| # taz.de -- Autorin über den Êzîden-Genozid 2014: „Vor den Augen der ganze… | |
| > Ronya Othmann versuchte, die Wahrheit über Genozid an den Êzîden im Irak | |
| > 2014 herauszufinden. Aus ihrer Recherche entstand der Roman | |
| > „Vierundsiebzig“. | |
| Bild: Derzeit unterwegs im Norden: Ronya Othmann, hier nach der Verleihung des … | |
| taz: Frau Othmann, warum ist die Zahl 74 für Ihren [1][Roman] der richtige | |
| Titel? | |
| Ronya Othmann: Man sagt, dass es 74 Fermane, also Genozide an den Êzîden | |
| gegeben hat. Es ist auch eine symbolische Zahl, welche die lange | |
| Verfolgungsgeschichte davor enthält. Vieles wurde dokumentiert. 2007 hat | |
| al-Qaida zeitgleich in zwei êzîdischen Ortschaften in Shingal den damals | |
| größten Anschlag der irakischen Geschichte verübt. Das war der 73. Ferman. | |
| Der 74. war der [2][Genozid 2014] durch den sogenannten [3][Islamischen | |
| Staat (IS)]. | |
| Was macht den Überfall von 2014 besonders? | |
| Es gibt viele Parallelen zu den Massakern in den Jahrhunderten zuvor. In | |
| allen êzîdischen Familien haben wir Erinnerungen an verschleppte Frauen | |
| schon in anderen Jahrhunderten und Morde, wie auch der IS sie begangen hat, | |
| nur mit modernen Waffen. Besonders ist aber, dass es im 21. Jahrhundert vor | |
| den Augen der ganzen Welt passierte, ganz offen, am hellichten Tag. Vor | |
| 2014 war Shingal das letzte mehrheitlich êzîdische Siedlungsgebiet. Dort | |
| kommt man von einem êzîdischen Dorf ins nächste. Durch den Überfall 2014 | |
| wurden Êzîden sozusagen mitten in ihrem Herz getroffen. | |
| Wie haben Sie für ihr Buch recherchiert? | |
| Da gibt es mehrere Ebenen. Mein Vater ist êzîdisch. Wir haben Familie in | |
| Shingal, in der autonomen Region Kurdistan, der Türkei und Syrien, wo mein | |
| Vater aufwuchs. Da habe ich natürlich über die Jahre einiges mitbekommen | |
| und kontinuierlich nachgefragt, aber auch ganz klassisch recherchiert. Ich | |
| habe zwei Gerichtsprozesse von TäterInnen besucht und historische Quellen | |
| untersucht. Ich habe viel über den IS, Terror und die Geschichte des Iraks, | |
| auch unter der Gewaltherrschaft Saddam Husseins, gelesen. Ich war auf | |
| mehreren Recherchereisen in der Türkei, mehrmals in der autonomen Region | |
| Kurdistan im Irak und 2022 mit meinem Vater in Shingal. | |
| Sie waren auch in Armenien … | |
| Genau, damals hatte ich aber noch gar nicht am Buch gearbeitet. Armenier | |
| haben auch eine lange Verfolgungsgeschichte, die sich teilweise mit derer | |
| der Êzîden kreuzt. Sie sind zeitweise zusammen nach Armenien geflohen, | |
| weshalb es heute dort auch êzîdische Dörfer gibt. | |
| Welche Rolle spielen Täterschaft und Schuld? | |
| Das spielt im Buch keine zentrale Rolle. Ich konnte aber auch nicht darauf | |
| verzichten, denn ohne die TäterInnen gebe es keinen Genozid. Deswegen bin | |
| ich auch [4][ins Gericht gegangen]. Im Gericht soll die Wahrheit | |
| herausgefunden werden. Es wird die Frage nach individueller Schuld | |
| gestellt. Ein wenig hat sich das auch auf meinen Schreibprozess übertragen. | |
| Es war der Versuch, die Wahrheit zu finden. Ich bin der Frage nachgegangen, | |
| was ist wirklich passiert. | |
| Haben Sie Ihr Material fiktionalisiert? | |
| Nein, als Zeugin trage ich Verantwortung. Die Verbrechen und erdrückende | |
| Realität konnte ich nicht fiktionalisieren und bleibe deshalb so nah dran | |
| wie möglich. Auch wenn manche Geschichten so grausam wie unglaublich | |
| scheinen. | |
| Sie schreiben: „Ich will mich aus dem Text streichen“ … | |
| Das „Ich“ benutze ich wegen meiner Zeugenschaft, der ich eigentlich nicht | |
| gerecht werden kann. | |
| Was fordern und wünschen Sie sich für das êzîdische Volk und tragen Sie | |
| dazu etwas mit Ihrem Roman bei? | |
| Ich hätte den Roman ewig weiterschreiben können. Wie die Überlebenden | |
| fordere ich, dass die Täter gerichtlich für ihre Taten verurteilt werden. | |
| Die Überlebenden sollen zu ihrem Recht kommen. Dazu gehört eine würdige | |
| Bestattung der Angehörigen und eine Zukunft in Shingal, ohne türkische | |
| Drohnen, Milizen und ungeräumte Sprengfallen. Ich fordere, die | |
| [5][Abschiebungen] der vielen in Deutschland lebenden Genozidüberlebenden | |
| zu stoppen. | |
| 17 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lilli Uhrmacher | |
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