# taz.de -- Neuer Roman von Kerstin Hensel: „So lebten sie glücklich dahin“ | |
> Kerstin Hensels neuer Roman „Die Glückshaut“ jongliert mit | |
> Märchenmotiven. Mit leichter Ironie zeigt er, wie Glücksvorstellungen | |
> sich ändern. | |
Bild: Parforceritt durch die Zeit: Autorin Kerstin Hensel | |
Es war einmal im Erzgebirge. Minna wurde mit einem seltenen medizinischen | |
Phänomen, mit einer Glückshaut, geboren – und die galt zu Anfang des 19. | |
Jahrhunderts bei ihren abergläubischen Zeitgenossen als gutes Omen für die | |
Trägerin und ihre Nachkommen. | |
Minna schlug allerdings schon als Kind aus der Art, war untüchtig im | |
Haushalt und verdächtig wissbegierig. Sie wurde im Wald ausgesetzt und | |
irrte umher, bis sie auf sieben armselige, junge Bergarbeiter traf; bald | |
darauf führte sie ihnen wie Schneewittchen den Haushalt. | |
Kerstin Hensel wurde 1961 im heutigen Chemnitz geboren und hat sich immer | |
wieder kritisch mit der sächsischen Provinz beschäftigt; dort spielt auch | |
ihr neuer Roman. „Die Glückshaut“ ist ein Parforceritt durch die Zeit, der | |
bis ins 21. Jahrhundert reicht. Da fragt sich die pubertierende Elise, eine | |
Nachfahrin von Minna: Wer darf bestimmen, wie ihr Glück aussieht? Wünscht | |
sie sich vielleicht einen Prinzen? | |
Hensel entwirft einen Bilderbogen, der wie die alten Märchen reale Kerne | |
enthält: In Minnas Lebenszeit waren Kindesaussetzungen bei armen Leuten | |
keine Seltenheit; viele Kinder, „Zwerge“, arbeiteten im Bergbau, bis sie | |
oft im zarten Alter an Staublunge oder bei Unfällen starben. So erlebte es | |
Minna, die von dem letzten überlebenden Jungen geschwängert wurde, bevor | |
auch der verschwand. Wo blieb ihr Glück? | |
## Seherische Fähigkeiten | |
Der Wunsch danach ist so alt wie die Menschheit, doch das Recht, danach zu | |
streben, galt und gilt nicht für alle Menschen gleichermaßen. Minna war von | |
kirchlichen und gesellschaftlichen Geboten umstellt; aber sie blieb eine | |
eigenwillige Außenseiterin und galt als irre, denn die Glückshaut gab ihr | |
seherische Fähigkeiten. Sie streunte ruhelos umher und landete schließlich | |
in Chemnitz bei ihrem Sohn, dem Hans, dem Hänsel. | |
Kerstin Hensel jongliert mit Märchennamen und Märchenmotiven, mit | |
historischen Fakten und Fantasien, und zeigt nebenbei mit leichter Ironie, | |
wie Glücksvorstellungen sich ändern: für die ewig hungrige Minna war das | |
Glück ein berauschendes Pilzgericht oder, zu Beginn der Industrialisierung, | |
die erste Fahrt mit einer der neuen Eisenbahnen. Ihr Sohn Hans, ganz anders | |
als sein Namensvetter „Hans im Glück“, stieg auf und wurde reich. | |
Auch er hatte die Gabe des „Sehens“, die ihm Einblicke in Vergangenheit und | |
Zukunft erlaubten. Manchmal verstand er aber nicht einmal die Gegenwart: | |
eben noch ließ er die Blicke über einen Wald schweifen, doch „aus dem Wald | |
wuchsen lauter Schornsteine und Fabriken, und der Wald sah aus wie eine | |
Stadt.“ | |
Die Nachkommen des erfolgreichen Kommerzienrates Hans arbeiteten während | |
des Faschismus in der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein/ Pirna, in der | |
die sogenannten „minderwertigen“ Kranken ermordet wurden. | |
Ein weiterer Nachfahre ging zu den Grenztruppen der DDR und ersehnte eine | |
Zweiraumwohnung als das größte Glück – aber sind Hensels zweifelhafte | |
Held/innen unter den oft grausamen Zeitläuften glücklich? Was sehen und | |
verstehen die Figuren, die zu Opfern oder Mittäter/innen der Verhältnisse | |
werden? Einmal heißt es, ihre Erfahrungen und Hoffnungen seien „nichts als | |
Trugbilder und Not.“ | |
## Hensels Roman befremdet | |
Kerstin Hensel hätte sich als eine potentielle Nachfahrin von Minna selbst | |
in den Roman hineinschreiben können, denn ihr Beruf erfordert schließlich | |
auch die Kunst des Sehens und Verstehens. Aber das Buch entzieht sich der | |
aktuellen Forderung nach autofiktionalem Erzählen; es zeigt vielmehr auf | |
Wege und Irrwege, die jeder Hans und jede Grete nimmt. | |
Kann Literatur noch immer einen produktiven Umgang mit der alten Tradition | |
finden? Roald Dahl schrieb in den 80er Jahren psychoanalytisch motivierte | |
Märchenpersiflagen, in denen etwa Aschenputtels wahre Geschichte | |
ausgeplaudert wurde; ein kurzes Vergnügen. Und der bewundernswerte Lyriker | |
Peter Rühmkorf veröffentlichte seinerzeit „aufgeklärte Märchen“, deren | |
pädagogischer Witz inzwischen naiv optimistisch wirkt. | |
Kerstin Hensels Roman dagegen befremdet. Hier wird vorsätzlich nicht | |
analysiert und psychologisiert; demnach erscheint auch die Gegenwart so | |
irritierend und grausam wie die vermeintlich guten alten Zeiten. | |
Das Buch tanzt wie ein Irrlicht vor den Leser/innen her, verführt und | |
verwirrt, betört und erschreckt. Zwischen den Zeilen stellt Hensel | |
unbequeme Fragen: was sind Trugbilder, wie funktioniert Verblendung? Der | |
Roman legt Bilderwelten um- und ineinander; so entstehen mehrdimensionale | |
Beziehungsgeflechte. Die Figuren des letzten Teils wissen ähnlich wie die | |
kluge Else aus dem Märchen manchmal nicht, wo sie selbst stehen; dann | |
stellen sie deren alte Frage: „Bin ich´s oder bin ich´s nicht?“ | |
## Mitdenken erwünscht | |
Elise, die jüngste Nachfahrin von Minna, leidet keinen Hunger und muss die | |
Kirche nicht mehr fürchten. Aber auch sie schlägt sich mit den | |
Glücksverheißungen- und imperativen ihrer Zeit herum. Manchmal wird sie so | |
irre an der Welt und sich selbst, dass ihr die Augen überfließen. | |
Hensels Roman verlangt in hohem Maß das Mit- und Weiterdenken. Wer sich | |
darauf einlässt, entdeckt ein virtuoses, komplexes Spiel, eine reflektierte | |
Spinnerei – und einen Übermut, der das Grauen lehrt. Denn hier führt kein | |
gerader Weg unweigerlich vom finsteren Aberglauben in das helle Licht der | |
Aufklärung; damit ist dieses Buch ganz auf der Höhe der Zeit. | |
1 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Sabine Peters | |
## TAGS | |
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Märchen | |
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Salman Rushdie | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
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