| # taz.de -- Jahrestag des Genozids an den Jesiden: „Es geht um das Gefühl, w… | |
| > Bis heute leben viele Jesiden als Binnengeflüchtete in | |
| > Irakisch-Kurdistan. Für die Rückkehr fehlt Sicherheit, sagt Katharina | |
| > Dönhoff vom Verein ‚Hand für Hand‘. | |
| Bild: Auf der Flucht: Jesidinnen am 5. August 2014 in Sindschar | |
| Am 3. August 2014 begann die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) mit ihrem | |
| Überfall auf die jesidischen Gemeinden in Sindschar, einer Region im | |
| Nordirak. Dort lebten damals viele Angehörige der religiösen Minderheit der | |
| Jesiden. Manche von ihnen konnten sich in das Sindschar-Gebirge retten, und | |
| schließlich mithilfe kurdischer Truppen weiter flüchten, in Richtung der | |
| Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Viele andere wurden vom IS gefangen | |
| genommen, versklavt, ermordet. Bis heute werden [1][Massengräber, in denen | |
| Opfer des Genozids an den Jesiden liegen], ausgehoben. Und bis heute sind | |
| nur wenige Jesidinnen und Jesiden in ihre Heimat Sindschar zurückgekehrt. | |
| taz: Viele der Jesidinnen und Jesiden, die 2014 in die Autonome Region | |
| Kurdistan im Nordirak flüchteten, kamen in Zeltcamps unter. Und leben dort | |
| noch heute, elf Jahre nach dem Völkermord. Wie blicken die Menschen auf die | |
| Rückkehr in ihre Heimat? | |
| Katharina Dönhoff: Die meisten Jesidinnen und Jesiden wollen zurück in ihre | |
| Heimat nach Shingal (der kurdische Begriff für Sindschar, Anm. d. Red.). | |
| Sie sagen: ‚Unsere Geschichte, unser Land – das ist Shingal‘. Es geht um | |
| Identität, um das Gefühl, wieder ganz zu sein. Gleichzeitig gibt es eine | |
| jüngere Generation, die in Kurdistan verwurzelt ist. Manche studieren, | |
| haben Arbeit, Freund:innen. Für sie ist Shingal zwar Heimat – aber keine | |
| Zukunft. | |
| taz: Welche Faktoren erschweren ihnen die Rückkehr? Und was würde | |
| Jesidinnen und Jesiden helfen, nach Sindschar zurückzukehren? | |
| Dönhoff: In Shingal fehlt es an allem: Sicherheit, Infrastruktur, | |
| Verwaltung. Das größte Hindernis für eine Rückkehr ist ganz klar die | |
| fehlende Sicherheit. Die Jesidinnen und Jesiden haben durch den Völkermord | |
| 2014 das Vertrauen verloren – und bislang keinen Grund, es | |
| wiederzugewinnen. Es gibt im Irak bis heute kein funktionierendes | |
| Justizsystem, das die IS-Täter von damals konsequent verfolgt und zur | |
| Rechenschaft zieht. Viele leben weiterhin unbehelligt in den Dörfern, zum | |
| Teil direkt in der Nähe der Überlebenden. | |
| Auch staatliche Strukturen fehlen fast vollständig. Es gibt keine | |
| funktionierende Verwaltung, kaum Schulen, keine verlässliche medizinische | |
| Versorgung. Viele Häuser sind zerstört, teils noch immer vermint. Wer | |
| zurückkehrt, steht meist vor dem Nichts. | |
| Dazu kommt: Jesidinnen und Jesiden fehlt der Einfluss, ihre Lebensrealität | |
| politisch mitzugestalten. Ihre politischen Interessen finden kaum Gehör. | |
| taz: Nicht alle Jesidinnen und Jesiden in Kurdistan leben in Camps. Ihr | |
| Verein ‚Hand für Hand‘ unterstützt das in Kurdistan gelegene Dorf Sina, d… | |
| von jesidischen Binnenvertriebenen bewohnt wird. Wie funktioniert dieses | |
| Modell? | |
| Dönhoff: Nach dem Völkermord 2014 suchten über 300.000 Jesidinnen und | |
| Jesiden Schutz in der kurdischen Autonomieregion. Ein Teil zog in rund 25 | |
| längst verlassene Dörfer, die oft seit Jahrzehnten leer standen. Was sie | |
| dort vorfanden, waren meist Ruinen oder unfertige Rohbauten. Diese Dörfer | |
