# taz.de -- Radioprojekt im Nordirak: Traumata und Träume | |
> Im Nordirak ist das Misstrauen zwischen Jesiden, Arabern und Kurden groß. | |
> Jetzt wollen sie gemeinsam einen Radiosender gründen. Wie kann das | |
> gelingen? | |
Bild: Der Archäologe Faisal Jeber setzt sich für Aussöhnung ein – hier ste… | |
Sindschar und Mossul taz | An einem sonnigen Januartag sitzt Mirza Dinnayi | |
am Steuer seines Autos. Der jesidische Menschenrechtsaktivist ist auf dem | |
Weg in sein Heimatdorf Khanasor in Sindschar im Nordirak. Mit der rechten | |
Hand tippt er am Audioradio durch den Senderdurchlauf. Doch aus den | |
Lautsprechern rauscht es nur. Niemand habe sich bislang ernsthaft dafür | |
interessiert, hier einen Radiosender zu betreiben, sagt er, weder die | |
Regierung noch private Medienhäuser. Doch das Rauschen aus den | |
Lautsprechern soll bald verschwinden. | |
Eigentlich setzt sich Dinnayi vor allem für die Rechte der Jesiden ein, | |
eine ethnisch-religiöse Minderheit, die hier im Nordwestirak nahe der | |
syrischen Grenze beheimatet ist. Jetzt hat er gemeinsam mit Katharina | |
Dönhoff von der deutschen NGO „Hand für Hand“ ein Medienprojekt ins Leben | |
gerufen, das Jesiden und andere Bevölkerungsgruppen zusammenbringen soll. | |
„Unser Ziel ist es, die Stimme der Minderheiten der Ninawa-Ebene zu | |
stärken“, sagt Dinnayi, also in jenem Gebiet, in dem neben Jesiden und | |
Arabern auch Kurden und Christen leben. Die Teilnehmer:innen | |
durchlaufen eine sechsmonatige Ausbildung, in der sie sich zunächst Ideen | |
für Podcasts überlegen diese dann umsetzen. Im Anschluss sollen daraus ein | |
lokaler Radiosender und ein Internetradio entstehen. | |
Dinnayi fährt mit seinem Auto über die schlaglochreiche Landstraße, vorbei | |
an einer kargen Landschaft, in der hin und wieder flache Häuser auftauchen. | |
Wenn er nicht gerade in Deutschland oder in Bagdad ist, sondern hier in | |
Sindschar, lebt er in Khanasor, im früheren Haus seiner Eltern. Etwa zehn | |
Autominuten entfernt vom Ort hat er vor ein paar Jahren das „House of | |
Coexistence“ gegründet. | |
In dem Kultur- und Bildungszentrum finden sich zwei Tage später die | |
Teilnehmer:innen zu einem ersten Workshop als Auftaktveranstaltung ein. | |
Etwa 30 Leute sind gekommen, acht von ihnen Frauen. Die meisten sind etwa | |
zwischen 20 und Mitte 30. Sie sitzen in den ersten Reihen eines | |
weiträumigen Konferenzsaals und blicken nach vorne auf die Bühne, wo die | |
Gruppen nacheinander ihre Podcastthemen vorstellen. | |
## Vorwurf der Teufelsanbeterei | |
Die Stimmung ist eigentlich entspannt. Bis Faisal Jeber ans Podium tritt. | |
Der Archäologe aus Mossul und seine Assistentin sind heute die einzigen | |
Araber, die nach Sindschar gekommen sind. „Es gibt Muslime, die glauben, | |
dass ihr den Teufel anbetet“, sagt Jeber auf Arabisch an die Jesiden im | |
Publikum gewandt. „Und ich weiß, dass ihr das nicht tut. Also möchte ich, | |
dass ihr diesen Muslimen etwas entgegensetzt und ihnen eure | |
Schöpfungsgeschichte erzählt. Ich möchte, dass ihr selbstbewusst genug | |
seid, die Erzählung der Muslime herauszufordern.“ | |
Jeber, der seine langen grauen Haare zu einem Zopf gebunden hat und einen | |
dunkelblauen Nadelstreifenanzug trägt, spricht damit eine alte Wunde an. Es | |
geht um die Vorurteile, die Jesiden hier im Nordirak immer wieder | |
