# taz.de -- Irakische Marschgebiete: Gefährdetes Paradies im Schilf | |
> Nach dem Sturz Saddam Husseins wurden die Sumpfgebiete im Südirak | |
> renaturiert. Heute sind sie bedroht durch Klimawandel, Staudämme – und | |
> Armut. | |
Bild: Früher waren die Boote aus Schilf oder Baumstämmen, heute sind sie aus … | |
Nassirije/Dschibaisch taz | Von einer Sekunde auf die andere breitet sich | |
eine paradiesische Ruhe aus. Nachdem der lärmende Außenbordmotor wegen des | |
flachen Wassers ausgestellt werden musste, gleitet das Boot fast lautlos | |
durch den Schilfgürtel. Zwei Meter hoch sind die Pflanzen, dazwischen | |
Eisvögel, Fischreiher und viele andere Marschbewohner. Sie geben sich | |
entspannt, seit der Motor nicht mehr lärmt. Neugierig beobachten sie die | |
Besucher in ihrer feuchten Welt. | |
Am Steuer des kleinen Bootes sitzt Ali al-Ahwary, ein Umweltaktivisten aus | |
einem Städtchen am Rande des [1][Marschgebietes im Südirak]. Mit dem | |
traditionellen Holzstock schiebt er das Boot durch das scheinbar unendliche | |
Schilfmeer der Marschen. | |
Für einen Moment gibt es nichts als diese geschichtslose, seit undenklichen | |
Zeiten existierende Natur. „Paradiesisch“ sagt jemand, und tatsächlich | |
haben die Menschen in grauer Vorzeit schon gedacht, dass hier einmal das | |
Paradies gelegen haben soll, aus dem laut Altem Testament Adam und Eva von | |
Gott vertrieben wurden. | |
Das Boot gleitet durch Wasserwege und durch Schlupflöcher im eng stehenden | |
Schilf zu einem Dorf. Dort leben sogenannte Marsch-Araber – Menschen, die | |
seit Tausenden Jahren das Schwemmgebiet der Flüsse Euphrat und Tigris ihre | |
Heimat nennen. | |
## Ehemals eines der größten Feuchtgebiete weltweit | |
Ihre Lebensweise, schrieb der britische Forscher und Reiseschriftsteller | |
Wilfred Thesiger in den 1950er Jahren, unterscheide sich kaum von der der | |
Sumpfland-Sumerer vor 5.000 Jahren. Damals waren die Marschgebiete noch | |
eines der größten Feuchtgebiete der Erde. Die Menschen lebten von Milch und | |
Fleisch ihrer Wasserbüffel und dem Fischfang. Die Häuser bestanden | |
ausschließlich aus geflochtenem Schilf, die Boote entweder ebenfalls oder | |
manchmal auch aus einem ausgehöhlten Baumstamm. | |
Thesiger begeisterte sich in seinem Buch über die Marscharaber vor allem | |
für deren Unabhängigkeit. Ihr Leben in den Sümpfen sei frei, keine | |
Obrigkeit schreibe ihnen etwas vor. Diese alte Lebensweise hat sich in den | |
vergangenen siebzig Jahren drastisch verändert. Früher bestimmte die Natur | |
– und ihre langsame Veränderung im Laufe der Zeit – das Leben. Dann kamen | |
die Eingriffe der Menschen. | |
Am Zusammenfluss von [2][Euphrat und Tigris] – gespeist durch die | |
jährlichen Überflutungen durch die beiden Flüsse im Frühjahr – bildete si… | |
vor Jahrtausenden ein Sumpfgebiet. Hunderte Kilometer lang zog es sich quer | |
durch den heutigen Südirak. Zur Zeit der Sumerer flossen Euphrat und Tigris | |
noch unabhängig voneinander in den Persischen Golf, der damals noch viel | |
weiter nach Norden reichte als heute – bis zur alten Stadt Ur, auf der Höhe | |
der heutigen Stadt Nassirija. Beide Flüsse bildeten jeweils ein riesiges | |
Delta, die im Sumpfgebiet der Marschen ineinander übergingen. | |
Als sich die Küste des Golfes durch die alljährlichen Sedimentanspülungen | |
der beiden Flüsse immer weiter nach Süden verschob, bildeten die beiden | |
Flüsse schließlich für die letzten Kilometer zum Meer einen gemeinsamen | |
Strom, den Schatt al-Arab. Am Zusammenfluss von Tigris und Euphrat blieben | |
die Marschgebiete bestehen, und jedes Jahr aufs Neue wurden sie durch die | |
Frühlingsfluten der Flüsse wieder überspült. | |
## Das Leben kehrt zurück | |
Doch durch menschliche Übergriffe wurden die Marschen nahezu ausgetrocknet. | |
Erst in den letzten zwanzig Jahren haben einige Umweltaktivisten dafür | |
