# taz.de -- Roman „Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann: Bewusstmachung einer … | |
> In einer großen literarischen Recherche dokumentiert Ronya Othmann die | |
> Verfolgung der Êzîden. Ihre Ich-Erzählerin sucht nach Spuren im Irak. | |
Bild: Mit dokumentarischem Furor: Autorin Ronya Othmann | |
Es wurden 74 Versuche unternommen, die ethnisch-religiöse Minderheit der | |
Êzîden zu vernichten, zuletzt 2014 im kurdischen Singhal durch den | |
„Islamischen Staat“. So zählen, so erzählen es sich die Êzîden selbst. | |
Obwohl die Autorin Ronya Othmann als Tochter einer deutschen Mutter und | |
eines kurdisch-êzîdischen, aber atheistischen Vaters keine Êzîdin im | |
engeren Sinn ist (nur Kinder êzîdischer Paare gelten als solche), hat die | |
30-Jährige den größten Teil ihres bisherigen Schreibens in den Dienst | |
dieser von der Auslöschung bedrohten Menschen und der Bewusstmachung ihrer | |
Tragödie gestellt: journalistisch in Kolumnen für taz und FAS, | |
[1][literarisch in Gedichten,] [2][Prosa („Die Sommer“)] und jetzt in ihrem | |
dokumentarischen Roman „Vierundsiebzig“, der den Genozid im Titel trägt. | |
„Was ich schreibe, hat keine Ordnung. Worte, Sätze, die abbrechen, im | |
Nichts verlaufen. […] Ich habe keine Sprache“, stellt die mit Ronya Othmann | |
offensichtlich identische Ich-Erzählerin fest. Immer wieder stellt sie die | |
Formulierung „ich schreibe:“ vor ihre Sätze, als müsse sie sich selbst | |
daran erinnern, dass die Worte nicht vom Himmel auf die Buchseiten | |
gerieselt sind. Die êzîdische Kultur, schreibt sie, werde traditionell | |
mündlich vermittelt. Sie muss ihr Schreiben über êzîdische Geschichte und | |
Verfolgung also erst erfinden, obwohl ihr Material dokumentarisch ist: | |
Vielleicht rechtfertigt dieser Umstand die Gattungsbezeichnung „Roman“? | |
Ronya Othmann macht ihre Recherche zum Gegenstand, dokumentiert das Sammeln | |
êzîdischer Überreste bei Reisen in den Irak und die Türkei, auf Besuch bei | |
Verwandten und Fremden, in versehrten Dörfern, Flüchtlingscamps und Museen, | |
bei Gerichtsprozessen in München und Frankfurt, beim Lesen, Fernsehen und | |
Fotografieren mit Smartphone. | |
## Hussein ließ Dörfer planieren | |
In der Chronologie des Sammelns bleibt das Material ungeordnet. Immer | |
wieder kommt die Ich-Erzählerin auf den 3. August 2014 zurück, den Tag, an | |
dem IS-Kämpfer das von der êzîdischen Minderheit besiedelte Gebiet im | |
Sindschar-Gebirge im kurdischen Irak überfielen, Tausende ermordeten, | |
entführten und versklavten. | |
Dann springt die Recherche zurück in die Zeit unter Saddam Hussein, der | |
bereits seit den 80er Jahren êzîdische Dörfer planieren und durch | |
Siedlungen ersetzen ließ, damit sich dort arabische Iraker niederließen, | |
oder wieder nach 2007, als dem IS-Vorläufer al-Qaida der größte Anschlag | |
seit 9/11 gelang und er 800 Êzîden tötete. | |
Später stößt die Autorin, die mit zwölf träumte, Archäologin zu werden, a… | |
die Schriften des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der um 1845 | |
bei Grabungen nach mesopotamischen Überresten êzîdische Dörfer besuchte und | |
deren Gastfreundschaft, friedliche Religiosität und prosperierende | |
Landwirtschaft pries. Auch damals schon wurden im Osmanischen Reich Êzîden | |
ermordet, 12.000 im Jahr 1832. | |
Vom bäuerlichen Wohlstand des 19. Jahrhunderts ist wenig geblieben. Bei | |
ihren Reisen in den kurdischen Irak, meist zusammen mit ihrem Vater, wird | |
die Ich-Erzählerin nicht nur immer wieder Zeugin tiefen Misstrauens | |
zwischen Êzîden, Kurden, schiitischen und sunnitischen Arabern, sondern | |
auch uferloser Zerstörung, verminter Landschaften, brachliegender Äcker; | |
dazu kommt der Klimawandel, der Versteppung und Dürre beschleunigt. | |
Auf der Suche nach Spuren des Überlebens entwickelt sie eine regelrechte | |
Dokumentationswut, als ließe sich so etwas retten, zurückholen: „Ich | |
notiere“, „ich schreibe“, „ich fotografiere“. | |
## Auf Google Maps folgen | |
Ihr Furor greift auch auf mich über; schon bald reicht mir die im | |
