# taz.de -- Bildbiografie über Paul Celan: Verzweifelte Lebenswut | |
> Paul Celans Lebensumstände waren dramatisch. Die Bildbiografie von | |
> Bertrand Badious macht das deutlich, sie ist ein regelrechter | |
> Meilenstein. | |
Bild: Paul Celan in Montana, Weihnachten 1961 | |
Paul Celan mit geöffnetem Hemd, kauernd im sommerlichen Gras neben seiner | |
Frau – solche Fotos kannte man von diesem dunkel melancholischen Dichter | |
bisher nicht. Für seine große Bildbiografie, die ursprünglich schon zum | |
100. Geburtstag Celans im Jahr 2020 erscheinen sollte, hat Bertrand Badiou | |
ausgiebig aus dem privaten Nachlass geschöpft. | |
Als der von Celans Sohn Éric exklusiv damit beauftragte Germanist greift er | |
auf vieles bisher Unbekanntes zurück, vor allem auch auf intime Tagebücher. | |
Das geht weit über alles hinaus, was in letzter Zeit über Celans | |
Lebensumstände bekannt wurde, und ist beileibe nicht unproblematisch. Der | |
Dichter hat immer größten Wert darauf gelegt, nur durch seine Texte | |
wahrgenommen zu werden. Er ließ sich auch nur sehr ungern öffentlich | |
fotografieren. | |
Badiou ist sich der Tragweite seines Vorhabens bewusst. In seinem Vorwort | |
versteht er Celans theoretische Äußerungen zu Biografie und Fotografie | |
„paradoxerweise als motivierende, ja antreibende Tabus“. Er entschloss | |
sich, „die Umstände und die Prozesse in Celans Schreiben in Form einer | |
zersprungenen Biographie oder besser: einer Biographie aus oder in Stücken | |
zu zeigen“. | |
Das erschien ihm der Ästhetik dieses Dichters adäquat. Faksimiles, Fotos | |
und sonstige Quellen werden durch kurze kommentierende Texte ergänzt. Damit | |
ist diese Bildbiografie eine intensiv durchdachte Komposition von | |
Einzelstücken und lässt gleichzeitig einiges offen. Es entstehen, bei aller | |
Fülle neuer Informationen, auch Leerstellen und Räume für Interpretationen. | |
Gerade darin kann man eine Stärke des Buches sehen. | |
## Nachkrieg in Rumänien | |
Celans Zeit in Bukarest von Mai 1945 bis Dezember 1947 etwa wurde in der | |
Forschung bisher fast übergangen. So sind die Erinnerungen von Petre | |
Solomon, seines engsten Freundes in Bukarest, verblüffenderweise erst in | |
diesem Jahr an ziemlich entlegener Stelle auf Deutsch erschienen. | |
Offenbar hat das etwas mit einem lange gepflegten, quasi offiziellen | |
Celan-Bild zu tun, dem Solomons Buch deutlich widerspricht. Bertrand | |
Badiou widmet Solomon viel Platz und fügt dessen Bild eines erotisch | |
umtriebigen, durchaus lebenszugewandten und rauschhaften Celan neue Aspekte | |
aus dem Nachlass hinzu. | |
Der Bukarest-Aufenthalt des Dichters birgt einige Rätsel. Direkt nach dem | |
deutschen Massenmord an den Juden wirkt diese Phase nach außen hin zunächst | |
eher unbeschwert, wie eine Art Boheme. Mit Solomon zelebrierte Celan | |
ausgelassen Wortspiele, und er bezeichnete sich einmal als „Partisan des | |
erotischen Absolutismus“. | |
Damit wird ein Akzent gesetzt, der all seine künftigen Lebensphasen | |
bestimmt, auch wenn sich seit etwa Mitte der fünfziger Jahre sein Schicksal | |
als überlebender Jude noch stärker in den Vordergrund schiebt. | |
## Lebenszentrum Paris | |
Badiou beschreibt Paris, wo Celan seit Sommer 1948 wohnte, als dessen | |
Lebenszentrum. Damit rückt die Bundesrepublik Deutschland an den Platz, den | |
sie in der Wahrnehmung des Dichters vor allem hatte: als Schauplatz des | |
deutschen Literaturbetriebs, mit dem sich Celan zwangsläufig konfrontiert | |
sah, dessen Bedingungen ihm aber fremd und suspekt bleiben mussten. | |
Das falsche Bild des schier märtyrerhaften Dichters, der die Schuld der | |
Deutschen in eine poetisch ergreifende Sprache fasste und sie in deren | |
Wahrnehmung dadurch entlastete, übernimmt Badiou keineswegs. Er zeigt in | |
der Entwicklung Celans exemplarisch, wie er sich gegen die Vereinnahmung | |
als Dichter der „Todesfuge“ wehrte und nach einer Sprache suchte, die sich | |
Missverständnissen gegenüber sperrte. | |
Sehr aufschlussreich sind die ersten Jahre Celans in Paris, mit Freunden, | |
die man in der Bundesrepublik nicht kannte. Mit den jüdisch-rumänischen | |
Gefährten Isac Chiva und Serge Moscovici bildete er ein Trio von | |
Staatenlosen, und sie teilten, wie Badiou schreibt, „als an ihre Erfahrung | |
des Genozids gebundene Komponente ihres Daseins jene ‚Lebenswut‘, einen | |
zornigen, hetero-erotischen Appetit und das unablässige [1][Bedürfnis nach | |
Verführung,] das mit ihm einhergeht“. | |
Chiva, der Ethnologie und Anthropologie studierte, wird die rechte Hand von | |
