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# taz.de -- Literatur über jesidische Erfahrungen: Die heilende Wirkung des Sc…
> Sie wurden einst vor der genozidalen Gewalt des „Islamischen Staats“
> gerettet. Nun lasen jesidische Autorinnen und Autoren in Stuttgart.
Bild: Zur Flucht gezwungen: Eine Gruppe Jesiden aus dem Nordirak auf dem Weg in…
Während die Lichter des Weihnachtsmarkts durchs Fenster funkeln und das von
den Fenstern abgeschnittene Halbrund des Riesenrads davor wie eine
gigantische beleuchtete Sonnenuhr anmutet, liest die Abiturientin Jihan
Alomar von zusammengepferchten Menschen, von Angst und Gewalt im
Sindschar-Gebirge im Sommer 2014. Später, in Gefangenschaft des
„Islamischen Staats“ (IS), will ihr die Mutter die Haare abschneiden, damit
sie als Junge getarnt vor sexueller Gewalt geschützt ist.
Es ist keine Zeit für Diskussionen. „Mein Stolz fiel mit meinen Haaren in
den Schmutz. Ich wäre am liebsten nie als Mädchen auf die Welt gekommen“,
schreibt sie in ihrem Buch „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines
Lebens“. Die junge Frau muss mit den Tränen kämpfen.
Aber das Buch, das sie zusammen mit deutschen Freunden geschrieben hat, ist
das Dokument eines gewonnenen Kampfs. Wenige Tage vor Weihnachten unter den
barocken Kronleuchtern des Stuttgarter Schlosses hört man die Geschichten
zweier jesidischer Autoren, die mit dem jesidischen Sonderkontingent der
Landesregierung ins Land gekommen sind, gerührt und staunend.
Vor allem traumatisierte Frauen und Kinder kamen damals, die vor dem Mord
und Terror des IS geflohen waren. Insgesamt 1.100 Menschen, darunter auch
die spätere Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad. Ministerpräsident
Winfried Kretschmann hat sich damals persönlich dafür eingesetzt.
## Das Schreiben hat ihm die Psychotherapie erspart
Jetzt, fast zehn Jahre später, werden deshalb nicht nur Geschichten von
Flucht und Leid erzählt. Es sind auch Geschichten gelungener Integration.
Hier haben sich junge Menschen eine Sprache angeeignet, die ihnen fremd
war, und schwere Traumata, wenn nicht überwunden, so zumindest
zurückgedrängt, um ein Leben zu beginnen.
Es ist ein Abend, der auch von der heilenden Wirkung des Schreibens kündet.
Farhad Alsilo hat schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland angefangen,
seine Geschichte aufzuschreiben. Als 14-Jähriger, mit den wenigen Worten,
die er auf Deutsch konnte. Drei- oder viermal habe er das Buch geschrieben,
das heute „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“ heißt. Er beschreibt, wie
sein Vater vor seinen Augen erschossen wurde, wie er mit seiner Mutter
schwindelig vor Hitze durch die Wüste floh.
Alsilo studiert inzwischen Maschinenbau in Stuttgart. Das Schreiben habe
ihm die Psychotherapie erspart, sagt er. Deutschland, das Land, dessen
Sprache er jetzt beherrscht, sei heute seine Heimat. Er habe sich nie so
sicher gefühlt.
## Erinnerungen an die Sommerferien
Die Texte der beiden jungen Autoren sind fesselnd und anrührend durch ihre
Unmittelbarkeit. Die Texte der in Deutschland geborenen Autorin Ronya
Othmann blicken mit räumlichem Abstand und durch den Filter eigener
Kindheitserinnerungen auf das Schicksal des jesidischen Volks. Othmann war
Kolumnistin der taz, hat 2019 den Publikumspreis von Klagenfurt gewonnen.
Mit ihrem Debütroman „Die Sommer“ hat sie das Leben der Jesiden vor dem
Angriff des IS festgehalten, gespeist aus den eigenen Erinnerungen an die
Sommerferien bei der Familie des Vaters, die sie als Kind dort erlebt hat.
Der Abend im Neuen Schloss, der mit Literatur begonnen hat, endet mit
Politik. Das ist bei diesem Thema fast zwingend. Der heutige
Antisemitismusbeauftragte des Landes, Michael Blume, der damals das
Kontingent vor Ort zusammengestellt hat, berichtet von den
Integrationserfolgen und den Projekten, die die Landesregierung von
Traumatherapie bis zu Energieversorgung im Nordirak angeschoben hat.
Im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Regierung ist ein zweites
Sonderkontingent vereinbart. Die Pläne dafür liegen fertig im
Staatsministerium. [1][Diesmal sollen vor allem die zurückgebliebenen
Familienväter nach Deutschland kommen], die damals noch als vermisst
galten. Und Kinder aus Vergewaltigungen von IS-Kriegern an jesidischen
Frauen, die aus der jesidischen Gemeinde ausgeschlossen bleiben.
## Werden die Eltern abgeschoben?
Doch die Stimmung hat sich seit 2014 gedreht. Das Programm liege derzeit
auf Eis, erklärt Kretschmann wenige Stunden vor der Lesung auf Frage der
taz. Gleichzeitig sind Jesiden in Deutschland von Abschiebungen bedroht.
Das Bundesinnenministerium steht auf dem Standpunkt, dass es für sie nach
dem Ende des IS keine religiöse Verfolgung mehr gibt.
Das schwarz-grün regierte Nordrhein-Westfalen sieht das anders und hat
einen Abschiebestopp für Jesiden verhängt. Baden-Württemberg hat das bisher
nicht vor. Farhad Alsilo wendet sich auf dem Podium direkt an Michael
Blume. [2][Er solle ihn von seinen Eltern fragen, ob sie womöglich bald
abgeschoben werden.] Blume verneint. Die Jesiden aus dem Kontingent seien
auf alle Fälle „safe“.
Aber es bleibt am Ende dieses hoffnungsvollen Abends auch der fade
Eindruck, dass der grüne Ministerpräsident etwas sehr Verdienstvolles
begonnen hat, das er sich, angesichts der allgemeinen Stimmung, nun aber
scheut, zu Ende zu bringen. Da hilft dann auch die Kraft der Literatur
wenig.
21 Dec 2023
## LINKS
[1] /Jesiden-aus-dem-Nordirak/!5917377
[2] /Ueberlebende-des-Genozid-an-den-ziden/!5978191
## AUTOREN
Benno Stieber
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Jesiden
„Islamischer Staat“ (IS)
Genozid
Abschiebung
Jesiden
Abschiebung
Literatur
Irak
Nordirak
Kurden
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