| wurden aus eigener Initiative wiederbesiedelt – nicht staatlich geplant, | |
| sondern aus Mangel an Alternativen. Die Bedingungen dort sind weiterhin | |
| prekär. | |
| Sina ist eines dieser Dörfer. Als wir 2018 zum ersten Mal dorthin kamen, | |
| haben wir uns mit den Familien zusammengesetzt und gefragt: Was braucht | |
| ihr? Und so hat sich Schritt für Schritt etwas entwickelt. Wir haben eine | |
| dieser Ruinen angemietet, sie gemeinsam mit den Menschen wiederhergestellt | |
| und ein Bildungszentrum für Kinder und Erwachsene daraus gemacht. Rund | |
| herum ist nach und nach Leben entstanden. Sina ist für uns ein Beispiel, | |
| wie Wiederaufbau gelingen kann: nicht von oben verordnet, sondern | |
| gemeinsam. | |
| ## taz: Wie sieht der Alltag der Menschen im Dorf aus? | |
| Dönhoff: Auf den ersten Blick wirkt das Leben in Sina ruhig: Viele Familien | |
| leben von kleiner Landwirtschaft oder schlagen sich mit | |
| Gelegenheitsarbeiten durch. Die Kinder gehen zur Schule. Doch vor allem die | |
| Erwachsenen [2][sind stark traumatisiert]. Sie hatten nie Zugang zu | |
| psychologischer Hilfe, um das 2014 Erlebte aufzuarbeiten. Anders ist es bei | |
| den Kindern: Sie haben die Gräueltaten, die ihre Eltern erlebt haben, nicht | |
| selbst erfahren. Sie begegnen der Welt mit mehr Offenheit, Neugier und | |
| Lebensfreude. | |
| taz: Könnten die Dörfer ein Modell für mehr jesidische Geflüchtete in | |
| Kurdistan sein? | |
| Dönhoff: Die Lebenssituation ist grundsätzlich [3][alles andere als | |
| sicher]: Die meisten Familien sind nach 2014 direkt in Dörfer wie Sina | |
| geflohen – sie leben hier übergangsweise, auf Land, das ihnen nicht gehört. | |
| Oft wissen sie nicht, wie lange sie bleiben dürfen. Manche müssen umziehen, | |
| weil die ursprünglichen Besitzer plötzlich Miete verlangen. Es gibt keine | |
| medizinische Versorgung, kein stabiles Internet, keine öffentlichen | |
| Verkehrsmittel. Und nach der 9. Klasse endet für viele die Schulbildung. | |
| Diese Unsicherheit durchzieht den ganzen Alltag. Was fehlt, sind | |
| verlässliche Perspektiven. | |
| taz: ‚Hand für Hand‘ setzt in Sina auch auf Bildung. Warum? | |
| Dönhoff: Viele Kinder und Jugendliche haben durch Flucht und Vertreibung | |
| jahrelang keine Schule besuchen können. Einige haben erst sehr spät mit dem | |
| Lernen begonnen oder konnten ihre Schulbildung nie abschließen. Ohne | |
| Bildung bleiben ihnen viele Wege versperrt. | |
| Gleichzeitig ist Bildung auch ein Schutzmechanismus. In einer Region, in | |
| der Unsicherheit, Abhängigkeit und politische Instrumentalisierung an der | |
| Tagesordnung sind, gibt Bildung den Menschen Werkzeuge an die Hand. Das | |
| macht sie weniger anfällig für Ausbeutung oder Manipulation. Bildung ist | |
| ein Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben. | |
| Und: Bildung gibt eine Stimme. Sie schafft Räume, in denen junge Jesidinnen | |
| und Jesiden sich ausdrücken, ihre Geschichte teilen und aktiv an ihrer | |
| Zukunft mitwirken können. Neben den Bildungsangeboten für Kinder bieten wir | |
| zum Beispiel Alphabetisierungskursen für Frauen an – oder Aufklärungskurse | |
| über Minen für Rückkehrende nach Shingal. | |
| taz: Gibt es denn Dorfbewohner, die aus Sina nach Shingal zurückgekehrt | |
| sind? | |
| Dönhoff: Es gibt einzelne Familien, aber es sind nicht viele. Und jede | |
| Rückkehr ist eine sehr persönliche Entscheidung. Manche haben dort noch | |
| Verwandte oder besitzen etwas Land, andere halten diesen Zwischenzustand | |
| als Geflüchtete einfach nicht mehr aus. | |