gesorgt, dass mindestens in einen Teil der Marschen das Wasser wieder | |
zurückgekehrt ist. Nicht auf der gesamten Fläche, die sie früher bedeckt | |
haben – aber immerhin in einen zentralen Bereich der Marschen ist so das | |
Leben zurückgekehrt. Und mit ihm auch einige Bewohner. | |
Von der früher beschriebenen Idylle der Dörfer im Sumpf ist heute nicht | |
viel übriggeblieben: Die Bewohner sind sehr arm, ihre früher imposanten | |
Schilfhäuser sind heute mit Plastikplanen überdeckt, um Regen und Wind | |
besser abhalten zu können. Eine ganze Schar Kinder wartet am Ufer, ohne | |
Schuhe an den Füßen. Die Kinder zeigen stolz die Büffel der Familie, mit | |
ihren geschwungenen Hörnern und langen Ohren. | |
Dann kommen der Vater der Kinder und der ältester Sohn hinzu. In aller | |
Frühe waren sie zur nächsten Kleinstadt gefahren, um dort Büffelmilch und | |
Joghurt zu verkaufen. Mit einigen Lebensmitteln und Kraftfutter für die | |
Büffel kehren sie zurück. Strom gibt es hier nicht, und auch kein | |
Trinkwasser. Die beiden bringen es ebenfalls aus dem Ort mit. Denn das | |
Wasser der Marschen ist als Trinkwasser für Menschen nicht mehr geeignet. | |
Nur die Büffel vertragen es noch. | |
Die Marscharaber sind meist arm und wenig gebildet, sprechen einen Dialekt, | |
den die Mehrheitsbevölkerung des Landes nicht versteht, und werden oft | |
diskriminiert. Das war früher anders, erklärt Umweltaktivist Jassim | |
al-Asadi. Er lebt in Dschibaisch, einem Dorf im Zentrum des Marschlandes. | |
Hinter dem Tor geht es durch einen kleinen Garten in das Erdgeschoss eines | |
Holzhauses. Ein großer Raum, vollgehängt mit Plakaten der | |
Umweltorganisation Nature Iraq, ist sein Arbeitszimmer und seine | |
Bibliothek. | |
## Saddam Husseins Erbe | |
Im südlichen Irak ist al-Asadi der Vertreter von Nature Iraq. Er ist 67, | |
ein freundlicher Mann mit weißem Haar und unter Umwelt- und Naturschützern | |
eine Legende. Ihm ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass in den über 20 | |
Jahre lang ausgetrockneten toten Marschen das Leben wieder zurückgekehrt | |
ist. Bis heute ist er so etwas wie der Wächter des Wassers. | |
Die Marschgebiete des Irak waren bis in die 1980er Jahre noch weitgehend | |
intakt. In den meisten Gebieten der Erde wurden große Sumpfgebiete mit dem | |
Ziel trockengelegt, neues Ackerland zu gewinnen. Doch im Irak war die | |
Trockenlegung der Sümpfe ein politischer Akt: Der [3][damalige irakische | |
Diktator Saddam Hussein] gab den Befehl. | |
Im Schutze der Marschen waren während des Iran-Irak-Krieges Kämpfer der | |
iranischen Revolutionsgarden auf irakisches Terrain vorgedrungen und hatten | |
es zeitweilig auch besetzt. Nach dem Krieg dienten die Marschen irakischen | |
Dissidenten – vorwiegend Schiiten, die gegen den angeblichen säkularen | |
Diktator Front machten – als Unterschlupf. | |
Anfang der 1990er Jahre gab Saddam Hussein deshalb den Befehl, die Marschen | |
trockenzulegen. Ein Heer an Arbeitskräften wurden aus dem gesamten Irak | |
zusammengezogen. Und dann wurden Dämme und Deiche gebaut, um die beiden | |
Flüsse so einzumauern, dass ihr gesamtes Wasser direkt in den Schatt | |
al-Arab abfloss. Es war eine ökologische Katastrophe. | |
## Marschen sind inzwischen Unesco-Welterbe | |
Als Saddam Hussein durch die Invasion des US-Militärs im Jahr 2003 | |
schließlich gestürzt wurde, trieb Jassim al-Asadi irgendwo einen Bagger auf | |
und begann, die Deiche entlang der beiden Flüsse wieder einzureißen. Nach | |
20 Jahre ökologischem Frevel strömte wieder Wasser in die Marschen. Nach | |
der Trockenlegung der Marschen waren Jassim al-Assasi in die Haupstadt | |
Bagdad gezogen. 2003 kehrte er zurück – und arbeitet seitdem unermüdlich | |
für die Rettung der Feuchtgebiet. | |
Mittlerweile wurden die irakischen Marschen von [4][der Unesco] zum | |
Weltnaturerbe erklärt. Und in den Jahren nach 2003 schien es, als würden | |
