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# taz.de -- Roman „Das bessere Leben“: Ein Flirren geht durch die Geschichte
> Ulrich Peltzer als Meister der erlebten Rede: Das Lesen seines neuen
> Romans ist zwar anstrengend – aber auch wie ein Kinobesuch.
Bild: Wie ein vorbeiflatternder Vogelschwarm wirken die Szenen in Ulrich Peltze…
Diese Sätze flirren. Ulrich Peltzer ist ein Kinosüchtiger. Wenn man seine
Sätze mit der Sprache des Films beschreibt, könnte man sagen: Sie haben
etwas Flackerndes, als ob die Perforation hakt oder als ob Schlieren,
Überblendungen oder auch ein Kameraruckeln mit projiziert werden.
Vor allem mit Anmerkungen, die in Klammern gesetzt sind, und mit den drei
Auslassungspunkten hantiert Ulrich Peltzer in seinem neuen Roman „Das
bessere Leben“ virtuos. „Was hältst du … was trinken gehen, da vorne sind
Cafés.“ Dieser Autor hat ein grandioses Gehör für die kleinen Pausen und
abgerissenen Sätze in Alltagsdialogen.
Wie dieses Flackern voll orchestriert funktioniert, muss man gleich
zitieren. Zum Beispiel so: „Die beiden waren sich nicht grün gewesen, in
verschiedenen Parteien (rot, röter), oder Söhnker war in keiner und Möhle
in irgendeiner kommunistischen, die Söhnkers Gruppe auf Flugblättern, die
morgens vor der Schule verteilt wurden, mit Hasstiraden überzog,
anarchistisches (trotzkistisches?) Gelumpe, der Abschaum, Abgrund an … auch
wenn sie für oder gegen dasselbe demonstrierten, mit der Straßenbahn an
einem Herbstabend nach Düsseldorf (Jochen, hör mal, du kommst diesmal schön
mit), ein langer Zug durch die Innenstadt zu dem Platz, den das Hochhaus
von Thyssen beherrscht, niederreißen, niederreißen, wurde gebrüllt ...“
Vor knapp vier Jahren hat Ulrich Peltzer die Frankfurter Poetikvorlesungen
gehalten. Eine der drei Hauptfiguren des neuen Romans, der Sales Manager
Jochen Brockmann, der aufgrund fragwürdiger internationaler Geschäfte in
Schwierigkeiten gerät, kommt darin bereits vor. Vor allem beschreibt Ulrich
Peltzer in den Vorlesungen aber sein schriftstellerisches Verfahren.
## Ulrich Peltzer setzt Maßstäbe
Zum Erzählen anstecken lässt er sich stets von konkreten sinnlichen
Eindrücken: dem Detail eines Fotos, dem Refrain eines Songs im Radio, dem
Gesicht eines Bankangestellten. Eine Vielzahl solcher konkreten Details
lässt er dann – sie kombinierend, variierend, gespiegelt – zu Figuren,
Szenen und Schauplätzen zusammenwuchern. Sein Schreiben sollte man sich
nicht als sorgfältiges Hintereinandersetzen abgezirkelter Sätze vorstellen,
sondern als ein nervöses Hineintreten in einen Hallraum sinnlicher
Eindrücke.
Was dieses Verfahren ermöglicht, sieht man an „Das bessere Leben“, dem
sechsten Roman dieses 1956 geborenen Schriftstellers, der zuletzt auch die
Drehbücher zu den Kinofilmen „Unter dir die Stadt“ und „Die Lügen der
Sieger“ mitgeschrieben hat. Es ermöglicht das Schreiben in einer sehr
intensiven erlebten Rede.
Nachdem in der deutschsprachigen Literatur der Ich-Erzähler lange die
bestimmende Erzählinstanz war (“Ich bin nicht Stiller“), ist das Stilmittel
der erlebten Rede, in der der Erzähler mit seiner Figur verschmilzt, die
derzeit meistangewandte Erzählhaltung. „Musste sie wirklich gehen?“, mit
diesem Beispielsatz erklärt es Wikipedia. Zusammen mit einem Erzählstil im
Präsens lässt sich mit ihr sehr gut Unmittelbarkeit im Erzählen erzeugen.
In dieser Kunst setzt Ulrich Peltzer nun Maßstäbe.
Gleichzeitig entsteht ein irritierender Effekt. Denn auf der einen Seite
scheint dieser Roman tatsächlich um das große Ganze zu gehen.
Megacity-Schauplätze wie São Paulo, Themen wie die verhängnisvolle Fantasie
der Finanzwirtschaft, Erinnerungsspuren linker Diskurse, Figuren, die sich
in weltweiten Warenströmen verheddern, nicht zuletzt der Titel legen das
nahe.
## Alles hat etwas Collagehaftes
In manchem erscheint „Das bessere Leben“ wie der große politische
Gegenwartsroman, der den individuellen Verstrickungen in die komplizierten
kapitalistischen Verhältnissen den Spiegel vorhalten möchte.
