# taz.de -- Jesidinnen über den Genozid: „Die Gräueltaten werden relativier… | |
> Vor 10 Jahren begann der Genozid an den Jesid*innen im Irak. Hakeema | |
> Taha und Düzen Tekkal sagen, das Leid sei noch nicht vorbei. | |
Bild: Düzen Tekkal (l.) und Hakeema Taha (r.) setzen sich für eine Aufarbeitu… | |
taz: Frau Taha, Frau Tekkal, [1][zum zehnten Mal] jährt sich der Überfall | |
durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) auf die Jesid*innen im | |
Nordirak am 3. August. Was bedeutet dieser Tag für Sie? | |
Hakeema Taha: Jedes Jahr ist diese Zeit sehr aufwühlend. Zwar meinen | |
manche, wir sollten die Vergangenheit hinter uns lassen. Aber solange der | |
IS noch existiert, werden wir nicht vergessen, was uns angetan wurde. Auch | |
nicht in 100 Jahren. | |
Düzen Tekkal: Es ist wichtig, sich klarzumachen: Der 3. August 2014 ist | |
[2][ein Bruch im kollektiven Gedächtnis] der jesidischen | |
Religionsgemeinschaft. Es gibt ein Leben von Jesiden davor und danach. Die | |
meisten, die mit dem Völkermord konfrontiert waren, sind nicht mehr in ihre | |
alten Leben zurückgekehrt. | |
taz: Auch Sie nicht, Frau Tekkal, obwohl Sie zu Beginn des Angriffs in | |
Deutschland waren. Noch im selben Monat sind Sie auf eigene Faust in den | |
Irak gereist. | |
Tekkal: Der IS kontrollierte damals noch weite Landstriche im Irak und in | |
Syrien. Die Öffentlich-Rechtlichen wollten mich nicht versichern, meinten, | |
die Reise sei zu gefährlich. Also bin ich selbst los, mit meinem Vater, | |
trotz vieler Morddrohungen. | |
Ich bin keine Hasardeurin. Ich liebe das Leben. Aber ich wollte nicht | |
tatenlos zusehen, sondern den Horror dokumentieren. Mit der Entscheidung | |
habe ich das Leben meiner ganzen Familie verändert. Und meins. Ich bin dort | |
als Journalistin hin und bin heute Menschenrechtsaktivistin. Immer wieder | |
kehre ich an den Ort des Grauens zurück. | |
taz: Frau Taha, auch Ihr Leben hat sich durch den Völkermord gravierend | |
verändert. Als 19-Jährige wurden Sie von IS-Kämpfern verschleppt. Dabei | |
hätten Sie eigentlich noch gerettet werden können. | |
Taha: Ja. Als wir gehört haben, dass erste jesidische Dörfer angegriffen | |
werden, wollten wir in die kurdischen Gebiete fliehen. Doch der Weg war | |
bereits von IS-Leuten versperrt. In die andere Richtung konnten wir nicht. | |
Unsere muslimischen Nachbarn in den arabischen Dörfern haben dem IS | |
geholfen. Sie haben uns verraten. | |
Zwölf Tage lang waren wir in unserem Dorf eingeschlossen. Internationale | |
Hilfe hat uns in dieser Zeit auch nicht erreicht. Das verstehe ich nicht. | |
Wir waren nur etwas mehr als 1.000 Menschen. Zwei Flugzeuge hätten uns | |
evakuieren können. | |
Tekkal: Die Jesiden wurden damals alleingelassen. Der Völkermord ist ein | |
Beispiel dafür, was mit Religionsgruppen passiert, wenn wir die Gefahr des | |
Islamismus, des religiösen Extremismus unterschätzen und die | |
Weltgemeinschaft wegguckt. Das muss uns eine Lehre sein. | |
taz: Insgesamt tötete und verschleppte der IS damals [3][mehr als 10.000 | |
Jesid*innen], viele werden noch vermisst. Vertrieben wurden | |
Hunderttausende. Sie, Frau Taha, haben 19 Familienmitglieder verloren. | |
Taha: Meine Eltern, sieben Brüder, einige Cousinen und Cousins, meine | |
Schwägerin, meine Schwiegermutter, Neffen und eine Nichte: 15 von ihnen | |
wurden direkt erschossen. Von den anderen habe ich seither nichts mehr | |
gehört. | |
taz: Sie selbst wurden entführt, über Mossul nach Rafah in Syrien gebracht | |
und versklavt. Wie haben Sie es geschafft, zu entkommen? | |
