# taz.de -- Lesen für die Ukraine: Solidarität mit Kiew | |
> Das Gorki Theater lud zu einer Lesung. Denn Literatur kann helfen, der | |
> eng verzahnten Geschichte der Ukraine und Russlands näherzukommen. | |
Bild: Demonstration für Frieden in der Ukraine: Szene vor dem Berliner Branden… | |
BERLIN taz | Was können die Künste gegen den Krieg ausrichten? Hilft Kultur | |
gegen Gewalt? Ein winziges bisschen? | |
Beispiel eins: Für den vergangenen Freitagabend hat der Berliner | |
Landesmusikrat zum Anti-Kriegs-Musizieren vor dem Brandenburger Tor | |
aufgerufen. Die Menge, die den Pariser Platz füllt, wird später in den | |
Medien mit 3.500 Menschen angegeben. Wir schreiben Tag zwei des russischen | |
Überfalls auf die Ukraine. | |
Berlins Kultursenator Klaus Lederer ist da. Und sagt, er sei „froh“, dabei | |
zu sein, und froh, an einer Mahnwache [1][von Memorial] teilgenommen zu | |
haben, und noch über zwei weitere Aktionen froh. Dieses verbale Übermaß an | |
Frohsinn zeigt geradezu schmerzhaft, wie schwer es ist, eine angemessene | |
Sprache für das zu finden, was gerade passiert und was die hier | |
versammelten Menschen vereint. Es ist Krieg, und sie wollen nicht nur | |
zusehen, sondern in der allgemeinen Hilflosigkeit irgend etwas tun – und | |
wenn es nur gemeinsames Singen ist. | |
Nach Lederer kommt eine Ukrainerin ans Mikro, die vor Schluchzen kaum | |
sprechen kann und verzweifelt ruft, sie könne jetzt nicht singen, und sie | |
wisse nicht, ob sie es jemals wieder können werde. | |
Die 3.500 Personen auf dem Platz aber können es noch. Durch ihre | |
Gesichtsmasken hindurch intonieren sie „Sag mir, wo die Blumen sind“ und | |
bescheren zumindest sich selbst und den paar anwesenden Reportern, wie | |
diese später schreiben, „Gänsehautmomente“. Man kann das natürlich kitsc… | |
finden. Auch ein ukrainisches Volkslied ist mit ins Programm genommen | |
worden. Es heißt „Der grüne Kirschbaum“, ist ein wirklich schönes Lied, … | |
die ukrainische Vorsängerin macht ihre Sache ganz fabelhaft. | |
## Die ukrainische Kultur feiern | |
Da der offizielle Grund für Putins Krieg im Grunde auf der Behauptung | |
basiert, dass eine ukrainische Kultur nicht existiere, muss das Gebot der | |
Stunde jetzt ohnehin lauten, sie zu jeder Gelegenheit zu feiern. Aber | |
gleichzeitig muss ebenso gelten, die Nähe und den Austausch zwischen | |
verwandten Kultur- und Sprachräumen zu bewahren, ohne eines über das andere | |
zu stellen oder politisch zu instrumentalisieren. Nur: was, wenn der Wille | |
dazu ungleich verteilt ist? | |
Beispiel zwei: Am Samstagnachmittag sind im Maxim Gorki Theater in Berlin | |
viele Menschen zu einer außerordentlichen literarischen Lesung | |
zusammengekommen. Die Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe und die | |
[2][Übersetzerin Olga Radetzkaja] haben eine große Runde von Menschen des | |
Wortes zusammengetrommelt, um sie Texte von KollegInnen aus der Ukraine, | |
Russland und Belarus lesen zu lassen. Drei nah verwandte Sprachen, drei eng | |
verzahnte Kulturräume, dreimal immense gesellschaftspolitische | |
Verwerfungen. Katharina Raabe benennt die Situation in Russland sehr | |
deutlich, als sie in ihrer Einleitung sagt: „Lügenpropaganda hat sich in | |
die Hirne und auch die Herzen der russischen Gesellschaft gefressen.“ | |
So hart das klingt, wird später am Abend Durs Grünbein, vor seiner Lesung | |
von Gedichten der Russin Maria Stepanova, doch eine ähnliche Aussage | |
formulieren. Zwar sagt er, es gelte eine wichtige Unterscheidung zu | |
treffen: „zwischen Russland und Putinland“. Spontaner Applaus erklingt. | |
Dann fährt er fort: „Ich hoffe, wir können diese Unterscheidung noch lange | |
