# taz.de -- Jesiden aus dem Nordirak: Die vergessenen Väter | |
> Nach dem Überfall des IS 2014 ermöglichte Baden-Württemberg 1.100 | |
> Jesidinnen, nach Deutschland zu kommen. Einige warten noch immer auf ihre | |
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Bild: Alltagsszenen in einem jesidischen Flüchtlingscamp in Dohuk im Nordirak … | |
KARLSRUHE taz | Die Kinder haben ein Bild gemalt: „Wir wollen unsere | |
Vätter“ steht da. Das zweite „t“ scheint dem Wunsch noch mehr Nachdruck … | |
verleihen. Nach sieben Jahren wollen sie endlich wieder mit ihren Vätern | |
zusammen sein. Stattdessen leben die Familien in Deutschland, die Männer | |
sieben Flugstunden entfernt in einem Flüchtlingslager im Nordirak. Nach | |
Vertreibung und Traumatisierung ist die Trennung für 18 jesidische Familien | |
in Baden-Württemberg die nächste schwere Bürde. Dabei habe man ihnen damals | |
bei der Abreise nach Deutschland einen späteren Familiennachzug in Aussicht | |
gestellt. | |
Am Freitag übergeben 18 jesidische Frauen deshalb eine [1][Petition] am | |
Regierungssitz Winfried Kretschmanns, auch die Kinderzeichnung wird dabei | |
sein. Denn die Trennung der Familien ist das unerwünschte Ergebnis einer | |
eigentlich [2][verdienstvollen Initiative] des Ministerpräsidenten der | |
Grünen. Im Jahr 2014, nach dem Überfall des Islamischen Staats (IS) auf die | |
Städte der Jesiden im Nordirak, hatte Baden-Württemberg als erstes | |
Bundesland ein Flüchtlingssonderkontingent eingerichtet, um traumatisierte | |
Frauen und Kinder aus dem Gebiet zu retten. | |
Kretschmann und sein damaliger Chef des Staatsministeriums, Klaus-Peter | |
Murawski, hatten dieses Sonderkontingent eingeleitet, nachdem jesidische | |
Vertreter sie am Rande einer Kabinettsklausur mit Bildern des Völkermords | |
des IS konfrontierten. Leiter des Programms wurde der heutige | |
Antisemitismusbeauftragte des Landes, Michael Blume (CDU). Baden | |
Württemberg brachte damals insgesamt 1.100 Frauen und Kinder nach | |
Deutschland. Unter ihnen war auch die spätere Friedensnobelpreisträgerin | |
Nadia Murad. | |
Kretschmanns Landesregierung fand für ihre Initiative weltweit Anerkennung | |
und Unterstützung der US-Menschenrechtsanwältin Amal Clooney. Später | |
schlossen sich andere Staaten wie Kanada und Frankreich mit Kontingenten | |
an, verhalten folgten auch andere Bundesländer wie Schleswig-Holstein. Mit | |
Prozessen gegen IS-Kämpfer und deren Frauen wegen Völkermord, bei denen | |
auch [3][jesidische Frauen] als Zeugen aussagten, betrat die deutsche | |
Justiz juristisches Neuland. | |
Aber es gab auch Kritik. Hilfsorganisationen wie Medica Mondiale warfen die | |
Frage auf, ob es richtig sei, Frauen aus ihrem Kulturkreis zu reißen, indem | |
man sie allein nach Deutschland holte. Auch kritisieren sie, dass man bei | |
anderen Genoziden nicht ähnliche Kontingente eingerichtet habe. | |
Uneingelöste Versprechen | |
Ein Versprechen hat das Land seitdem nicht eingelöst: die | |
Familienzusammenführung. Eigentlich sollte das Kontingent ausschließlich | |
verstoßenen oder alleinstehenden Frauen und ihren Kindern offenstehen. | |
Ganze Familien waren nicht vorgesehen. Doch so einfach ließ sich diese | |
Trennung nicht machen. Frauen, die womöglich sexuelle Gewalt durch | |
IS-Kämpfer erlitten hatten, haben nach den traditionellen Regeln der | |
Jesiden ihre Ehre verloren und werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. | |
Ihnen sollte geholfen werden. | |
Doch nachdem die Landesregierung in Verhandlungen mit der religiösen | |
Führung der Jesiden erreicht hatte, dass die Frauen in einem offiziellen | |
Ritus wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurden, waren auch die | |
religiösen Hürden für die Rückkehr der Männer zu ihren Frauen beseitigt. | |
Zudem waren einige Männer selbst in Gefangenschaft des IS und galten als | |
vermisst. | |
„Aber sie haben es uns doch versprochen“, sagt Zainab Murad, Mutter von | |
drei Kindern, die zwar den gleichen Familiennamen wie die | |
Nobelpreisträgerin trägt, mit ihr aber nicht verwandt ist. Zainab Murad | |
sitzt in einem Konferenzraum der Diakonie Freiburg und sagt mit Nachdruck: | |
„Ich bin mit der Situation nicht zufrieden.“ Sie hätte ihren Mann gerne | |