abbekommen, besonders von muslimischen Kurden und Arabern. So verehren die | |
Jesiden den Pfauenengel Melek Taus – doch eine bestimmte islamische | |
Interpretation der jesidischen Schöpfungsgeschichte setzt diesen Engel mit | |
dem Teufel gleich. | |
Auch der Islamische Staat legitimierte mit der Erzählung seinen | |
[1][Völkermord an den Jesiden]. Hier in Sindschar fielen die bärtigen | |
Kämpfer im August 2014 in jesidische Dörfer ein, nahmen Zivilisten | |
gefangen, erschossen Männer, Jugendliche, Alte, und verkauften Frauen und | |
Mädchen in die Sexsklaverei. | |
Diese Traumata wühlt Jeber auf, wenn er den Vorwurf der Teufelsanbeterei | |
anspricht. „Bitte wechseln Sie das Thema“, sagt einer der Teilnehmer mit | |
lauter Stimme. | |
Dabei hat der Workshop „Helin Voices“, der heute beginnt, das Ziel, | |
Minderheiten aus dem Nordirak in den Dialog zu bringen. Fünf bis sechs | |
Monate lang soll der Kurs dauern, insgesamt 200 Stunden. Die | |
Teilnehmer:innen sollen journalistisches Handwerk und den Umgang mit | |
Social Media lernen, aber auch über Medienethik und Genderfragen | |
diskutieren. Bezuschusst wird das Projekt mit deutschen | |
Entwicklungsgeldern. | |
Die Gruppen sprechen vor allem über lokale Themen. Eine redet über das | |
Wasser in den Sindschar-Bergen, das immer knapper wird. Sie schlagen vor, | |
Dämme zu bauen, um den Fluss besser regeln zu können. Eine andere Gruppe | |
thematisiert die hasserfüllten Kommentare, die sich Jesiden im Netz anhören | |
müssen, und wie man sie bekämpfen kann. Und eine weitere spricht über | |
Fußball, über Real Madrid und Manchester City. „Wir reden immer über | |
Politik, wir sollten auch mal über andere Themen reden“, sagt ein | |
Teilnehmer. Workshopleiter Dinnayi stimmt zu. | |
Dinnayi ist in Sindschar allseits bekannt, und auch er selbst scheint hier | |
die halbe Welt zu kennen. Schon als Medizin-Student in Mossul setzte er | |
sich unter dem Regime von Saddam Hussein für die Rechte von Jesiden ein. | |
Wegen seines Engagements musste er das Land 1995 verlassen und erhielt in | |
Deutschland politisches Asyl. Bis heute lebt Dinnayi mit seiner Familie | |
nördlich von Hannover. | |
Als 2014 hunderttausende Jesiden von dem anrückenden IS in die | |
Sindschar-Berge flohen, half er, die Flüchtlinge per Helikopter mit dem | |
Nötigsten zu versorgen. Bis sein Hubschrauber über den Bergen abstürzte. | |
Zwei Insassen kamen ums Leben, aber Dinnayi überlebte. „Ich sagte mir: Es | |
gibt einen Grund, warum ich überlebt habe. Und genau aus diesem Grund muss | |
ich etwas unternehmen. Es bleibt keine Zeit, zu sterben.“ | |
## Kämpfen für den Frieden | |
Dinnayi und der Archäologe Faisal Jeber sind Freunde, seit sie sich 2018 | |
auf einer Gedenkfeier für ein IS-Massaker an Jesiden im Dorf Kocho | |
kennengelernt haben. Auch für Jeber war der [2][Siegeszug des Islamischen | |
Staats] ein tiefer Einschnitt. Er arbeitete als Dozent, als die | |
Dschihadisten 2014 seine Heimatstadt Mossul einnahmen. In den nächsten drei | |
Jahren rekrutierte er eine multikonfessionelle Miliz, die – ausgerüstet von | |
den Amerikanern – in Mossul gegen den IS kämpfte und dabei auch versuchte, | |
archäologische Artefakte zu retten. | |
Jeber setzt sich dafür ein, dass beim Wiederaufbau Mossuls auch das | |