halten.“ | |
Viel Vertrauen in die russische Zivilgesellschaft als potenzielles | |
Korrektiv einer wahnsinnigen politischen Führung, so viel ist klar, gibt es | |
hier im Saal nicht. Nora Bossong wiederum nutzt zu Beginn ihres Leseparts | |
die Gelegenheit, die deutsche Zivilgesellschaft zu ermahnen, die momentan | |
gezeigte Solidarität auch über die nächsten Wochen aufrechtzuerhalten. | |
## Zuflucht zu Texten, Zuflucht im Hochhauskeller | |
Den stärksten Auftritt des Nachmittags legt der Älteste in der Runde hin, | |
[3][der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel], der neben dem Lesetisch stehen | |
bleibt, kämpferisch Haltung annimmt und ein herzhaftes „Slava Ukraini!“ in | |
den Saal schmettert, das in Call-and-Response-Manier von einzelnen Stimmen | |
aus dem Publikum beantwortet wird. Doch Schlögel ist noch nicht fertig: | |
„Ehre den Toten! Ehre den Kämpfern und Kämpferinnen in den Straßen von | |
Kiew!“ ruft er. Mit den einigermaßen ernüchternden Worten „In diesem | |
Augenblick der Ohnmacht nehmen wir Zuflucht zu Texten“, nimmt er dann Platz | |
auf dem Lesestuhl, um eine Passage aus „Acht Tage Revolution“ des | |
[4][belarussischen Autors Artur Klinau] über den Minsker Aufstand | |
vorzutragen. Sie endet mit den Worten: „Wer in den Strom der Revolution | |
eingetreten ist, für den gibt es kein Zurück.“ | |
Fast alle gelesenen Texte sind dezidiert politisch, wenngleich nicht | |
unbedingt in derselben Art kämpferisch. Yurij Gurzhy liest aus dem | |
großartigen Antikriegsroman „Internat“ seines [5][Freundes Serhij Zhadan,] | |
der gerade wieder in Charkiw sei, genau wie im Übrigen Gurzhys eigene | |
Familie, die sich im Moment in einem Hochhauskeller im Bezirk Aleksejewka | |
aufhalte. | |
[6][Herta Müller liest einen Ausschnitt aus Swetlana Alexijewitschs | |
„Zinkjungen“] über die traumatisierten Afghanistan-Veteranen, womit sie | |
andeutungsweise ein mögliches künftiges Schicksal der jetzigen russischen | |
Soldaten vorwegnimmt. Julia Franck arbeitet sich durch einen [7][Text von | |
Alissa Ganijewa], in dem die junge Autorin eindrucksvoll die extreme | |
Spaltung der russischen Gesellschaft nach der Annexion der Krim beschreibt. | |
## Kalkül und Verrat | |
Er ist erschienen in der 2014 von [8][Juri Andruchowytsch herausgegebenen | |
Anthologie „Euromaidan“], deren Texte es jetzt noch einmal nachzulesen | |
lohnt. Zum politischen Engagement des Westens schreibt darin Mykola | |
Rjabtschuk: „Es herrscht die Realpolitik, und die feine Linie zwischen | |
angemessenem Kalkül und zynischem Verrat wird oft verwischt.“ | |
Unter den vielen Lektüreideen, die das Event bietet, sind etliche, denen | |
online sogar umsonst nachgegangen werden kann: Deniz Yücel etwa stellt das | |
sehr lesenswerte Tagebuch vor, das der Übersetzer Juri Durkot, derzeit in | |
Lemberg, seit Beginn des Krieges täglich auf welt.de führt. Max Czollek | |
liest aus „Der große Hunger und das lange Schweigen“, einen Text von | |
[9][Sasha Marianna Salzmann.] Er erinnert an den Holodomor (die große | |
Hungersnot während des Stalinismus) und spricht in sehr persönlichem Rahmen | |
von Schwierigkeiten bei der Definition einer ukrainischen kulturellen und | |
politischen Identität. | |
Klar ist nach dem zweieinhalbstündigen Dauerlesen jedenfalls: Vieles ist | |
furchtbar kompliziert. Zu verstehen warum, dabei zumindest kann die | |
Literatur vielleicht ein klein wenig helfen. | |
27 Feb 2022 | |
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[9] /Neuer-Roman-von-Sasha-Marianna-Salzmann/!5802720 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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