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# taz.de -- Protest von Êzîd*innen in Berlin: Abschiebung trotz Genozid
> Êzîd*innen aus dem Irak protestieren vor dem Bundestag gegen drohende
> Abschiebungen. Viele von ihnen waren deswegen in einen Hungerstreik
> getreten.
Bild: Rechtsanwältin Kareba Hagemann (l.), die einige der Êzîd*innen vertrit…
Berlin taz | Eine Abschiebung wäre für mich ein Todesurteil“, sagt Ali
Saydo. Er steht vor dem Deutschen Bundestag, gelbe Jacke, Yankees-Basecap,
in einer Gruppe von Menschen. Viele von ihnen wedeln mit Unterlagen, wollen
von ihrem Schicksal erzählen: Sie sind Êzîd*innen aus dem Irak, nach
Deutschland geflohen vor dem Genozid durch den sogenannten Islamischen
Staat und seinen Folgen.
Doch nun hält Saydo ein Papier in der Hand: Das Landratsamt Landshut teilt
ihm mit, er habe Deutschland bis zum 8. November zu verlassen. Saydo ist
nicht der einzige, dem die Abschiebung droht. Deswegen protestieren sie vor
dem Reichstagsgebäude, seit dem 9. Oktober schon. 20 Menschen waren bis
Donnerstag im Hungerstreik. Etwa ebenso viele mussten während des
Hungerstreiks bereits ins Krankenhaus gebracht werden.
„Der IS ist in mein Dorf gekommen“, erzählt Saydo. Sie seien unter Beschuss
in die Berge geflohen, hätten dort sieben Tage ohne Essen und Wasser
ausgeharrt. „Ich habe gesehen, wie Menschen verdurstet oder ihren Wunden
erlegen sind.“ Die nächsten Jahre lebten er und seine Familie in einem
Flüchtlingslager in der Autonomen Region Kurdistan. Seine Frau und die
Kinder sind noch immer dort, er selbst kam 2018 nach Deutschland. „Wir
können dort nicht leben“, sagt Saydo. „Ich habe dort keine Bleibe, ich
bekomme keine Arbeit, ich erlebe jeden Tag Bedrohung und Diskriminierung.“
Insgesamt über 300.000 Menschen haben durch den Angriff des IS auf die
êzîdische Religionsgemeinschaft in Sinjar im Norden Iraks ihr Zuhause
verloren. Viele Tausend wurden ermordet. Tausende Frauen und Mädchen wurden
verschleppt und [1][systematisch vergewaltigt]. Über 2.700 Menschen werden
noch immer vermisst. Viele leben bis heute in großen Camps für
Binnenvertriebene in Irak, Syrien und der Türkei. Andere flohen nach
Deutschland.
## Schutzquote sinkt rapide
Im Januar dieses Jahres hat der Bundestag einstimmig den Völkermord an den
Êzîd*innen [2][als Genozid anerkannt] und Maßnahmen zur Aufarbeitung und
Unterstützung der Betroffenen beschlossen. In dem fraktionsübergreifenden
Antrag hieß es, für die Menschen sei eine „sichere Rückkehr“ aufgrund der
„hoch volatilen Sicherheitslage“ kaum möglich: Immer wieder erstarkten
Keimzellen des IS, auch andere Milizen seien in der Region tätig. Hinzu
kämen Militäroperationen Irans und des Nato-Partners Türkei.
Die Situation in den Flüchtlingscamps sei „inakzeptabel“ und biete
„keinerlei Zukunftsperspektiven“. Man fordere die Bundesregierung auf,
Êzîd*innen „weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor
andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens
Schutz zu gewähren“.
Genau das aber passiert seit 2018 immer seltener. Seit der IS Ende 2017
zurückgedrängt wurde, sank die Schutzquote bei inhaltlichen Entscheidungen
rapide – von über 90 Prozent im Jahr 2017 knapp unter 49 Prozent 2022.
