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# taz.de -- Kriegsverbrechen in der Ukraine: Straflosigkeit ist keine Option
> Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt. Politiker und Juristen
> fordern ein Sondertribunal, um Putin wegen „Aggression“ anzuklagen.
Bild: Im Norden von Kiew am 17. März: Ein Anwohner steht neben den Überresten…
BERLIN taz | Es dauerte nur zwei Tage, da hatten bereits 750.000 Menschen
unterschrieben. Die Staatenlenker der Welt, so der Aufruf „Bringt Putin vor
Gericht“, sollten „Putin und seine Komplizen persönlich für ihre illegale
Invasion in die Ukraine zur Verantwortung ziehen, indem sie ein neues
Tribunal zur Verfolgung des Verbrechens der Aggression einrichten“.
Hinter der am 14. März lancierten [1][Petition] für ein internationales
Ukraine-Sondertribunal, die mittlerweile fast 1,4 Millionen Unterstützer
weltweit gesammelt hat, steckt der französisch-britische Jurist Philippe
Sands aus London. Am vergangenen Wochenende schlossen sich 140 prominente
Persönlichkeiten aus aller Welt öffentlich an.
„In Nürnberg haben wir die Nazikriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen –
acht Jahrzehnte später müssen wir sicherstellen, dass es für Putin einen
Tag der Abrechnung gibt“, schrieb der ehemalige Labour-Premierminister
[2][Gordon Brown]: „Aggression ist Putins Urverbrechen: die Planung,
Initiierung und Verfolgung einer Politik, eine Invasion in die Ukraine zu
erklären und durchzuführen.“
Ein internationales Sondertribunal für die Ukraine scheint utopisch, aber
das waren alle Sondertribunale, bis es sie gab, von Nürnberg ab 1945 bis zu
Den Haag (Exjugoslawien) und Arusha (Ruanda) ab 1995. Laut Sands wurden
bereits Kontakte zu möglichen Chefanklägern geknüpft. Er hoffe auf eine
förmliche Anklageerhebung gegen Russlands Präsidenten „bis Juni“, sagte er
der französischen Zeitung Le Monde.
Der Aufruf ergänzt die Ukraine-Ermittlungen des [3][Internationalen
Strafgerichtshofs] (ICC), die am 2. März eingeleitet wurden. Als Erstes
werde ein Team aus Den Haag in die Ukraine reisen, um Fragen der
Beweissicherung zu besprechen, gab Chefankläger Karim Khan bekannt. „Es
besteht die begründete Annahme, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit in der Ukraine begangen worden sind“, sagte Khan und
betonte, es gehe um Verbrechen aller Seiten in der gesamten Ukraine.
Ermittlungen im Kriegsgebiet
Zwar sind weder die Ukraine noch Russland dem Rom-Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) beigetreten. Doch bereits 2014 und
2015, nach der russischen Besetzung der Krim und Teilen des Donbass, hatte
die Ukraine die Zuständigkeit des ICC für sein Staatsgebiet anerkannt –
erst für den Zeitraum der Maidan-Proteste und der Revolution 2013/14, dann
für den gesamten Zeitraum seitdem.
Auf dieser Grundlage forderten am 2. März 39 Staaten, darunter auch
Deutschland, den ICC auf, in der Ukraine tätig zu werden – inzwischen sind
es 41. Noch am selben Tag gab Khan die Aufnahme von Ermittlungen bekannt.
Es ist das erste Mal, dass das Weltgericht in einem laufenden
zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt ermittelt – sonst ging es bisher
immer um innerstaatliche Bürgerkriege nach deren Abschluss beziehungsweise
in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum.
Dass Russland in der Ukraine gezielt zivile Ziele angreift, steht anhand
der Horrorbilder aus Mariupol und anderswo außer Frage. Die wenigen von
Russland veröffentlichten Luft- und Satellitenaufnahmen von erfolgreichen
Angriffen auf militärische Ziele zeigen, dass Russland seine Angriffsziele
präzise identifiziert und ortet.
Der britische Parlamentsabgeordnete [4][John Mercer], ehemaliger Soldat bei
den britischen Spezialkräften in Afghanistan, schrieb vergangene Woche nach
einem Besuch in der Ukraine: „Ich war mal ein Zielsucher; es war mein Job.
