| # taz.de -- Völkerrechtler über russische Invasion: „Gesamter Krieg ist rec… | |
| > Den Haag, Straßburg, die deutsche Justiz: Es gibt viele Möglichkeiten, | |
| > Russland juristisch zu verfolgen, sagt der Völkerrechtler Christian | |
| > Marxsen. | |
| Bild: Eine Frau weint am Mittwoch vor ihrem zerstörten Haus in der Nähe von K… | |
| taz: Herr Marxsen, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine war das | |
| öffentliche Urteil klar: Es handelt sich um einen Angriffskrieg. Was heißt | |
| das für die Strafbarkeit der Verantwortlichen? | |
| Christian Marxsen: Der Begriff Angriffskrieg findet sich in der deutschen | |
| Verfassung, das Völkerrecht kennt ihn allerdings so nicht, sondern spricht | |
| von „Aggression“. Seit 2018 kann das Verbrechen der Aggression vor dem | |
| Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verfolgt werden. Allerdings | |
| bestehen hier enge Grenzen für die Zuständigkeit des Gerichts. Diese | |
| Voraussetzungen sind im Falle der derzeitigen russischen Aggression | |
| [1][nicht gegeben]. Das heißt nicht, dass nicht andere Straftaten verfolgt | |
| werden können, wie etwa Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit. | |
| Wann liegen diese vor? | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind systematische und schwerwiegende | |
| unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung. Ein Kriegsverbrechen ist zum | |
| Beispiel, wenn Angriffe bewusst auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet | |
| werden. | |
| Wenn aber der ganze Krieg das Völkerrecht verletzt, ist es trotzdem darin | |
| erlaubt, ukrainische Soldaten zu töten, sofern man die Zivilbevölkerung | |
| verschont? | |
| Nein, der gesamte Krieg ist ja rechtswidrig, da er gegen das | |
| völkerrechtliche Gewaltverbot verstößt, aber das wäre kein Fall für Den | |
| Haag. Ein juristischer Ansatz könnten die Menschenrechte derjenigen sein, | |
| die im Krieg verletzt und getötet werden. Da der gesamte Krieg rechtswidrig | |
| ist, besteht kein rechtmäßiger Grund für die Einschränkung des Rechts auf | |
| Leben. | |
| Wenn Den Haag nicht zuständig ist – wer dann? | |
| In Frage käme etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Der ist | |
| allerdings sehr restriktiv, was seine Zuständigkeit angeht, wenn ein Staat | |
| außerhalb seines Territoriums handelt, insbesondere bei kriegerischen | |
| Auseinandersetzungen. Im Fall des russischen Angriffs auf Georgien 2008 hat | |
| er etwa die eigene Zuständigkeit sehr eng ausgelegt. | |
| Familien getöteter ukrainischer Soldaten könnten also womöglich nirgendwo | |
| gegen Russland klagen? | |
| Das könnte leider der Fall sein. | |
| Wer wäre, wenn man an die möglichen Strafverfahren wegen des Angriffs auf | |
| die Ukraine denkt, konkret zu belangen? | |
| Grundsätzlich alle Beteiligten, von den Spitzen der politischen | |
| Befehlskette bis zum untersten Soldaten, der den Abzug drückt. Allerdings | |
| hat das Strafrecht hohe Anforderungen an Täterschaft und Schuld. Man muss | |
| diese konkret nachweisen. Im Falle von Kriegsverbrechen könnte eine | |
| Schwierigkeit darin bestehen, den politisch Verantwortlichen nachzuweisen, | |
| dass sie zum Beispiel Angriffe auf die Zivilbevölkerung angeordnet haben. | |
| Der Internationale Gerichtshof hat auf Antrag der Ukraine schon für | |
| kommende Woche eine Anhörung in einem Verfahren gegen Russland wegen | |
| „Genozid“ angesetzt. Was ist da zu erwarten? | |
| Dieses Verfahren findet vor dem Internationalen Gerichtshof statt, dem | |
| obersten Gericht der Vereinten Nationen. Hier geht es nicht um eine | |
| Strafbarkeit von Individuen. Vielmehr geht es um die Völkermordkonvention – | |
| ein völkerrechtlicher Vertrag zur Verhinderung von Genoziden. Die Ukraine | |
| wendet sich dagegen, dass Russland die Ukraine unter dem Vorwand der | |
| Verhinderung eines Genozides an den Bewohnern der Regionen Donezk und | |
| Luhansk angegriffen hat. Die Argumentation der Ukraine ist juristisch | |
| innovativ und wir werden sehen, ob das Gericht ihr Folge leistet. | |
| Im Raum stehen Forderungen, auch in Deutschland Verfahren nach dem | |
| sogenannten Weltrechtsprinzip stattfinden zu lassen. Wie würden diese | |
| ablaufen? | |
| Auf dieser Grundlage können in Deutschland auch bestimmte Straftaten, etwa | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen verfolgt werden. | |