Deutschland hat aber wegen der Lage vor Ort lange nur Straftäter und
Gefährder [3][in den Irak abgeschoben]. „Im Mai dieses Jahres hat sich das
plötzlich geändert“, sagt Kareba Hagemann. Die Rechtsanwältin steht
ebenfalls vor dem Bundestag, will den Protestierenden beistehen. Sie
vertritt seit Jahren Êzîd*innen, deren Asylanträge abgelehnt wurden.
Menschen wie Ali Saydo. Ein bayerisches Gericht bestätigte die Ablehnung
seines Asylantrags: Der IS sei seit 2017 „in der Fläche“ besiegt, und auch
durch den Staat oder andere Akteure drohe den Êzîd*innen keine
Gruppenverfolgung. Minderheiten erlebten zwar „weitreichende faktische
Diskriminierung“, allerdings nicht so erheblich, dass es asylrechtlich
relevant wäre.
Es ist nicht lange her, da sah das Bundesinnenministerium das noch anders.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion erklärte das BMI
im März, Êzîd*innen sei es wegen des Völkermords durch den IS „ungeachtet
veränderter Verhältnisse“ auch weiterhin „nicht zumutbar, in den früheren
Verfolgerstaat zurückzukehren“.
Rechtsanwältin Hagemann weiß von mindestens 20 Fällen seit Mitte Mai, in
denen Êzîd*innen in den Irak abgeschoben wurden, alle aus Bayern und
Nordrhein-Westfalen. Viele andere, deren Asylgesuche abgelehnt wurden,
bangen nun. Jahrelang hatten die Ausländerbehörden ihnen gesagt, in den
Irak werde nicht abgeschoben. Nun gilt das plötzlich nicht mehr.
Wie viele Menschen betroffen sind, ist schwer zu sagen. Das bayerische
Innenministerium erklärt auf Anfrage, man habe in diesem Jahr bislang vier
Menschen in den Irak abgeschoben, bei denen als Volkszugehörigkeit oder
Religion êzîdisch vermerkt war. Da dies aber nicht verpflichtend erfasst
wird, könnte die Zahl höher liegen. Nordrhein-Westfalens Fluchtministerium
erklärt auf taz-Anfrage, eine „Rückführungsstatistik, die die
ethnisch-religiöse Zugehörigkeit erfasst“, liege nicht vor. Mit anderen
Worten: Ob unter denjenigen, die in den Irak abgeschoben wurden, auch
Êzîd*innen waren, ist unbekannt.
Berlin hingegen schiebe aktuell gar nicht in den Irak ab, erklärt die
Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Annika Klose. Das sei auch richtig, das
Land sei nicht sicher – vor allem nicht für Êzîd*innen. „Andere
Bundesländer müssen diesem Beispiel folgen“, so Klose. Das BMI gibt an, bis
Ende August dieses Jahres seien 339 Menschen in den Irak abgeschoben
worden. Wie viele davon Êzîd*innen seien, wisse man nicht,
[4][Abschiebungen] seien Ländersache. Mit den Hungerstreikenden vor dem
Reichstag sei man nicht in Kontakt gewesen.
## Hungerstreik geht weiter
Ein Umstand, der Max Lucks empört. „Es entsetzt mich, dass Innenministerin
Faeser den Abschiebungen von Êzîdinnen und Êzîden keinen Riegel
vorschiebt“, sagt der Grünen-Politiker der taz. „Êzîdisches Leben muss n…
der Anerkennung des Völkermordes Schutz in Deutschland finden, nicht
‚obwohl‘, sondern gerade weil ihre Lage so komplex ist.“
So entschieden sind nicht alle in der Ampelkoalition. „Ich verstehe die
menschlich schwierige Lage“, erklärt auf taz-Anfrage Reem Alabali-Radovan
(SPD), Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und
Integration. Aber: „Jedes Asylgesuch in unserem Land wird individuell
sorgsam geprüft und entschieden. Rückführungen liegen in der
Entscheidungshoheit der Länder.“
Ihre Parteikollegin Derya Türk-Nachbaur ist eine der Initiatorinnen des
Antrags zur Anerkennung des Genozids. Dass eine Abschiebung ein „tiefer
Schicksalsschlag“ sei, könne sie nachvollziehen, sagt die SPD-Politikerin.
