| # taz.de -- Neuer Roman von Ulrich Peltzer: Das Tiefste, das in uns rumort | |
| > Ein Spielsüchtiger, der als Finanzberater tätig ist und im Knast Lyrik | |
| > entdeckt: Ulrich Peltzers Roman „Der Ernst des Lebens“ ist furios wie | |
| > glaubwürdig. | |
| Bild: Kulturszene, Spielhalle – Peltzer bietet ein breit angelegtes Gesellsch… | |
| Wer spricht da? Was will dieser Mann? Der Schriftsteller Ulrich Peltzer ist | |
| auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen. Da fängt einer an, in Ich-Form | |
| zu erzählen, und nennt sich „Bruno van Gelderen“, aber „erzählen“ ist | |
| womöglich das falsche Wort dafür. Es klingt alles so, als ob man am Ende | |
| einer Party in der Küche herumsteht, wenn sich der harte Kern sammelt, und | |
| einer hat gerade gefragt: He, Bruno, jetzt sag mal, wie war das damals | |
| eigentlich mit deinem Absturz und dem Knast? | |
| Das scheint der richtige Moment zu sein, damit Bruno seine Karten endlich | |
| auf den Tisch legt. Der Ton ist locker, mündlich, Bruno fällt sich immer | |
| wieder selbst ins Wort. Doch dann merkt man ziemlich schnell: So spontan | |
| dahingeplaudert ist Brunos Geschichte gar nicht. Der Text ist genau gebaut, | |
| er hat eine hochreflektierte Form, und die Brüche, die Neuansätze, die | |
| Zeitverschiebungen und Perspektivwechsel knüpfen konsequent an frühere | |
| Romane des Autors an. | |
| Peltzers Hauptfigur ist nach dem Abitur am Niederrhein Anfang der neunziger | |
| Jahre nach Berlin gekommen, weiß aber nicht so recht, worauf das | |
| hinausläuft. Bruno bricht ein Politikstudium an der FU ab und landet bei | |
| einer Konzertagentur. | |
| Die Umstände des Pop-Business werden pointiert geschildert – die | |
| Sonderwünsche der Künstler etwa (Mineralwasser aus Gletschereis oder | |
| peruanischer Schnaps), die dann aber unangetastet in der Garderobe | |
| stehenbleiben, aber auch die Kneipen, die Beschaffung von Koks. Und dann | |
| beginnt Bruno auch noch, mit Spielautomaten, mit einarmigen Banditen ganz | |
| eigene Scharmützel auszufechten. | |
| Der Held bewegt sich zwischen Subkultur und halblegalen Grauzonen. Sich zu | |
| binden, wäre ihm fremd. Seine Abneigung gegen Festlegungen, Eheschließungen | |
| und vorgegebene Berufe zieht sich durch das ganze Buch. Damit steht er für | |
| eine eigene Berlin-Boheme, die Ulrich Peltzer seit jeher im Blickfeld | |
| hatte. | |
| ## Prekäre Jobs | |
| Die Figuren dieses Autors schlugen sich schon immer mit prekären Jobs oder | |
| riskanten Projekten durch, jedes Mal unter Berücksichtigung der | |
| finanziellen Bedingungen und Zwänge, unter denen dies stattfindet – das | |
| unterscheidet Peltzers Bücher von den meisten Gegenwartstexten über Berlin, | |
| bei denen die Väter der Protagonisten ihnen im Zweifelsfall eine | |
| Eigentumswohnung gekauft haben. | |
| Peltzers Figur Bruno fällt [1][im Gegensatz zu einigen seiner früheren | |
| Protagonisten] dadurch auf, dass er eine Generation jünger ist als der 1956 | |
| geborene Schriftsteller. Das eröffnet ein ganz eigenes Spielfeld. Es geht | |
| um andere Zeiterfahrungen, es gibt eine objektivierende Distanz, aber | |
| zugleich können biografische Fragestellungen, die auch die des Autors sind, | |
| in einem anderen Licht gezeigt werden. | |
| Das Verfahren ist dasselbe wie in Peltzers letztem Roman [2][„Das bist du“ | |
| von 2021,] dessen autobiografische Grundlage unverkennbar war. Auch Brunos | |
| zentrale Lebensstationen werden nicht chronologisch erzählt, sondern | |
| geraten in einem unberechenbaren Erinnerungsstrom wild durcheinander. | |
| Gerade das schafft ein neues, nur ästhetisch zu fassendes Feld. | |
| Bestimmte Szenen wiederholen sich und erscheinen in den einzelnen Sequenzen | |
| in einem immer schärferen Licht. „Klarheit“ ist einer der Lieblingsbegriffe | |
| Brunos, dahin will er vorstoßen. Durch einzelne, kleine Fragmente entsteht | |
| im Lauf des Romans ein großes Mosaik, das, indem es einige Fragen | |
| beantwortet, auch jedes Mal neue Fragen aufwirft. Eine der wesentlichen | |
| davon ist: „Kann man sich wirklich nahekommen, über eine gewisse Schwelle | |
| hinaus?“ | |
| ## Szenen der Kindheit | |
| Dreh- und Angelpunkt in Brunos Rückblick ist sein kompletter Absturz | |
| während der Zeit in der Konzertagentur: Spielautomaten, Speed, Alkohol und | |