Taha: Wir waren mehrere Wochen unterwegs. Ständig wurden wir geschlagen, | |
gedemütigt und ausgelacht, wenn wir gesagt haben, dass wir nach Hause | |
möchten. Viele Frauen wurden vergewaltigt. Nach einiger Zeit waren meine | |
Schwester und ich bei einem Mann, der eigentlich aus Australien kam. Er | |
brauchte uns als Haushaltshilfen, weil seine Frau krank war. Einmal, als er | |
nicht da war, hat die Frau uns erlaubt, mit einem unserer Brüder zu | |
telefonieren, der auch überlebt hat. | |
taz: Der hat Ihnen dann bei der Flucht geholfen? | |
Taha: Er hat einen Freund geschickt. Anfang November, ich weiß es noch ganz | |
genau, um 18 Uhr. Es war schon dunkel. Wir sind in schwarzer Kleidung | |
rausgegangen, haben gesagt, dass wir den Müll wegbringen. Dann wurden wir | |
abgeholt und in ein Camp für Vertriebene nach Kurdistan gebracht. Dort | |
haben wir endlich unseren Bruder getroffen. Das war sehr schön und traurig | |
zugleich, weil so viele Angehörige nicht da waren. | |
taz: In diesem Camp haben Sie ein Jahr gelebt, bevor Sie über ein | |
Hilfsprogramm des Landes Baden-Württemberg nach Deutschland kamen. Wie kam | |
es dazu? | |
Taha: Ich wollte erst gar nicht, sondern bei meinen verbliebenen | |
Familienmitgliedern bleiben. Irgendwann habe ich es im Camp jedoch nicht | |
mehr ausgehalten und mich [4][für das Programm gemeldet]. Auch in | |
Deutschland war es anfangs schwer. Ich habe viel geweint. Besser wurde es | |
erst, als wir mit der Schule beginnen konnten. Und durch die psychosoziale | |
Unterstützung, die wir bekommen haben. Dafür bin ich sehr dankbar. | |
taz: Seit einigen Jahren sprechen Sie öffentlich über Ihre Geschichte, | |
obwohl der Islamismus auch hier in Deutschland eine Gefahr ist. Haben Sie | |
keine Angst? | |
Taha: Am Anfang hatte ich Angst. Auch um meine Angehörigen im Irak. Nach | |
ein paar Jahren habe ich mir gedacht: Okay, komm, wenn du jetzt nicht | |
kämpfst, eine die 19 Familienmitglieder verloren hat, wer sonst? Beweg dich | |
endlich! | |
Tekkal: Wenn man die individuelle Angst überwindet, kann daraus eine | |
unglaubliche kollektive Kraft und Stärke entstehen. Als ich mich 2014 auf | |
den Weg in den Irak gemacht habe, war das eine prägende Erfahrung. Mir | |
wurden Bilder von toten Frauen geschickt und dazu geschrieben: „Du bist die | |
nächste!“ Wie wichtig es ist, sich davon nicht einschüchtern zu lassen, | |
sehen wir heute. Keiner kann mehr behaupten, den [5][Genozid habe es nicht | |
gegeben]. | |
taz: Stimmt. Sie haben unter anderem den Deutschen Bundestag dazu bewegt, | |
den Völkermord an Ihrer Religionsgemeinschaft im Januar 2023 formal als | |
solchen anzuerkennen. | |
Taha: Wir Überlebenden waren als Gäste in den Bundestag geladen, als das | |
verkündet wurde. Wir haben uns damals sehr gefreut. Leider ist seither viel | |
zu wenig passiert. Noch immer ist unsere Heimat weitgehend zerstört und | |
[6][der Irak ist für die Jesiden nicht sicher]. Die meisten von ihnen leben | |
dort seit Jahren in Camps unter unmenschlichen Bedingungen. [7][Trotzdem | |
schiebt Deutschland] wieder Jesiden in den Irak ab. | |
taz: Dabei haben die Abgeordneten damals einstimmig beschlossen, sich „mit | |
Nachdruck“ für den Schutz jesidischen Lebens einzusetzen. | |
Taha: Ich verstehe es wirklich nicht. Zumal auch einige, die in den letzten | |
Monaten Abschiebebescheide erhalten haben, während des Genozids | |
Familienmitglieder verloren haben. Mein Bruder zum Beispiel oder der Mann | |
meiner Schwester. | |
Tekkal: Man muss es so hart sagen: [8][Die Jesiden werden wieder im Stich | |
gelassen]. Nach allem, was passiert ist und nachdem mutige Frauen wie | |
