| # taz.de -- Völkermord der Jesid:innen: Zurück ins Land des Genozids | |
| > Am Sonntag jährt sich der Völkermord an Êzîd:innen durch den | |
| > „Islamischen Staat“ im Irak. Das deutsche Schutzversprechen wird nicht | |
| > mehr eingehalten. | |
| Bild: Das zerstörte Dorf Sindschar 2015, die abgeschobene Familie kommt aus de… | |
| taz | Berlin Es ist mitten in der Nacht auf den 22. Juli, als die | |
| [1][Polizeibeamten bei Familie Qasim im brandenburgischen Lychen klingeln] | |
| und sie aus dem Schlaf reißen. Die Eltern mit ihren vier Kindern werden | |
| nach Leipzig gebracht. Die Beamten haben ihnen ihre Handys abgenommen, also | |
| können sie erst am nächsten Morgen Amer Faris alarmieren, den jüngeren | |
| Bruder der Mutter. Er kontaktiert noch die Anwältin der Familie, doch | |
| wenige Minuten später startet der Abschiebeflieger. Nach ein paar Stunden | |
| ist die êzîdische Familie in Bagdad. | |
| Für Menschen aus der religiösen Minderheit der Êzîd:innen ist eine | |
| [2][Abschiebung in den Irak verheerend]. In wenigen Tagen jährt sich zum | |
| elften Mal der Genozid an den Êzîd:innen in Sindschar im Norden des | |
| Landes. Am Morgen des 3. August 2014 überfielen Kämpfer der | |
| Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) die Heimatregion der | |
| Êzîd:innen. Es folgte ein Völkermord. Die Islamisten ermordeten die | |
| Männer und Jungen, sie entführten die Frauen und Mädchen, versklavten und | |
| vergewaltigten sie. | |
| Kinder unter zwölf Jahren wurden teils auch als Kindersoldaten | |
| zwangsrekrutiert. Laut UN töteten die Kämpfer des IS insgesamt 5.000 bis | |
| 10.000 Êzîd:innen und verschleppten über 7.000 von ihnen. Pro Asyl | |
| schätzt, dass heute noch etwa 2.700 Frauen und Mädchen vermisst sind und | |
| 200.000 bis 280.000 Êzîd:innen noch immer in Flüchtlingslagern der Region | |
| leben, meist in Zelten. | |
| In Deutschland wohnen heute etwa 250.000 Êzîd:innen. Damit ist es nach dem | |
| Irak das Land mit der zweitgrößten êzîdischen Gemeinschaft weltweit. | |
| Zwischen 2014 und 2017 fanden viele Genozid-Überlebende hier Schutz. In | |
| einigen Bundesländern gab es zeitweise Landesaufnahmeprogramme für | |
| Êzîd:innen. Die Schutzquote für sie lag lange zwischen 90 und 100 | |
| Prozent. | |
| ## Seit 2022 fallende Schutzquote | |
| Aber das ist vorbei. Êzîd:innen, die seit 2022 nach Deutschland kommen, | |
| erhalten nur noch in jedem zweiten Fall überhaupt irgendeine Form von | |
| Flüchtlingsschutz. Pro Asyl schätzt, dass aktuell bis zu 10.000 der hier | |
| lebenden Êzîd:innen von Abschiebung bedroht sind. [3][Seit dem Abschluss | |
| eines Migrationsabkommens mit dem Irak 2023 werden auch immer mehr | |
| Abschiebungen durchgeführt.] Wie viele Êzîd:innen darunter waren, dazu | |
| gibt es keine offiziellen Zahlen. | |
| Das Bundesinnenministerium (BMI) erklärt die fallende Schutzquote und die | |
| Abschiebungen mit dem militärischen Sieg der internationalen Koalition und | |
| ihrer lokalen Verbündeten über den IS vor sieben Jahren. „Bis 2017 hat das | |
| Bamf eine Gruppenverfolgung von Jesiden angenommen. Angesichts der | |
| Verbesserung der Lage im Irak kann eine Gruppenverfolgung von Jesiden seit | |
| 2017 nicht mehr angenommen werden“, teilt das BMI auf Anfrage mit. | |
| Das ist auch die Begründung für den abgelehnten Asylantrag der Familie | |
| Qasim, die aus dem Bett geholt wurde, um abgeschoben zu werden. Weil sie | |
| erst 2022 aus dem Irak kamen und die Lage dort zu diesem Zeitpunkt schon | |
| wieder sicher gewesen sei, sei weder eine individuelle Bedrohung noch eine | |
| Gruppenverfolgung gegeben. Der Bruder der abgeschobenen Mutter, Amer Faris, | |
| dagegen kam schon 2016, als fast alle Êzîd:innen einen Schutzstatus | |
| zugesprochen bekamen. Er darf bleiben. | |
| Doch es gibt starke Zweifel daran, dass es im Irak für Êzîd:innen | |
| inzwischen wirklich wieder so sicher ist, wie das BMI behauptet. 2024 kam | |
| ein Lagebericht des Auswärtigen Amts jedenfalls noch zu einem anderen | |
| Schluss. Darin heißt es etwa: „Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die | |
| Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, unzureichende | |
| Sicherheitslage und unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die | |
| Anwesenheit unterschiedlicher Milizen zum Teil erheblich erschwert.“ | |
| ## Viele Täter:innen des IS sind noch in der Region | |
| Und Menschenrechtsorganisationen berichten ganz ähnliches. Karl Kopp, | |
| Geschäftsführer von Pro Asyl, sagt der taz: „Nach über zehn Jahren der | |
| Vertreibung hat sich die politische und die ganz konkrete humanitäre | |