christliche und jüdische Erbe der Stadt berücksichtigt werden. Die Waffen | |
hat er mittlerweile abgelegt. Heute bezeichnet sich Jeber als | |
Friedensaktivist. | |
Nach dem Workshop sitzt der 54-Jährige in der Bibliothek des House of | |
Coexistence. Es ist ein kleiner Raum mit großer Fensterfront, durch die man | |
in der Ferne den Gebirgszug Dschabal Sindschar sieht, der sich wie der | |
Rückenkamm eines Tieres aus der umliegenden Ebene erhebt. Die Regale der | |
Bibliothek sind spärlich bestückt, Dinnayi ist noch dabei, sie mit Büchern | |
zu füllen. | |
„Der jesidischen Gemeinschaft mangelt es immer noch an Selbstverteidigung“, | |
sagt Jeber. „Deswegen dachte ich, dieses Medientraining könnte eine gute | |
Plattform sein, damit Jesiden über sich selbst sprechen. Anstatt, dass | |
immer nur andere über sie sprechen.“ | |
Abeer Ramo gefällt Jebers Vorstoß. „Wir müssen den anderen Religionen | |
unsere eigene Religion nahebringen, weil sie sehr üble Dinge über uns | |
denken“, sagt die 21-jährige Jesidin nach der Veranstaltung. Ihr braunes | |
Haar hat sie hinten mit einer goldenen Schleife zusammengebunden, an den | |
Ohren blitzen silberne Ringe. „Ich glaube, dieses Projekt wird gut für die | |
kommenden Generationen“. Ramo und ihre Gruppe stellen an diesem Tag eine | |
Idee für einen Podcast vor, der über den Einfluss sozialer Medien auf | |
Kinder aufklären soll. | |
Außerhalb des Projekts engagiert sich Ramo als Freiwilllige in einem | |
Verein, der in der Region das Bewusstsein für den Klimawandel schärfen | |
will. Von einem Kollegen habe sie von der Medienausbildung erfahren und | |
sich beworben. Ramo plant, in der Zukunft Journalismus zu studieren: „Die | |
meisten Mädchen in unserer Community entscheiden sich für Medizin, | |
Ingenieurwissenschaften oder ähnliche Fächer. Aber ich will anders sein“. | |
Ramo lebt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zusammen, der Vater ist | |
bereits verstorben. „Wie mein Vater will ich auf eigenen Beinen stehen und | |
Geld verdienen, um eine Familie zu unterhalten“, sagt sie. Herausfordernd | |
sind dabei nicht nur die patriarchalen Verhältnisse, sondern auch die Armut | |
in der jesidischen Gemeinschaft. | |
Bis auf Faisal Jeber und seine Assistentin sind zum Auftakttreffen heute | |
fast nur Jesiden erschienen. Rund um das 150 Kilometer entfernte Mossul | |
gibt es einige Interessierte, aber sie wurden zu kurzfristig informiert, um | |
die Anreise per Minibus zu organisieren. Jeber bietet deshalb an, am | |
morgigen Tag dort ein zweites Kick-Off-Meeting abzuhalten, in einem | |
Kulturzentrum, das er mit leitet. | |
Und weil die Dinge hier dann ebenso kurzfristig zum Laufen kommen, werden | |
die Interessierten noch am selben Tag abtelefoniert. So machen sich Dinnayi | |
und die NGO-Leiterin Dönhoff am nächsten Tag auf nach Mossul, vorbei an | |
zahlreichen Checkpoints, die von unterschiedlichen Milizen und | |
Sicherheitskräften kontrolliert werden. | |
## Eine zerstörte Stadt | |
In Mossul, der zweitgrößten Stadt des Iraks, ist die Zerstörung des Krieges | |
noch allgegenwärtig. Hier, in der an-Nuri-Moschee, hatte der IS-Führer Abu | |
Bakr al-Baghdadi 2014 das Kalifat ausgerufen. Das Kulturzentrum liegt in | |
einer ruhigen Seitenstraße unweit des Flusses Tigris. Direkt nebenan bauen | |
Arbeiter die syrisch-katholische Al-Tahera Kirche wieder auf, die der IS | |
