinschlägen aus dem | |
Schlaf geschreckt. Ich wusste vorher gar nicht, wie Explosionen klingen. | |
Für ein Feuerwerk war der Lärm definitiv zu laut, das war mir sofort klar. | |
Ich weckte meinen Freund, um mich zu vergewissern. Wir informierten uns im | |
Internet und fanden so heraus, dass der Angriff gleichzeitig und neben Kiew | |
auch auf andere Regionen und Städte in der Ukraine erfolgte, inklusive des | |
Westteils des Landes. | |
## Zerstörung einer Brücke | |
Wir hatten großes Glück, dass wir Zugtickets erwerben konnten. Auf dem Weg | |
zum Kiewer [2][Hauptbahnhof] hörten wir erneut schweren Gefechtslärm. | |
Diesmal war das Ziel eine Brücke im historischen Viertel Podil, die | |
bombardiert wurde. Es klang [3][infernalisch]. Als wir im vermeintlich | |
sicheren Ternopil ankamen, hatten wir bereits so viel Angst, dass wir | |
lieber im Auto übernachteten. Wir hatten es strategisch in der Nähe eines | |
Luftschutzkellers geparkt, sollte es wieder zu Angriffen kommen. Ich | |
erinnere mich nicht daran, dass ich diese Entscheidung überhaupt in Frage | |
gestellt hätte. Als ich sie getroffen habe, war ich mir sicher, dass es so | |
am besten sein würde. | |
Meine Erlebnisse in den Tagen seit Beginn des russischen Angriffskrieges | |
gegen mein Land schreibe ich von einem Hotelzimmer in Budapest aus. Dorthin | |
habe ich mich nach 16-stündigem Warten an der ungarisch-ukrainischen Grenze | |
in Sicherheit bringen können. Die Flucht ist geglückt, aber noch nicht zu | |
Ende. | |
Ich glaube, ich bin nützlicher für die Menschen in der Ukraine, wenn ich | |
aus der sicheren Entfernung berichte. Zugleich fühle ich mich schuldig, | |
dass ich die Menschen, die in Kiew und anderswo in Bunkern ausharren | |
müssen, zurückgelassen habe. Ich sorge mich um meine Eltern und weitere | |
Verwandte von mir. Am liebsten möchte ich sofort [4][in die Ukraine] | |
zurückkehren, aber zu Hause ist es zu gefährlich. | |
Überflüssig zu erwähnen, dass mein Vortrag am 24. Februar abgesagt wurde. | |
Von Putin persönlich, wie ein Kollege von mir im Scherz geschrieben hatte. | |
Über viele Jahre habe ich als Beraterin für Menschenrechtsorganisationen | |
gearbeitet, die dem Frieden verpflichtet sind. Ich frage mich, ob ich nun | |
damit aufhören soll und stattdessen darüber nachdenken muss, wie Frieden | |
überhaupt erreicht werden kann? | |
Oksana Lemishka arbeitete vor ihrer Flucht als Medien- und Kultursoziologin | |
in Kiew. | |
Aus dem Englischen von Julian Weber | |
3 Mar 2022 | |
## LINKS | |
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[4] /Eindruecke-aus-Charkiw/!5838920 | |
## AUTOREN | |
Oksana Lemishka | |
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