| # taz.de -- Buch „Knife“ von Salman Rushdie: Das Unglück namens gestern | |
| > Über die auf ihn verübte Messerattacke hat Salman Rushdie ein Buch | |
| > geschrieben. „Knife“ ist eine Verteidigung des Lachens und der | |
| > Solidarität. | |
| Bild: Der Moment, in dem beherzte Menschen dem angegriffenen Autor zu Hilfe eil… | |
| „Am 12. August 2022, einem sonnigen Freitagmorgen um Viertel vor elf, wurde | |
| ich von einem jungen Mann mit einem Messer angegriffen und beinahe getötet, | |
| nachdem ich gerade die Bühne des Amphitheaters in Chautauqua betreten | |
| hatte, um darüber zu reden, wie wichtig es ist, sich für die Sicherheit von | |
| Schriftstellerinnen und Schriftstellern einzusetzen.“ | |
| So schlicht und präzise beginnt Salman Rushdies neues Buch „Knife“. Dass | |
| Rushdie einer der besten lebenden Autoren der Gegenwart ist, zeigt sich | |
| einmal mehr in diesem ersten Satz. Er, den es sichtlich keine Mühe kostet, | |
| die nüchterne Beobachtung und Beschreibung des menschlichen Treibens als | |
| Märchen, oder vielleicht besser: als Schwank und Satire im Geist von | |
| Rabelais zu erzählen, weiß, wann es angebracht ist, zu sagen, was Sache | |
| ist. | |
| Das gilt auch für den Titel des Buchs. Es heißt „Knife“, weil es ein Mess… | |
| war, mit dem der Attentäter mehrfach auf ihn einstach. Das Messer [1][hätte | |
| Rushdie fast getötet]. Noch heute hat er Schwierigkeiten beim Tippen seiner | |
| Texte, weil einige Sehnen seiner linken Hand von diesem Messer | |
| durchschnitten worden waren. Das Messer durchtrennte den Sehnerv seines | |
| rechten Auges, und wenn es etwas tiefer eingedrungen wäre, hätte es sein | |
| Hirn möglicherweise irreparabel geschädigt oder ihn getötet. | |
| „Knife“ heißt auch auf Deutsch „Knife“, was nicht gut ist, weil es das… | |
| auf eine Stufe mit schlechten Netflixserien und Krimis herunterzieht, die | |
| sich durch vermeintlich fancy klingende englische Titel ihrem | |
| deutschsprachigen Publikum einen Nimbus des Coolen zu verschaffen | |
| versuchen: „Ist nicht so dolle, ja, aber immer noch besser als heimische | |
| Produktion.“ | |
| Die deutsche Übersetzung würde in einer besseren Welt also „Messer“ heiß… | |
| „Messer“ – nicht „Das Messer“, weil Rushdie an einer Stelle über den | |
| Unterschied zwischen Messern und Feuerwaffen als solchen philosophiert. Die | |
| Pistole tötet aus der Distanz. Sie dient dazu, Menschen zu verletzen oder | |
| zu töten. Das Messer hingegen liegt meist in der Küche. Der Koch, die | |
| Köchin schneidet damit Brot, Käse oder Gemüse, um seine oder ihre Liebsten | |
| mit lebenswichtiger Nahrung zu versorgen. | |
| ## Im Dienst der Zuneigung | |
| Das Messer steht also meist im Dienst der Zuneigung und der Liebe – wenn | |
| man es nicht in eine Tasche steckt, um einen Dichter wegen eines Buchs zu | |
| ermorden, das man nicht gelesen hat. Dass dieser Dichter ein sehr böser | |
| Mann ist, hat der Attentäter von einem gewissen „Imam Yutubi“ gelernt. So | |
| nennt Rushdie, der den Humor nicht verloren hat, die Inkarnation des | |
| islamistischen Hetzers im Netz. | |
| Die Figur des Messers symbolisiert also treffend die beiden Teile und Pole | |
| dieses Buchs, dessen erster Teil „Der Engel des Todes“ heißt. Teil zwei | |
| trägt den Titel „Der Engel des Lebens“. Sein Buch hat Rushdie „jenen | |
| Männern und Frauen gewidmet, die mein Leben gerettet haben“. | |