| Koks. Es wird ihm gekündigt, er verprasst sein ganzes Geld, und schließlich | |
| bringen ihn zwei dilettantische Überfälle ins Gefängnis. Es gibt furiose | |
| Milieuschilderungen und Personenskizzen, allein das Porträt eines | |
| Bühnentechnikers namens „Snowfoot“ alias Rudi Felske könnte den Stoff für | |
| etliche Serienfolgen liefern. | |
| Durch die einzelnen Textblöcke setzt sich allmählich das Leben der | |
| Hauptfigur zusammen – assoziativ werden Szenen der Kindheit, das Berliner | |
| Laisser-faire, der Knast und die Gegenwart miteinander verbunden. | |
| Der Gefängnisaufenthalt ist die Zäsur, danach geht Bruno Tätigkeiten nach, | |
| die sich, schon von Anfang an, als irisierende und spannungsverstärkende | |
| Momente durch den Roman ziehen: Zunächst schreibt er Artikel für das | |
| Fußball-Echo, danach arbeitet er bei einem undurchsichtigen, aber durchaus | |
| sympathischen Georgier bei „Merkur Invest“, einer Finanzberatung für | |
| Mittelständler, die bereits einiges an ruhendem Kapital auf die Seite | |
| geschafft haben. | |
| Peltzer hat genau recherchiert, allein ein Sujet wie das Fußball-Echo, das | |
| von sämtlichen Spielen in Berlin unterhalb der Regionalliga Berichte | |
| liefert, ist in seiner Ernsthaftigkeit und Bizarrerie faszinierend. Bruno | |
| lernt den Finanzaktivisten Guram Kobiashvili auch ausgerechnet beim Fußball | |
| kennen, der Georgier agiert als Sponsor bei „Grün-Weiß“. Welche Absichten | |
| dahinterstecken, ist nur zu erahnen. Aber es gibt sicher welche. | |
| ## Sozialstudie mit satirischen Zügen | |
| Die Klientel, mit der es Bruno bei „Merkur Invest“ zu tun bekommt, | |
| verbreitert das großangelegte Gesellschaftspanorama dieses Romans noch | |
| einmal erheblich. So will ein baden-württembergischer Chemieunternehmer | |
| seine Tochter mit Bruno verkuppeln, und das liefert einerseits Material für | |
| eine brillante Sozialstudie, hat andererseits aber auch satirische Züge. | |
| Dabei wirkt jede Person in sich glaubwürdig und erschöpft sich nicht in | |
| vordergründigen Effekten. Als Bruno seinen Lebensbericht abliefert, hat er | |
| bei „Merkur Invest“ gekündigt und sich in eine Videokünstlerin in Köln | |
| verliebt. Was es heißt, „gut mit sich zurechtzukommen“ – eine seiner | |
| Grundfragen –, das stellt sich immer wieder anders dar. | |
| Auffällig an Peltzers bestechendem Text sind die Spiegelungen, die | |
| erhellenden Korrespondenzen. Zwischen der Spielsucht des Protagonisten und | |
| seiner Tätigkeit bei „Merkur Invest“ gibt es automatisch einen | |
| Zusammenhang. Die Wetten im Umfeld des Fußball-Echo passen dazu sehr gut, | |
| und die Überlegungen zum Kunstbetrieb in der Gegenwart schließen | |
| unmittelbar daran an. Dass der Roman bei alldem „Der Ernst des Lebens“ | |
| heißt, kommt nicht von ungefähr. | |
| Bruno scheint es im Nachhinein so, als sei er „fortwährend auf der Flucht | |
| gewesen, ein Mysterium, wovor eigentlich“, sein Leben lang habe er das | |
| Gefühl gehabt, „in einen fremden Traum hineingeraten“ zu sein. Da hilft es, | |
| erst mal alles aufzuschreiben: „Ich bin kein Psychologe, ich beobachte | |
| nur.“ | |
| In der Figur des Bruno, in seinem Sichtreibenlassen verbindet sich eine | |
| individuelle Charakterzeichnung mit einer komplexen Gesellschaftsanalyse. | |
| So etwas gibt es heute sehr selten. Es ist kein Zufall, dass Bruno während | |
| seiner Zeit im Knast beginnt, in der Gefängnisbibliothek Bücher | |
| auszuleihen. Zu seiner großen Verblüffung hat es ihm besonders die Lyrik | |
| angetan. Da muss er sich gleich vor sich selbst rechtfertigen: „Wer jetzt | |
| sagt, dass Antibiotika und Herzklappen aus Plastik solche Dichtungen | |
| überflüssig gemacht hätten, weiß nicht, wovon er redet. Verdrängt das | |
| Tiefste, das in uns rumort, seitdem wir von den Bäumen runtergestiegen | |
| sind.“ | |
| Genau das ist es, was den „Ernst des Lebens“ ausmacht. Bei aller | |
| Situationskomik ist dies auch ein abgründiges Buch. Denn es weiß mehr, als | |
| sein Ich-Erzähler ahnt. An diesem Punkt fängt die Literatur an. Am besten, | |
| man liest den Roman gleich nochmal von vorn. | |
| 21 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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