Claude Lévi-Strauss am Collège de France werden, Moscovici ein Soziologe | |
von Weltruhm, der sich der politischen Ökologie widmet und als einer der | |
Vorväter grüner Bewegungen gilt. | |
## Frau und Freundinnen | |
Isac Chiva wird es auch sein, der Celan mit der jungen Künstlerin Gisèle de | |
Lestrange bekanntmacht, seiner künftigen Ehefrau. Sie nimmt in Badious | |
Darstellung natürlich einen großen Raum ein. | |
Aber er rückt auch ins Blickfeld, was Celan verbarg und was in seinen | |
Ambivalenzen sehr aussagekräftig ist: die mittlerweile bekannten | |
Beziehungen zu Brigitta Eisenreich oder zu Gisela Dischner, zum Schluss | |
natürlich zu seiner letzten Freundin in Israel, Ilana Shmueli, aber vor | |
allem auch das offenbar stark aufgeladene Verhältnis zur schwedischen | |
Schauspielerin Inge Wærn, die er bei seinem Stockholmer Aufenthalt 1960 | |
während der akuten psychischen Krise von Nelly Sachs kennengelernt hatte. | |
Eine weitere der erotischen Beziehungen Celans ist ebenfalls im deutschen | |
Sprachraum nahezu unbekannt: die zu Ariane Deluz, einer auf afrikanische | |
und südamerikanische Populationen spezialisierten Anthropologin. | |
In einem auffälligen Foto vom Ende der sechziger Jahre inszeniert sie sich | |
entsprechend. Dieses Terrain ist natürlich ein schwieriges, und Badiou | |
lässt auch hier in erster Linie nur die auffindbaren Dokumente sprechen. | |
Einen vordergründig sensationsheischenden Charakter nimmt das niemals an. | |
Bertrand Badiou geht es unmissverständlich um den Dichter Paul Celan und um | |
den Entstehungshintergrund seiner Gedichte. | |
## Paranoide Schübe und Goll-Affäre | |
Der Biograf zeichnet auch die Krankengeschichte Celans minutiös nach. | |
Sämtliche medizinischen Zertifikate und Akten zu Celans | |
Psychiatrieaufenthalten sind unzugänglich, aber die Umstände seiner | |
paranoiden Schübe werden ausführlich benannt. 1968 übernimmt Celan für sich | |
einen Begriff seines Psychiaters, nämlich „Wahnanfall“. Zur Vorgeschichte | |
gehört sicher die Erfahrung des Juden, dem Massenmord durch die Deutschen | |
nur knapp entronnen zu sein. | |
Als zweiten entscheidenden Moment nennt Badiou die „Goll-Affäre“, die | |
perfiden Plagiatsvorwürfe der Witwe des Dichters Yvan Goll, die sich mit | |
den Mechanismen des Literaturbetriebs genau auskannte. Die Nazi-Nachwehen | |
in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre und die Konfrontation mit ihrem | |
durch Konkurrenz, Neid und übler Nachrede befeuerten literarischen Milieu | |
trugen das ihre dazu bei. | |
Zu den neuen von Badiou erschlossenen Dokumenten gehört der Vermerk in | |
Celans Taschenkalender am 10. April 1970, zehn Tage vor seinem Freitod: | |
„die rumänische Zeitschrift“. Dies ist der Beweis dafür, dass Celan die | |
irreführende Veröffentlichung des (sehr konventionellen und epigonalen) | |
Gedichts „Er“ von Immanuel Weissglas tatsächlich wahrgenommen hat. Es hat | |
in einzelnen Wendungen Ähnlichkeiten mit Celans „Todesfuge“ und wurde ohne | |
Beleg mit dem Entstehungsdatum „1944“ versehen. Dieser neuerliche | |
Plagiatsvorwurf an Celan kann einer der Auslöser für dessen | |
Verzweiflungstat gewesen sein. | |
Angesichts des von Badiou versammelten reichhaltigen biografischen | |
Materials gäbe es zwangsläufig noch [2][einiges zu sortieren]. So sollte | |
man zwischen Celans Haltung zur Gruppe 47 und zu den Verrissen | |
nationalkonservativer Kritiker wie Günter Blöcker deutlicher unterscheiden. | |
Keine Beachtung findet zum Beispiel, dass Celan kurz nach seinem Auftritt | |
bei der Gruppe 47 eine Lesung in einer kleinen Frankfurter Galerie hatte, | |
die ihn äußerst glücklich machte – die Einführung dazu wurde von Friedrich | |
Minssen gesprochen, einem Gründungsmitglied der Gruppe 47 und | |
Gesinnungsgenossen von deren Chef Hans Werner Richter. | |
Oder der merkwürdig irrlichternde Autor Rolf Schroers: Er tritt hier nur | |
als warmherziger Freund Celans in Erscheinung. Es handelte sich indes um | |
einen hochrangigen Offizier der sogenannten „Abwehr“, des militärischen | |
Geheimdienstes unter Hitler. Schroers wurde wegen Spitzelverdacht von Hans | |
Werner Richter aus der Gruppe 47 verbannt, und auch Celan wandte sich | |
später entsetzt von ihm ab. Solche Seitenstränge ändern aber nichts daran, | |
dass mit Bertrand Badious Bildbiografie ein Meilenstein in der | |
Celan-Forschung vorliegt, der über Jahre hinaus maßgeblich sein wird. | |
5 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
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