| Schon nach der [2][Fatwa des Ajatollah Chomeini gegen Rushdie] im Jahr | |
| 1989 gab es Menschen, die indifferent reagierten. Es gab Menschen, die das | |
| sagten, was auch die Indifferenten im Grunde dachten: Rushdie sei ein | |
| schlechter Mensch (und also selber schuld, woraus logisch folgt, dass er | |
| den Tod verdiene). Rushdie nennt sie in seinem Buch beim Namen, was nur | |
| recht und billig ist. (Unter ihnen Jimmy Carter, Roald Dahl, Germaine Greer | |
| und Hugh Trevor-Roper.) | |
| ## Eine anhaltende Wunde | |
| Noch schmerzlicher aber sei gewesen, „dass ich von jenen abgelehnt wurde, | |
| für die ich vor allem geschrieben hatte – für die ich, wie ich fand, voller | |
| Liebe geschrieben hatte“. Mit der Aggression aus dem Iran sei er | |
| zurechtgekommen. „Die aus Indien, Pakistan und aus den südasiatischen | |
| Communitys herüberschwappende Feindseligkeit fand ich viel schwerer zu | |
| ertragen. Diese Wunde ist bis zum heutigen Tag nicht verheilt.“ | |
| Aber es gab auch Menschen, die sich mit diesem Autor solidarisierten, | |
| [3][der ein sehr schönes und witziges Buch namens „Satanic Verses“ über d… | |
| Leben nichtweißer Menschen im London der 1980er geschrieben hatte]. Diese | |
| Menschen waren der Ansicht, dass gegen die Arroganz irgendwelcher | |
| lächerlicher Autoritäten, die sich das Recht herausnehmen, Schriftsteller | |
| zum Tod zu verurteilen, weil sie Angst vor dem Lachen haben, entschieden | |
| Widerstand geleistet werden muss. | |
| „Messer“ ist ein Buch über diese Arroganz der Dummen und Humorlosen, vor | |
| allem aber ein Buch über die Schönheit von Liebe und Solidarität. Es ist | |
| eine Liebeserklärung an seine Frau, seine Familie und Freunde. Rushdie | |
| sinniert darin über die Möglichkeit des Glücks in einer im Großen und | |
| Ganzen schrecklichen Welt. | |
| Seinen Attentäter nennt Rushdie bei sich und einmal im Buch „Arschloch“. | |
| Fortan erscheint dieses Arschloch nur noch als „A.“ im Text. Rushdie | |
| versucht dessen Motive zu verstehen, kommt aber zum Schluss, dass die Mühe | |
| nicht lohnt. | |
| ## 27 Sekunden | |
| Der Autor steht kaum auf der Bühne, da wird er angegriffen, von einem | |
| jungen Mann in Schwarz. Dann vereinigen sich die Männer in einem Moment der | |
| Intimität, die Rushdie vom maskierten Mörder aufgezwungen wird: „Im Tod | |
| gehören wir alle dem Gestern, sind wir für immer in der Vergangenheitsform | |
| gefangen. Das war der Käfig, in den mich das Messer zwingen sollte.“ | |
| Intimitäten muss sich der schwer Verletzte später auch in den | |
| Krankenhäusern gefallen lassen, weil er leben will. | |
| 27 Sekunden dauert dieser Moment. Dann sind bereits beherzt Menschen aus | |
| dem Publikum auf die Bühne geeilt. Sie überwältigen den Angreifer mit | |
| bloßen Händen und sie umsorgen den Angegriffenen mit eben diesen Händen. | |
| Einen der Helfer nennt Rushdie „den Daumen“. Denn dessen Daumen verschließt | |
| eine klaffende Wunde im Nacken des Autors und rettet ihn so vor dem | |
| Verbluten. | |
| Erst als Rushdie in einen Helikopter geladen wird, trennt sich der Daumen | |
| von ihm. Wenn das Messer ein Medium ist, durch das sich Aggression und | |
| Mordlust genauso wie die Sorge ausdrücken kann, ist die helfende Hand das | |
| Medium der Liebe und der Solidarität. Ihm sei nahezu gleichzeitig das | |