Die Marschflugkörper, die nach Kiew hineinfliegen, streifen nicht
Hochhäuser auf dem Weg zu einer geheimen ukrainischen militärischen
Einrichtung. Sie treffen ihr Ziel: unten in der Mitte des Wohnblocks, oft
direkt durch die Haustür. Das sind keine Irrtümer. Es ist das absichtliche
Zielen auf Zivilisten in ihren Wohnungen.“
Der syrische Bürgerkrieg war der Erste der Welt, in dem Kämpfe und Angriffe
in Echtzeit im Internet verfolgt und dokumentiert wurden. Was als
amateurhafte Videoaktivität von „Bürgerjournalisten“ begann, entwickelte
sich zu einer hochprofessionellen, weltweit vernetzten Industrie der
Verifizierung, Archivierung und Auswertung von Open-Source-Materialien.
Führend ist das [5][britische Recherchezentrum Bellingcat], das jetzt mit
einer Onlinedokumentation, „Mapping Incidents of Civilian Harm in Ukraine“,
mit Anleitungen zum Umgang mit Recherchematerial begonnen hat.
Die BBC-Investigativjournalistin [6][Manisha Ganguly] hat aufgelistet,
wonach man hauptsächlich sucht: „Angriffe auf Zivilisten und zivile
Infrastruktur, die nicht für militärische Zwecke verwendet wird; Angriffe
auf geschützte Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen; gewisse
Angriffsarten wie der ‚Doppelschlag‘, der auf Ersthelfer zielt; Einsatz
bestimmter verbotener Waffen wie Streumunition; Schändung der Leichen
gegnerischer Kämpfer oder die Verweigerung einer Chance zur Kapitulation;
Schändung ziviler Leichen; sexualisierte Gewalt im Konflikt; Plünderung;
Folter; Einsatz von Kindersoldaten; Einsatz chemischer oder biologischer
Waffen.“
Solche Beweise zu sammeln ist hoch riskant. Die Einschaltung des ICC bietet
dafür die nötige Motivation. Mehrere nationale Behörden, unter anderem die
Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, haben ebenfalls Ukraine-Ermittlungen
angekündigt.
Die meisten Verfahren scheitern
Bisherige Erfahrungen mit Prozessen gegen Kriegsverbrechen zeigen: Am
einfachsten gelingt eine Verurteilung bei einer direkten Tatbeteiligung. Je
weiter der Beschuldigte von der Tat entfernt ist, desto schwieriger ist es,
ihm Verantwortung und Schuld nachzuweisen. In der Realität sind die
höchstrangigen mutmaßlichen Täter am weitesten von den konkreten Taten
entfernt. Deswegen scheitern die meisten Verfahren gegen Staatschefs oder
hohe Generäle manchmal, noch bevor es überhaupt zum Prozess kommt.
Aus dieser Überlegung entstand die Initiative, neben dem ICC ein
Sondertribunal einzurichten. Russlands Präsident wegen des Angriffskriegs
anzuklagen, ist einfacher, als russische Militärkommandanten für einzelne
Verbrechen innerhalb dieses Krieges zur Rechenschaft zu ziehen. Auch ist
eine solche Anklage nur außerhalb des ICC möglich, da dieser Russland als
Nichtmitglied nicht wegen eines Angriffskrieges belangen kann.
Ob ein Sondertribunal der erfolgversprechendere Weg ist, bleibt offen.
Einig sind sich alle Beteiligten jedenfalls über eins: Russlands Krieg
gegen die Ukraine darf nicht straflos bleiben.
23 Mar 2022
## LINKS
[1] https://secure.avaaz.org/campaign/de/prosecute_putin_loc/
[2] https://www.dailymail.co.uk/news/article-10629047/For-Putin-pariah-justice-…
[3] https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=20220228-prosecutor-statement-…
[4] https://www.telegraph.co.uk/world-news/2022/03/18/johnny-mercer-ukraine-war…
[5] https://www.bellingcat.com/news/2022/03/17/hospitals-bombed-and-apartments-…
[6] https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/news/15-tips-investigating-war-c…
## AUTOREN
Dominic Johnson
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Kriegsverbrechen
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