sich die Marschen erholen: Etwa die Hälfte konnte wieder bewässert werden. | |
Doch seit mehreren Jahren schrumpft das Sumpfgebiet wieder. Der Wasserstand | |
der Flüsse Euphrat und Tigris nimmt dramatisch ab: zum einen durch das | |
immer wärmer werdende Klima, zum anderen wegen der vielen Staudämme, die an | |
den Oberläufen der beiden Flüsse in der Türkei gebaut wurden. | |
Auf Drängen von Jassim al-Asadi und anderen Aktivisten aus der Marschregion | |
haben die Behörden vor Ort nun einer Maßnahme zugestimmt, um die erneute | |
Austrocknung der Marschgebiete zu verhindern. Kurz vor dem Zusammenfluss | |
von Euphrat und Tigris wurde in den Euphrat ein Wehr, eine Wassersperre | |
gebaut. | |
An dieser wird das Euphrat-Wasser in die Marschen geleitet, solange der | |
Fluss weniger als 1,70 Meter Wasserhöhe hat. Überschreitet der Euphrat 1,70 | |
Meter Wasserhöhe, fließt das Wasser über das Wehr hinüber weiter in den | |
Tigris und den Schatt al-Arab. „Ohne dieses Euphrat-Wasser läge der größte | |
Teil der Marschen jetzt schon wieder trocken“, erklärt er. | |
## „Am Ende haben wir es selbst gemacht“ | |
Fast jeden Tag ist al-Asadi in den Marschen unterwegs. Am Rande der am | |
Euphrat gelegenen Stadt Dschibaisch hat er mit Unterstützung von Nature | |
Iraq eine biologische Kläranlage aufbauen lassen, die das Abwasser des | |
Ortes reinigt. Erst danach wird es wieder in die Sümpfe geleitet. | |
Er zeigt auf ein Becken, in dem durch Pflanzen das schmutzige Wasser | |
gefiltert wird. „Eine ganz einfache, aber sehr wirkungsvolle biologische | |
Reinigungsanlage“, sagt er stolz. „Jahrelang haben wir uns dafür mit | |
verschiedenen Behörden herumgeschlagen. Am Ende haben wir es einfach selber | |
gemacht.“ | |
Al-Asadi kennt viele Marscharaber und ihre Familien noch aus der Zeit vor | |
der Trockenlegung der Sümpfe. „Damals“, erzählt er, „waren viele ihrer | |
Dörfer noch weitgehend autark. Sie konnten in den Sümpfen von den Sümpfen | |
leben. Es gab sogar kleine Krankenstationen und Dorfschulen.“ Davon sei | |
nichts mehr übrig – obwohl einige Menschen zurückgekehrt seien. Doch die | |
meisten Familien pendelten zwischen ihren Dörfern in den Marschen und den | |
Kleinstädten am Rand der Sümpfe. | |
Doch immerhin: Das Leben ist in die über 20 Jahre lang trocken gelegenen | |
Sümpfe zurückgekehrt. Pflanzen und Tiere haben das Gebiet erstaunlich | |
schnell zurückerobert: „Als wir die ersten Dämme eingerissen hatten, war es | |
schon nach wenigen Monaten wieder grün“, erinnert sich al-Asadi. Auch die | |
Vögel, Fische und Insekten kamen schnell zurück. | |
## Rettung ist möglich | |
Ali al-Ahwary hat zusammen mit seiner Familie und Freunden einen kleinen | |
Anleger am Rand des Feuchtgebietes in Dschibaisch gebaut. Von dort aus | |
transportieren er und seine Mitstreiter Besucher per Boot in die Sümpfe. | |
Anschließend wird auf dem Grill lokal gefangener Fisch gebraten und | |
verzehrt. | |
Al-Ahwary besuchte im Jahr 2023 gemeinsam mit anderen Aktivisten die | |
Weltklimakonferenz im Golfemirat Dubai – im Gepäck konkrete Forderungen an | |
die Nachbarländer des Irak. „Damit die irakischen Marschen langfristig | |
überleben können, müssen die Türkei und der Iran mehr Wasser aus den | |
Oberläufen von Tigris, Euphrat und ihren Nebenflüssen zu uns durchlassen.“ | |
Al-Asadi pflichtet ihm bei. Und sagt dann: „Aber auch der Irak selbst muss | |
besser mit dem vorhandenen Wasser umgehen.“ Dennoch sind beide fest | |
überzeugt: Eine Rettung der irakischen Marschgebiete, dieser | |
jahrhundertealten, so besonderen Landschaft, ist möglich – auch auf Dauer. | |
14 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/irak-suempfe-101.html | |
[2] /Museen-und-Archaeologie-im-Irak/!6063222 | |
[3] /20-Jahre-Irak-Krieg/!5923238 | |
[4] https://www.unesco.de/ | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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