| Gleichzeitig bleiben viele lieber in Dörfern wie Sina, weil das Leben dort | |
| mehr Stabilität bietet als in den Camps. Sie wohnen zwar in fremden | |
| Häusern, aber sie haben ein bisschen mehr Kontrolle über ihren Alltag. In | |
| Shingal fehlt dagegen fast alles: Sicherheit, Infrastruktur, medizinische | |
| Versorgung. | |
| taz: Auch in Irakisch-Kurdistan mangelt es teils an Infrastruktur. | |
| Dönhoff: Es sind oft die kleinen, ganz praktischen Dinge, die eine | |
| Herausforderung sind. Wenn zum Beispiel die Wasserpumpe kaputt ist – dann | |
| gibt’s tagelang kein Wasser. Oder wenn der Strom mal wieder tagelang | |
| ausfällt. Es gibt außerdem keine öffentliche Struktur, auf die man sich | |
| verlassen könnte. Kein Bus, kein Amt, keine schnelle Hilfe. Wenn etwas | |
| fehlt oder nicht funktioniert, müssen wir gemeinsam mit den Menschen vor | |
| Ort nach Lösungen suchen, weil es sonst niemand tut. Trotzdem: Die Menschen | |
| in Sina machen weiter. Und wir versuchen, das Möglichste möglich zu machen, | |
| Schritt für Schritt. | |
| taz: Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen, die in Kurdistan | |
| aufgewachsen sind, kennt Schingal nur aus Erzählungen. Wie blicken sie auf | |
| ihre Zukunft? | |
| Dönhoff: Bei vielen Jugendlichen hängen Hoffnung und Vorstellung eng | |
| zusammen. Manche waren mal in Shingal, andere kennen es nur aus | |
| Erzählungen. Für viele ist Shingal ein Ort zwischen Realität und | |
| Erinnerung: Manche stellen es sich als einen schönen Ort vor, mit Bergen, | |
| mit Obstbäumen. Andere wissen, wie zerstört es ist – und hoffen trotzdem, | |
| dass es eines Tages wieder lebenswert sein wird. | |
| taz: Meist konzentriert sich die Berichterstattung zu Jesidinnen und | |
| Jesiden im Irak auf Negatives, etwa die mangelnde Aufarbeitung des | |
| Genozids. Werden positive Entwicklungen übersehen? | |
| Dönhoff: Es gibt viele Geschichten, die Mut machen. Zum Beispiel eine | |
| ältere Frau aus unserem Alphabetisierungskurs: Sie war glücklich, als sie | |
| zum ersten Mal ein Rezept vom Arzt lesen konnte. Oder junge Menschen, die | |
| sich – trotz allem – für ein Studium in Kurdistan entscheiden. [4][Oder | |
| unsere journalistische Ausbildung ‚Helin Voices‘]: Hier lernen junge | |
| Menschen aus verschiedenen Minderheiten, wie man recherchiert, interviewt | |
| und erzählt – mit dem Ziel, später ein gemeinsames Radioprojekt aufzubauen, | |
| für Geschichten, die sonst kaum Gehör finden. | |
| taz: Was braucht es, damit Jesidinnen und Jesiden – ob in Kurdistan oder | |
| Schingal – hoffnungsvoller in die Zukunft blicken können? | |
| Dönhoff: Vier Dinge: Sicherheit – zu wissen, dass das eigene Kind zur | |
| Schule gehen kann, und dass das Dach über dem Kopf bleibt. Keine Angst mehr | |
| haben zu müssen vor anderen Gruppen, die den Jesidinnen und Jesiden in der | |
| Vergangenheit Gewalt angetan haben. Dann braucht es Anerkennung, dass das | |
| erfahrene Leid nicht vergessen wird. Aber auch gesehen wird, wie viel | |
| Stärke, Kraft und Einsatz viele zeigen. Und Teilhabe – nicht nur am Rand zu | |
| stehen, sondern gehört zu werden, mitgestalten zu können. Und zuletzt | |
| Dialog, auch den Austausch unter den verschiedenen Minderheiten im Irak, | |
| denn sie kennen sich oft kaum. Wenn Menschen ins Gespräch kommen, entstehen | |
| Vertrauen, Verständnis – und manchmal sogar gemeinsame Projekte. | |
| 3 Aug 2025 | |
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| Lisa Schneider | |
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