unter seiner Herrschaft zerstört hatte. | |
Drinnen im Konferenzhaus erzählt Dinnayi den Teilnehmer:innen, wie der | |
Workshop ablaufen wird. In der Vorstellungsrunde wird klar, dass hier | |
Menschen mit verschiedenen Hintergründen zusammengekommen sind. „Wir haben | |
Jesiden, katholische und orthodoxe Christen, Schabak, Schiiten, Sunniten, | |
Kurden und Araber“, sagt Dinnayi im Anschluss. | |
Eine der Teilnehmerinnen ist Rahma Waleed. „Ich denke über einen Podcast | |
nach, in dem es um die Stärkung von Frauen in der Wirtschaft und in der | |
Politik geht“, sagt sie. Waleed ist heute aus Nimrud gekommen, einer alten | |
assyrischen Stadt, die 30 Kilometer südlich am Lauf des Tigris liegt. Sie | |
führt dort ein Team aus Frauenaktivistinnen an. | |
Auch in Nimrud hat das Kalifat seine Spuren hinterlassen – der Ort war eine | |
der Hochburgen der IS-Unterstützung. „In unserer Region haben wir das | |
Misstrauen zwischen den Opfern von ISIS und den ISIS-Familien“, sagt | |
Waleed. „Die ganze Gesellschaft hat Opfer. Ob sie Muslime sind oder | |
Jesiden, ob sie in der Stadt wohnen oder auf dem Land.“ Sie selbst verlor | |
im Krieg ihren Onkel und unter dem IS drei Jahre ihrer Ausbildung: „Wir | |
sind alle Opfer.“ | |
In ihren Augen muss jetzt vor allem der wirtschaftliche Aufschwung | |
gefördert werden. „Wenn du mit einer Person handelst, wirst du sie | |
persönlich kennenlernen. Und das bedeutet, Vertrauen wiederaufzubauen.“ | |
Ein Vorbild für das Podcastprojekt ist [3][der Sender Arta FM aus | |
Nordostsyrien]. In der autonomen Region dort sendet Arta auf Kurdisch, | |
Arabisch, Aramäisch und Armenisch und liefert ein lebensnahes Programm für | |
die örtliche Bevölkerung. Doch kann „Helin Voices“ einen ähnlichen Erfolg | |
haben wie Arta? An der Motivation der Teilnehmer wird es nicht scheitern, | |
da ist sich Mirza Dinnayi sicher. Er und Katharina Dönhoff sitzen nach dem | |
Workshop wieder im Auto und fahren aus Mossul nach Erbil, die Hauptstadt | |
Irakisch-Kurdistans. Draußen ist es dunkel. | |
Was die beiden umtreibt, ist dagegen die langfristige Finanzierung eines | |
möglichen Senders. „Wir hoffen auf Partnerschaften“, sagt Dinnayi. „Alle… | |
die Gebühren für die Radiofrequenz liegen zwischen 20 und 25.000 Dollar“. | |
Ein paar Tage zuvor hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, alle | |
Entwicklungsgelder von USAID zurückzuhalten – eine Katastrophe für Dinnayi. | |
Acht seiner elf Angestellten kann er jetzt vorerst nicht mehr bezahlen. | |
Und wie ist es um die Pressefreiheit bestellt? Wird ein künftiger Sender | |
frei arbeiten können? „Ich glaube, wir müssen ein bisschen vorsichtig sein. | |
Aber trotzdem müssen wir die Pressefreiheit verteidigen“, sagt Dinnayi. „Es | |
gibt vielleicht bestimmte Themen, die man nicht erwähnen kann. Insbesondere | |
an dieser Grenze“, sagt er und deutet in die Dunkelheit vor ihm. Er meint | |
die Grenze zwischen dem Zentralirak und Irakisch-Kurdistan, deren Verlauf | |
umstritten ist. | |
Aber solche politischen und militärischen Fragen seien gar nicht sein | |
Interessenbereich, erklärt Dinnayi. Stattdessen gehe es um Koexistenz, um | |
Frieden und Versöhnung. Es sind hohe Ziele für eine Region, in der die | |
Traumata noch so lebendig sind. | |
4 Mar 2025 | |
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