Auf der anderen Seite verweigert der Roman aber alle Zusammenhänge. Es gibt
keine auktorialen Weil- und keine Dann-Sätze. Die zeitliche sowie örtliche
Orientierung funktioniert sprunghaft. Schauplätze, Figuren, das alles hat
etwas Collagehaftes.
Das Komplizierte daran muss man gar nicht verteidigen. Ulrich Peltzer
schreibt in der heroischen Tradition der Literatur des 20. Jahrhunderts, in
seinen Poetikvorlesungen beruft er sich auf solche Literaturheiligen der
gesprengten Sinnzusammenhänge wie James Joyce und William Gaddis. Das lässt
sich in „Das bessere Leben“ durchaus genießen (es gibt sie noch, die
unbedingt avancierte Literatur); aber es hat auch etwas Angestrengtes,
reden wir nicht drum herum: etwas sehr Anstrengendes. Und Hinweise auf die
Fragmentierung sowie die Unübersichtlichkeit der wirtschaftlichen Prozesse,
die hier formal ausgedrückt werden, müssen einen nicht befriedigen.
Aber diesen Roman am Maßstab einer komplexen Darstellung unserer komplexen
Gegenwart zu bewerten, ist eben nur das eine – und verteidigen lässt sich
gerade das Einfache, das mit diesem Verfahren eben auch einhergeht. Das
andere sind nämlich die vielen so großartigen wie dichten Beschreibungen.
Von Spaziergängen in unwirtlichen Innenstädten liest man etwa oder von –
wahre Glanzstücke! – Restaurantbesuchen, bei denen man sich verliebt, wie
etwa dem, als Jochen Brockmann und Angelika Volkhart, die zweite
Hauptfigur, sich treffen; oder bei denen man sich betrinkt, so wie bei dem
Restaurantbesuch, bei dem Brockmann und die dubiose dritte Hauptfigur
Sylvester Lee Fleming brasilianisch essen.
Das alles ist unglaublich nah und intensiv aus dem Inneren der Szenen
heraus beschrieben. Und manchmal weiß man beim Lesen nicht: Möchte Peltzer
nun die Gegenwart analysieren – oder möchte er vielmehr die Details und die
subjektiven Perspektiven vor solchen Allgemeinbegriffen wie Globalisierung
und Postfordismus retten? Auch da gibt es ein Flirren. An einer Stelle
zitiert Peltzer – man hätte ja darauf wetten mögen –, Godards Satz, man
solle keine politischen Filme, sondern Filme politisch machen. Es hilft
tatsächlich, ihn beim Lesen im Hinterkopf zu haben.
## Von der wahren, einzigen und letzten Freiheit
Peltzer hat keinen politischen Roman über die globalisierte Wirtschaftswelt
geschrieben, sondern einen Gegenwartsroman, der auf Augenhöhe mit den
derzeit avancierten linken politischen Analysen ein Eigenrecht des
Literarischen behauptet.
An einer anderen Stelle heißt es: „Sich in die Wirklichkeit stürzen wie ein
Leser in die Seiten eines Buches (nur so zum Vergleich), besteht denn nicht
darin die wahre, die einzige und letzte Freiheit?“ Irgendwo ist dieser
ganze Artikel wohl nur eine Variation des Gedankens, das „Das bessere
Leben“ ein sehr herausfordernder Roman ist, dass die Freiheit, die er dem
Leser gewährt, sich in seine Seiten hineinzustürzen, aber auch enorm ist.
Lange kann man sich etwa mit dem wiederkehrenden titelgebenden Motiv
auseinandersetzen, dass alle Menschen zu allen Zeiten für sich stets ein
besseres Leben gewollt hätten. Fängt damit das Verhängnis an, das in
Finanzdeals und mafiösen Strukturen endet? Oder gilt es, das weise zu
akzeptieren? Solche Fragen evoziert das Buch.
Vielleicht sollte man „Das bessere Leben“ sowieso gar nicht wie die
Entfaltung einer Geschichte – die auch ins Moskau der dreißiger Jahre und
ins Westberlin der späten Siebziger führt – lesen, sondern eher wie eine
Art sprachlicher Installation. Eine Kunstinstallation, „Partially Buried“,
spielt in ihm jedenfalls eine große Rolle. In ihr fragt die Künstlerin
Renée Green danach, wie man an die Ereignisse von 1970 erinnern kann, in
denen an der Kent Universität in Ohio (Neil Young hat ein berühmtes Lied
darüber geschrieben) nach Antivietnamprotesten vier Studenten erschossen
worden sind.
Gleich am Anfang des Romans erfährt man, dass die Protestierenden im Chor
sangen, bevor die Schüsse fielen: „blackbird singing in the dead of night
…“ Die Schüsse lässt Ulrich Peltzer nun durch sein Buch peitschen – wie
auch diesen Song durch die Szenen flattern.
24 Jul 2015
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Literatur
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