Hakeema Taha ihre Geschichten öffentlich gemacht haben, ist das unfassbar. | |
taz: Für das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge gilt der Irak | |
als sicheres Herkunftsland. In einem Bericht heißt es, die Jesid*innen | |
würden dort zwar unter weitreichender Diskriminierung leiden, jedoch nicht | |
unter systematischer Verfolgung. Der IS sei militärisch besiegt. | |
Tekkal: Hakeema hat es vorhin auf den Punkt gebracht. Wer war denn der IS? | |
Unter den Tätern waren teilweise auch eigene Nachbarn. Die große Gefahr für | |
die Jesiden ist ideologisch. Die Idee des IS versetzt die ganze Welt in | |
Angst und Schrecken. Und der antijesidische Rassismus nimmt wieder zu. Die | |
Gräueltaten an den Jesiden werden wieder relativiert und legitimiert. Wir | |
müssen uns wieder beschimpfen lassen. Wie ist der Völkermord damals | |
gelungen? Durch solche Feindbilder. | |
taz: Welche? | |
Taha: Die sind immer gleich. Es war ja nicht der erste Versuch, uns | |
auszulöschen. Warum? Wegen der Religion. Weil wir keine Muslime sind, | |
verteufeln die Islamisten uns, meinen, wir seien keine Menschen. Das | |
Problem betrifft viele religiöse Minderheiten. Das heißt nicht, dass der | |
Islam generell schlecht ist. Viele Muslime hießen damals nicht gut, was der | |
IS uns angetan hat. | |
taz: Die Bundesregierung setzt sich diplomatisch dafür ein, die Rechte der | |
Jesid*innen im Irak zu stärken. Frau Taha, Sie waren erst kürzlich für | |
Filmaufnahmen dort. Wie haben Sie es erlebt? | |
Taha: Wir haben faktisch keine Rechte im Irak. Gerade den vielen Menschen, | |
die in den Camps leben, [9][geht es sehr schlecht]. Im Sommer ist es heiß | |
und das Wasser knapp. Eine meiner Cousinen dort hat mir gesagt, sie bekämen | |
nur einmal in der Woche welches. Damit müssten sie extrem haushalten, sonst | |
reiche es nicht. Und den Menschen fehlt eine Zukunftsperspektive. Sie | |
können weder weggehen, noch gibt es ausreichend Arbeit. | |
taz: Um den irakischen Jesid*innen die Rückkehr aus den Camps in ihre | |
Heimat zu ermöglichen, versucht die Bundesregierung, die Region mit | |
Hilfsmitteln zu stabilisieren. Gleichzeitig bombardiert der Nato-Partner | |
Türkei ständig die angrenzenden kurdischen Gebiete. Und das, obwohl die | |
Hilfe für die Jesid*innen damals maßgeblich von Kurd*innen ausging. | |
Tekkal: Davon geht auch für die Jesiden im Irak die größte Gefahr aus. Wie | |
kann es sein, dass Nato-Bündnispartner völkerrechtswidrige Angriffe | |
fliegen? Und über Afrin wird gar nicht mehr gesprochen. Seit Jahren löscht | |
die Türkei dort mit Zwangsumsiedlungen [10][kurdisches und jesidisches | |
Leben aus]. | |
Erdoğan ist für das Erstarken des Islamismus und des religiösen Extremismus | |
mitverantwortlich. Seine Nähe zur Muslimbruderschaft und der Hamas sowie | |
seine Rolle in der Zweiteilung der Gesellschaften in liberal und | |
islamistisch darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. | |
taz: Was müsste die Bundesregierung außenpolitisch verändern? | |
Tekkal: Anstatt ihnen in den Rücken zu fallen, müsste sie die Rolle der | |
Kurden nach vorne stellen. Wir brauchen eine Trendwende in der gesamten | |
Nahostpolitik. Wir müssen den Minderheiten im Nahen Osten aber auch uns als | |
Europa klarmachen, dass wir Verbündete sind. | |
taz: Und innenpolitisch? | |
Taha: Ganz klar: Die Abschiebungen müssen gestoppt werden. Wir wollen uns | |
hier ein neues Leben aufbauen. Dafür brauchen wir eine langfristige, | |
sichere Perspektive. | |
3 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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