| Situation der Êzîd:innen im Irak nicht grundlegend geändert.“ Stattdessen | |
| habe es zuletzt eher noch Verschlechterungen gegeben. 2024 beschloss das | |
| irakische Ministerium für Migration und Vertreibung viele der | |
| Flüchtlingslager zu schließen, wodurch sich auch viele humanitäre | |
| Organisationen aus dem Nordirak zurückzogen. | |
| Auch, dass die US-Regierung unter Donald Trump ihre Hilfsprogramme massiv | |
| zusammenkürzte, verschlechterte die Lage für die êzîdischen Menschen im | |
| Nord-Irak. Die Dörfer der Êzîd:innen sind bis heute weitgehend zerstört. | |
| Nur wenige sind zurückgekehrt.Viele der Täter:innen und | |
| Unterstützer:innen des IS von damals leben auch nach der militärischen | |
| Zerschlagung der Terrororganisation noch in der Region. | |
| Die zunehmenden Abschiebungen von Êzîd:innen erregen auch deshalb so viel | |
| Aufsehen, weil der Bundestag sich noch vor zwei Jahren öffentlich zum | |
| Schutz der Minderheit bekannt hat. Im Januar 2023 stimmte das Parlament | |
| einstimmig für die Anerkennung der IS-Verbrechen als Genozid. Im | |
| Antragstext hieß es: „Der Deutsche Bundestag wird sich mit Nachdruck zum | |
| Schutz êzîdischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit | |
| einsetzen.“ | |
| Zumindest bei der Union ist davon nicht allzu viel geblieben. Norbert | |
| Altenkamp, religionspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, | |
| sagt auf Anfrage der taz: „Die Überlebenden des Genozids benötigen eine | |
| reale Perspektive für die Rückkehr und ein friedliches Zusammenleben | |
| religiöser und ethnischer Minderheiten im Irak“. Er unterstütze die | |
| Argumentation des Bamf, dass die „strukturelle Diskriminierung im Irak | |
| keine individuelle politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne | |
| darstellt, die einen kollektiven Schutzstatus begründen würde“. | |
| ## Clara Bünger redet von „Abschiebewahn“ | |
| Die SPD-Abgeordnete Derya Türk-Nachbaur sagt dagegen: „Auf Bundesebene | |
| braucht es eine klare humanitäre Ausnahme im Aufenthaltsrecht für | |
| anerkannte Genozid-Überlebende“. Die Anerkennung des Genozid 2023 dürfe | |
| keine rein symbolische Geste bleiben. | |
| Clara Bünger, die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion sagte: | |
| „Innenpolitiker und -behörden in Bund und Ländern scheinen aktuell fast | |
| alles dem Ziel unterzuordnen, möglichst viele Menschen aus Deutschland | |
| abzuschieben.“ Ein „Abschiebewahn“ sei dies, der gestoppt werden müsse. | |
| Die Grünen-Fraktion hat im Juli dieses Jahres einen Gesetzesentwurf | |
| vorgelegt, der ein Aufenthaltsrecht für Êzîd:innen sichern soll. „Dieser | |
| Gesetzesentwurf soll dem BMI die Ausreden nehmen“, sagt Max Lucks, | |
| menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen. Doch ob sich eine Mehrheit | |
| finden wird, ist aktuell noch offen. Lucks sagt: „Dass wir das bisher nicht | |
| hinbekommen haben, ist ein schlechtes Zeichen für Parlamentarismus und für | |
| Politik“. | |
| ## Kinder der Familie stehen unter Schock | |
| Auch die Anwältin der abgeschobenen Familie Qasim, Kareba Hagemann, sieht | |
| eigentlich relativ simple Möglichkeiten, das 2023 gegebene | |
| Schutzversprechen zu halten und die Abschiebung von Êzîd:innen zu | |
| stoppen. Das BMI könne etwa einfach per Weisung einen bundesweiten | |
| Abschiebestopp erteilen. | |
| Oder es könne ein Aufnahmeprogramm beschlossen werden, das Êzîd:innen | |
| einen regulären Weg nach Deutschland biete. Aber, so räumt Hagemann ein, | |
| all das sei natürlich nur möglich, „wenn der politische Wille da ist“. Das | |
| BMI teilte auf Anfrage mit, es werde keine neuen Bundesaufnahmeprogramme | |
| geben. | |
| Im Fall der abgeschobenen Familie Qasim sagte immerhin der Innenminister | |
| von Brandenburg, René Wilke (parteilos) vergangenen Freitag, er wolle sich | |
| für die Rückholung der Familie einsetzen. Die Qasims sind derweil zurück in | |
| ihren alten Heimatort Dugure in der Sindschar-Region gereist. Ihr Haus ist | |
| zerstört und so kommen sie bei Nachbar:innen unter. Aktuell herrsche | |
| eine extreme Hitze mit bis zu 50 Grad, wie Amer Faris berichtet. Es gebe | |
| weder Trinkwasser noch Strom, von einer Schule für die vier Kinder ganz zu | |
| schweigen. „Besonders die Kinder stehen immer noch unter Schock“, erzählt | |
| ihr Onkel, der in Deutschland zurückgeblieben ist. „Wenn ich mit ihnen | |
| rede, weinen sie.“ | |
| 2 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Clarissa Hofmann | |
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