| Hier hat es bereits erfolgreiche Verfahren wegen staatlicher Folter in | |
| Syrien gegeben. Allerdings könnten diese Verfahren nicht gegen amtierende | |
| Staatsoberhäupter geführt werden. | |
| Am Mittwoch hat die [2][UN-Vollversammlung] den russischen Einmarsch in die | |
| Ukraine geächtet. Was bedeutet das für dessen juristische Verfolgung und | |
| mögliche Sanktionen? | |
| Auf eine juristische Verfolgung in Den Haag hat der Beschluss keine | |
| direkten Auswirkungen. Überhaupt ist die Resolution der UN-Vollversammlung | |
| rechtlich nicht bindend. Dennoch erfüllt sie eine wichtige Funktion. | |
| Welche denn? | |
| Sie markiert das russische Verhalten als klaren Völkerrechtsbruch. Andere | |
| Staaten können dann etwa Gebietsänderungen durch eine mögliche Annexion von | |
| Donezk und Luhansk durch Russland nicht so einfach anerkennen – sie würden | |
| damit dann selbst einen Völkerrechtsbruch begehen. Die Schwierigkeit ist | |
| allerdings, dass die Feststellung eines Völkerrechtsbruchs noch nicht dazu | |
| führt, dass dieser auch beseitigt wird. Eine Durchsetzung des Rechts | |
| erfolgt im Völkerrecht als einer sogenannten dezentralen Rechtsordnung | |
| vielmehr im Wege von Sanktionen. Sie sollen den Rechtsbrecher zum Einlenken | |
| bewegen. Dafür sind die UN-Mitgliedsstaaten selbst verantwortlich. | |
| Die aber dafür von der UN ermächtigt sein müssen? | |
| Nicht zwingend. Es ist zwar eigentlich die Idee der UN, dass der | |
| Sicherheitsrat auch Zwangsmaßnahmen zur Friedenswahrung oder | |
| -wiederherstellung ergreift. Aber auch die einzelnen Staaten können | |
| handeln, wenngleich hier viele Details juristisch umstritten sind. | |
| Eigentlich wäre der UN-Sicherheitsrat zuständig gewesen. Dort aber hat | |
| Russland ein Veto gegen eine Verurteilung eingelegt. Ist es denkbar, | |
| Russland aus dem Gremium auszuschließen? | |
| Nein. In der UN-Charta steht Russland gar nicht drin, sondern die UdSSR. | |
| Nach deren Auflösung hat Russland für sich die Rechtsnachfolge beansprucht | |
| und den Sitz übernommen. Bereits 2014 wurde in der Ukraine die Frage | |
| aufgeworfen, ob Russland den Sitz überhaupt behalten durfte. Das war aber | |
| etwas spät, da es schon eine langjährige Praxis gab. Einen Beschluss zur | |
| Neufassung der Charta, mit einem Sicherheitsrat ohne Russland, kann | |
| satzungsgemäß die UN-Vollversammlung nicht allein treffen. Es braucht die | |
| Zustimmung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, zu denen auch | |
| Russland gehört. Man würde das Land also nur durch eine komplette | |
| Neugründung einer Organisation ausschließen können. | |
| Einige der sanktionierten russischen Oligarchen wollen das Einfrieren ihrer | |
| Vermögen anfechten. Wie könnten sie das tun? | |
| Bei Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gibt es eine Ombudsperson, bei der | |
| die Rechtmäßigkeit überprüft werden kann. Gegen die Oligarchen wurden aber | |
| EU-Sanktionen verhängt. Hier wären erst einmal die mitgliedsstaatlichen | |
| Gerichte anzurufen und auch der Europäische Gerichtshof sowie | |
| gegebenenfalls der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. | |
| Warum der? | |
| Als Individuen könnten sie sich auf das Menschenrecht berufen, also auf | |
| Verletzung ihres Rechts auf Eigentum. Das wäre angesichts der politischen | |
| Lage kaum zielführend. Das öffentliche Interesse, den Krieg zu stoppen, | |
| überwiegt hier klar. | |
| Was ist mit den Betreiberfirmen von Nord Stream 2, die durch den Stopp wohl | |
| Milliarden verlieren? | |
| Dabei handelt es sich nicht um eine Sanktion im strengen Sinne, denn es | |
| gibt keine völkerrechtliche Pflicht Deutschlands, die Zertifizierung | |
| abzuschließen. Hier ist vor allem das Vertragsrecht berührt. Die Frage ist | |
| da, ob der Staat den Firmen Schadenersatz leisten muss. Das wird derzeit | |
| geprüft. | |
| Der Westen hat ja auch russisches Staatsvermögen und Privatvermögen von | |
| Regierungsmitgliedern eingefroren. Dürfte er dieses als eine Art Reparation | |
| an die Ukraine auszahlen? | |
| Nein, der Umstand, dass Gelder als Sanktion eingefroren werden, ermächtigt | |
| nicht dazu, diese dann auch zu verteilen. | |
| 4 Mar 2022 | |
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| Christian Jakob | |
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