Die Behörden aber träfen ihre Entscheidungen auf Grundlage von
Lageberichten aus dem Auswärtigen Amt. Sie vertraue darauf, dass die
Einzelfälle eingehend geprüft und Ablehnungen begründet würden.
„Ich bin froh um unseren Rechtsstaat und werde seine Entscheidungen nicht
infrage stellen“, so Türk-Nachbaur. Sie habe die Menschen im Protestcamp
gebeten, ihr ihre Unterlagen zuzuschicken und die Debatte im Bundestag
fortzusetzen.
„Das Ziel der Ampelkoalition ist es, den Êzîden zu ermöglichen, wieder in
ihrer Heimat leben zu können“, sagt der FDP-Abgeordnete Peter Heidt der
taz. „Wenn dort noch Verfolgung droht und ein menschenwürdiges Leben noch
nicht wieder möglich ist, müssen wir mit dem Bamf reden.“ Heidt plädiert
dafür, mit Abschiebungen zu warten, „bis wir ein besseres Bild der
Situation vor Ort haben“ – in wenigen Wochen will eine überfraktionelle
Gruppe nach Sinjar reisen. Betroffene in sichere Drittstaaten
zurückzubringen, wenn sie über diese eingereist seien, hält Heidt für
gerechtfertigt – ebenso wie die Abschiebung êzîdischer Straftäter*innen
in den Irak.
Dass es momentan vor allem diese Gruppe betreffe, verneint Rechtsanwältin
Hagemann vehement: „Ich weiß von einem einzigen Fall, in dem der
Abgeschobene ein Straftäter ist“, sagt sie. In allen anderen ihr bekannten
Fällen seien die Betroffenen nie strafrechtlich in Erscheinung getreten.
„Hier werden Familien auseinandergerissen“, sagt die Anwältin. Vielfach
gehe es um Menschen, die sich in den vergangenen Jahren ein Leben aufgebaut
hätten. „Viele erfüllen gerade so nicht die zeitlichen Kriterien für ein
Bleiberecht wegen besonderer Integrationsleistungen“, sagt Hagemann.
Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger nennt es „perfide“, dass nur zehn
Monate nach der einstimmigen Anerkennung des Genozids traumatisierte
Überlebende „in das Land abgeschoben werden sollen, in dem ihr Leben
aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit weiterhin in Gefahr ist“, so Bünger.
„Ich fordere ein Bleiberecht für alle nach Deutschland geflohenen
Êzîd*innen.“
Auch [5][Düzen Tekkal] ist entsetzt. „Es kann nicht sein, dass Überlebende
des Genozids jetzt Abschiebung fürchten müssen“, sagt die Gründerin von
Háwar Help, einer der Organisationen, die sich maßgeblich für die Belange
der Überlebenden einsetzen. „Worten müssen Taten folgen. Das war unsere
Hoffnung, als der Bundestag den Genozid anerkannt hat“, so Tekkal. „Wenn
jetzt aber die Menschen keinen Schutz bekommen, sondern im Gegenteil
dorthin zurückgeschickt werden, wo ihnen Gefahr und Elend droht – dann war
diese Anerkennung nichts als Symbolpolitik.“
19 Oct 2023
## LINKS
[1] /Islamismus-und-sexualisierte-Gewalt/!5962609
[2] /Bundestag-ueber-Genozid-an-ziden/!5906527
[3] /Nach-Bruch-des-Kirchenasyls-in-Viersen/!5951116
[4] /Streit-um-Migationspolitik/!5966287
[5] /Genozid-an-zidinnen-2014/!5948101
## AUTOREN
Dinah Riese
Tobias Bachmann
## TAGS
Abschiebung
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