| # taz.de -- Ehrung für russische Autorin: Lyrikerin in dunklen Zeiten | |
| > Die russische Schriftstellerin Maria Stepanova lebt im Exil in Berlin. | |
| > Zur Leipziger Buchmesse bekommt sie den Preis zur Europäischen | |
| > Verständigung. | |
| Bild: Sie steht für ein nicht-imperiales Russland: Lyrikerin Maria Stepanova | |
| Die russische Sprache sei in diesen Zeiten „ein Minenfeld“, hat Maria | |
| Stepanova in einer ersten Reaktion auf den Erhalt des „Leipziger | |
| Buchpreises zur Europäischen Verständigung“ gesagt. Dass ausgerechnet einer | |
| russischen Schriftstellerin solch eine Ehre widerfährt – der Preis wird ihr | |
| zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 26. April verliehen -, könnte in | |
| der jetzigen Atmosphäre tatsächlich gewisse Irritationen hervorrufen. | |
| Doch gerade mit Maria Stepanova wird eine Autorin ausgezeichnet, die für | |
| das andere Russland steht, für ein „nicht-imperiales Russland“, wie es in | |
| der Begründung der Jury heißt, und vor allem wird damit auch ein Zeichen | |
| für die Dichtung selbst gesetzt: Die 1972 geborene Maria Stepanova gehört | |
| zweifellos zu den gewichtigsten literarischen Stimmen überhaupt in der | |
| Gegenwart. | |
| In erster Linie ist sie Lyrikerin, mit einer vieldeutigen, sich | |
| vorantastenden Sprache voll karger Bilder, die in erster Linie | |
| Gedichtzyklen verfasst, also thematische Zusammenhänge in unterschiedlicher | |
| Weise umkreist und damit transparent macht. Die größte internationale | |
| Aufmerksamkeit erhielt sie aber für ihren Roman „Nach dem Gedächtnis“, der | |
| im Original 2017 und auf Deutsch 2018 erschienen ist. | |
| Sie untersucht hier die Geschichte ihrer Familie im 20. Jahrhundert und | |
| bricht schon allein dadurch mit einer spezifischen Tradition, denn sie | |
| schreibt: „Meine Großmütter und Großväter hatten einen beträchtlichen Te… | |
| ihrer Energie darauf verwendet, unsichtbar zu bleiben. Möglichst | |
| unauffällig zu werden, im häuslichen Dunkel unterzutauchen, sich abseits zu | |
| halten von der Weltgeschichte (…)“ – Stepanovas Roman ist das genaue | |
| Gegenteil. Ihre assoziative und mehrdimensionale Schreibweise bedeutet | |
| einen Akt des Widerstands und eine Auflehnung gegen das Schicksal, zumal | |
| des russisch-jüdischen in den letzten hundert Jahren. | |
| ## Sehnsucht nach Weltliteratur | |
| Dass die Literatur ein Gegenpotenzial bildet, hat in Russland eine lange | |
| Tradition. Stepanova bezieht sich aber in ihren intertextuellen | |
| Sprachgeweben nicht nur auf die russische Literatur, sondern schöpft aus | |
| dem Fundus vieler Sprachen und aktueller westlicher Autoren, sie zitiert | |
| neben Puschkin und Zwetajewa auch Dante oder Anne Carson. Damit löst sie | |
| jene „Sehnsucht nach Weltliteratur“ ein, von der [1][ihr Landsmann Ossip | |
| Mandelstam] gesprochen hat und der für sie einen ständigen Anknüpfungspunkt | |
| darstellt. | |
| Es war kein Zufall, dass Maria Stepanova zu einem kleinem Podiumsgespräch | |
| eingeladen war, das der Bundespräsident aus Anlass des 100. Geburtstags von | |
| Paul Celan im Schloss Bellevue veranstaltete. Sie zitierte dabei ein | |
| Gedicht Celans über Mandelstam, in dem die Zeile „Verloren war unverloren“ | |
| auftaucht, und sie sprach auch über ihr eigenes poetisches | |
| Selbstverständnis, wenn sie sagte, dass „das Gedicht sich nur im Raum | |
| zwischen Ja und Nein, zwischen verloren und unverloren ereignet und | |
| entfaltet, an jenem inexistenten Ort, der eben deshalb als einziger noch | |
| keine Katastrophenzone ist“, | |
| Aus ihren vielen russischen Gedichtzyklen sind in Deutschland bisher zwei | |
| kleine Auswahlbände veröffentlicht worden: „Der Körper kehrt wieder“ 2020 | |
| und [2][„Mädchen ohne Kleider“ 2022.] Das Ausgeliefertsein kleiner Mädchen | |
| als Objekt im letztgenannten Zyklus ist gleichzeitig eine große, poetische | |
| Studie über gesellschaftspolitische Machtverhältnisse, und Stepanova kann | |
| dabei auf den klassischen Formenkanon wie einen Sonettkranz genauso | |
| zurückgreifen wie auf die naturmagischen Formeln des Dichters Gennadij | |
| Ajgi, einem Nachfahren eines schamanischen Priestergeschlechts aus dem | |
| kleinen Volk der Tschuwaschen. | |
| In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte Stepanova, die gerade | |
| in Berlin im Exil lebt, wie sie aktuell mit ihrer russischen Muttersprache | |
| umgeht: „Als Lyrikerin in dunklen Zeiten arbeite ich wie eine | |
| Minenentschärferin. Ich grabe die Sprache aus und säubere sie, versuche, | |
| ihr eine neue Existenz zu geben.“ Das geschieht, wie bei Ossip Mandelstam | |
| oder Paul Celan, im Wissen um die Moderne, aber auch jenseits von ihr: in | |
| einer Gegenwart, in der die alten Geschichtskatastrophen weiterschwelen. | |
| 10 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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