Buchdeckel abgedruckte Karte nicht mehr bei der Orientierung im | |
kurdisch-êzîdischen Siedlungsraum. Ich fange selbst zu recherchieren an, | |
folge der Autorin per Google Maps auf ihrer fesselnden Odyssee, sehe mir | |
den sinkenden Wasserspiegel des Mossul-Damms an, auf dessen Grund sich | |
ganze Dörfer befinden, die gesprengten êzîdischen Wohnhöhlen im | |
türkisch-kurdischen Hasankeyf, das von einer anderen Regierung anlässlich | |
eines Staudammbaus geflutet wurde – ein Damm, der wiederum dem irakischen | |
Tigris das Wasser abgräbt. | |
Später auch die Gedenkstätte in Koco, den Berg Sindschar, Schauplätze des | |
Genozids 2014, an die Ronya Othmann erst nach einem Ritt durch die | |
kafkaeske irakische Bürokratie und einem riesigen Umweg über Bagdad | |
gelangt. | |
Zwischendurch kommt Ronya Othmann immer wieder auf den Prozess gegen die | |
deutsche IS-Terroristin Jennifer W. und ihren irakischen Ehemann zurück; | |
als Prozessbeobachterin war sie in München und Frankfurt dabei. Das | |
radikalisierte Paar kaufte nach den Massakern von 2014 Nora B. und ihre | |
fünfjährige Tochter, ließ sie für sich arbeiten, missbrauchte und „verlie… | |
sie und verschuldete den Tod des Mädchens, das es in größter Hitze im Hof | |
aussperrte. | |
## Hoffentlich kein Schlussstrich | |
Othmann dröselt die Verbrechen durch Mitschrift der Anhörungen erst nach | |
und nach in ihrer ganzen Niedertracht auf; ihre eigenen Zigarettenpausen | |
lassen auch der Leserin Raum für Entsetzen und Trauer. Überhaupt sind es | |
die kleinen Alltagsschilderungen, die das in jeder Hinsicht unfassbare | |
Material zusammenhalten, der Schwere immer wieder Lebendigkeit injizieren. | |
Anfang 2023 ist es in der Bundesrepublik, der größten êzîdischen Diaspora, | |
tatsächlich gelungen, eine [3][Anerkennung des Genozids] durch den | |
Bundestag zu erwirken. Ronya Othmann freut sich darüber und fürchtet | |
zugleich, dass damit ein Schlussstrich gezogen werde. Einen solchen kann es | |
in ihrem Roman nicht geben – nur weiteres Unterwegssein, diesmal in | |
Deutschland. „Industriegebiet, Umland. Kahle Felder und spärlich belaubte | |
Bäume.“ | |
21 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Gedichte-von-Ronya-Othmann/!5833573 | |
[2] /Roman-Die-Sommer-von-Ronya-Othmann/!5709267 | |
[3] /Genozid-an-zidinnen-2014/!5948101 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Kurden | |
Literatur | |
Genozid | |
Jesiden | |
Literatur | |
Literatur | |
Salman Rushdie | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Jesiden | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Eklat um Internationalen Literaturpreis: Spielregeln für Literaturjurys? | |
Wie sollen sich ästhetische Kategorien zu Identitätspolitik verhalten? Eine | |
etwas ratlose Recherche zum Literaturpreis-Streit – und ein Vorschlag. | |
Autorin über den Êzîden-Genozid 2014: „Vor den Augen der ganzen Welt“ | |
Ronya Othmann versuchte, die Wahrheit über Genozid an den Êzîden im Irak | |
2014 herauszufinden. Aus ihrer Recherche entstand der Roman | |
„Vierundsiebzig“. | |
Buch „Knife“ von Salman Rushdie: Das Unglück namens gestern | |
Über die auf ihn verübte Messerattacke hat Salman Rushdie ein Buch | |
geschrieben. „Knife“ ist eine Verteidigung des Lachens und der Solidarität. | |
Ronya Othmann in Pakistan ausgeladen: „Die letzten Tage waren der Horror“ | |
Das Literaturfestival Karatschi hat die Lesung der Autorin Ronya Othmann | |
abgesagt. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe bedeuten in Pakistan | |
Lebensgefahr. | |
Abschiebungen von Jesiden: Schutzversprechen auf der Kippe | |
Vor einem Jahr hat sich die Bundesregierung zum Schutz jesidischen Lebens | |
verpflichtet. Besonders in der Asylpolitik scheint sie das zu verfehlen. | |
Roman über Freundschaft im Kulturbetrieb: Rettung in die Kunst | |
Die Dramatikerin Olga Bach erzählt von drei hochbegabten Außenseitern im | |
Berliner Kulturbetrieb. Ihr Roman „Kinder der Stadt“ ist unsentimental. |