hier, um die Kinder angemessen zu erziehen. Ihr mittlerer Sohn ist Autist | |
und braucht intensive Betreuung. | |
Ihr Mann hat selbst unter der Gewalt des IS gelitten, er war neun Monate | |
gefangen und leidet bis heute unter den Folgen. Zweimal konnte sie ihn im | |
Camp Qadya im Nordirak besuchen, wo er in einem Container lebt. Doch auf | |
Dauer in ihre Heimat zurückzukehren, ist für sie undenkbar. Schon allein | |
wegen ihrem Sohn, der mit seiner Behinderung dort keine Perspektive hat. | |
Für die Männer gelten in Deutschland die allgemeinen Regeln des | |
Familiennachzugs für Geflüchtete. Diese wurden mittlerweile verschärft. So | |
müssen die Männer Sprachkenntnisse nachweisen, die Familien brauchen eine | |
eigene Unterkunft und sie selbst oder jemand anderes muss für ihren | |
Lebensunterhalt garantieren. Die meisten Familien können das nicht | |
erfüllen. Deshalb sind einige Frauen aus dem Kontingent in den Irak | |
zurückgekehrt, bei andern sind die Männer auf eigentlich illegalen Wegen | |
nachgekommen. Übrig geblieben sind 18 Familien, die auf eine legale Lösung | |
warten. | |
Jetzt will Baden-Württemberg ein neues Kontingent für Jesidinnen auflegen. | |
Dieses ist eigentlich speziell für Frauen, die nach Vergewaltigungen durch | |
IS-Kämpfer Kinder bekommen haben. Denn die Kinder gelten nicht als Jesiden, | |
sie können nicht in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Für das neue | |
Kontingent sind im aktuellen Landeshaushalt 10 Millionen Euro eingeplant. | |
Damit sollen 200 bis 250 Frauen und Kinder aus Flüchtlingslagern in Dohuk | |
nach Deutschland gebracht werden. Zainab Murad hofft, dass mit diesem | |
Kontingent auch die 18 Männer nach Deutschland kommen können. | |
In der Außenpolitik mitmischen? | |
Ministerpräsident Kretschmann setzt dagegen eher auf eine Lösung durch die | |
Bundesregierung. Nachzugsgesuche seien bisher immer an den Regeln der | |
Bundesregierung gescheitert. Die Kinder der Frauen hätten zwar nach | |
Deutschland einreisen dürfen. Aber spätestens nach der Anerkennung des | |
Völkermords durch den Bundestag könne es doch nicht sein, dass die | |
Zusammenführung von 18 Familien scheitert. „Ich werde jedenfalls alles | |
dafür tun, dass das Erfolg hat.“ | |
Aber auch in Baden-Württemberg ist das Problem zwischen dem zuständigen | |
Innen- und Justizministerium und der Staatskanzlei hin- und hergeschoben | |
worden. Mancher in Kretschmanns Regierungsapparat findet, dass sich das | |
Land aus außenpolitischen Themen besser ganz heraushalten sollte. Die | |
Sprecherin des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg, Meike Olszak, verweist | |
dagegen auf juristische Spielräume, die andere Länder wie Bremen genutzt | |
hätten, um Flüchtlingsfamilien aus Sonderkontingenten nachzuholen. | |
Baden-Württemberg habe das bisher nicht versucht. | |
Eine weitere Frage, die Kritiker des Familiennachzugs stellen: Werden die | |
Frauen vielleicht von ihren Familien im Irak unter Druck gesetzt, ihre | |
Männer nachzuholen, obwohl sie das gar nicht wollen? „Da muss jeder | |
Einzelfall geprüft werden“, sagt der Traumatologe Jan İlhan Kızılhan, der | |
die Auswahl der Frauen im Nordirak wissenschaftlich begleitete und die | |
Jesidinnen in Deutschland auch heute noch [4][psychologisch betreut]. | |
„Insgesamt unterstütze ich aber die Petition“, sagt Kızılhan. | |
Aus psychotherapeutischer Sicht sei es gut, wenn die Familien hier in | |
Deutschland vereint würden, wenn sie das wollen. Eine Rückkehr sei den in | |
der Regel gut integrierten Kindern dagegen kaum zuzumuten. Zumal die | |
Zukunft der jesidischen Gemeinschaft im Nordirak weiter ungewiss sei, so | |
Kızılhan. | |
Zainab Murad jedenfalls ist sich sicher, dass sie ihren Mann an ihrer Seite | |
haben möchte. Solange sie noch von ihrem Mann getrennt ist, trägt sie jeden | |
Tag Schwarz. | |
9 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://weact.campact.de/petitions/familienzusammenfuhrung-von-jesidischen-… | |
[2] /Opfer-der-IS-Terrorherrschaft/!5640092 | |
[3] /Portraet-einer-gefluechteten-Jesidin/!5609905 | |
[4] /IS-Opfer-in-Behandlung-in-Deutschland/!5333968 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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