| Schlimmste und das Beste am Menschen begegnet, schreibt Rushdie. | |
| „Der Tod kam auf mich zu, aber ich fand nichts Besonderes daran. Ich fand | |
| ihn nur anachronistisch“, schreibt Rushdie über den Augenblick, als er | |
| sieht, dass sich ein Attentäter mit einem Messer nähert. Rushdie versteht | |
| nach dem ersten Hieb, den er mit seiner linken Hand abzuwehren versucht, | |
| dass dieser Tod keine entfernte Möglichkeit ist, sondern dass er in Kürze | |
| sterben könnte. Er befiehlt sich selbst zu leben. Er bedauert, dass sein | |
| neuer Anzug nun kaputt ist. Er versucht zu sagen, dass man seine Frau | |
| informieren müsse. Er sorgt sich um seinen Hausschlüssel. Rushdie schreibt | |
| das alles lakonisch auf. | |
| Ohne Humor lässt sich das Leben weder verstehen noch ertragen. Humor ist | |
| Ausdruck der Skepsis gegenüber Wahrheiten, die von den Humorlosen als ewig | |
| und unumstößlich verkauft und wenn es sein muss, mit Gewalt durchgesetzt | |
| werden. Autoritäten, die Gewalt befehlen, zeigen aller Welt, dass sie keine | |
| sind. Denn wenn sie Autorität besäßen, die auf Weisheit und Liebe beruht, | |
| bräuchten sie keine Folterkeller, keine Attentäter. Lachen heißt Leben. | |
| Sicher, die Humorlosen leben auch, aber in einer Hölle, die sie selbst | |
| erschaffen haben. | |
| Rushdie hat „Messer“ geschrieben, „um das Vorgefallene anzuerkennen, die | |
| Kontrolle zurückgewinnen, mir das Geschehene anzueignen und nicht ein | |
| bloßes Opfer zu sein. Auf Gewalt wollte ich mit Kunst antworten“. Es ist | |
| ihm gelungen. | |
| 16 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Attentat-auf-Salman-Rushdie/!5871699 | |
| [2] /Autor-Salman-Rushdie/!5167894 | |
| [3] /Friedenspreis-Salman-Rushdie/!5963364 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
| ## TAGS | |
| Salman Rushdie | |
| Fatwa | |
| Schwerpunkt Iran | |
| Literatur | |
| GNS | |
| Heinrich Böll | |
| Islamismus | |
| Schwerpunkt Iran | |
| Roman | |
| Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025 | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Todestag von Heinrich Böll: Es droht der Verlust dieser Welt | |
| Vor 39 Jahren ist der Schriftsteller Heinrich Böll gestorben. Welche | |
| aktuellen Zeitbezüge finden sich in seinem literarischen Werk? | |
| Lesung von Salman Rushdie in Berlin: Beifall für einen Überlebenden | |
| In Berlin stellte Salman Rushdie sein Buch „Knife“ über das auf ihn verüb… | |
| Attentat vor. Gewürdigt wurde ein Verteidiger des Wortes. | |
| Todesurteil für Rapper in Iran: Der Sohn der Nation | |
| Toomaj Salehi ist eine Ikone der Protestbewegung gegen das iranische | |
| Regime. Nun wurde der Rap-Musiker zum Tode verurteilt. | |
| Neuer Roman von Kerstin Hensel: „So lebten sie glücklich dahin“ | |
| Kerstin Hensels neuer Roman „Die Glückshaut“ jongliert mit Märchenmotiven. | |
| Mit leichter Ironie zeigt er, wie Glücksvorstellungen sich ändern. | |
| Roman „Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann: Bewusstmachung einer Tragödie | |
| In einer großen literarischen Recherche dokumentiert Ronya Othmann die | |
| Verfolgung der Êzîden. Ihre Ich-Erzählerin sucht nach Spuren im Irak. | |
| Friedenspreis für Salman Rushdie: Hirngespinst aus der Opiumpfeife | |
| Salman Rushdie wurde der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. | |
| In seiner Rede verteidigte er die Meinungsfreiheit in alle Richtungen. |