# taz.de -- Überlebende des Genozid an den Êzîden: Abschiebung in Elend und … | |
> Ali Saydo floh vor den IS-Mördern nach Deutschland. Wie andere Êzîden | |
> soll er nun zurück in den Irak gezwungen werden. Dabei droht dort weiter | |
> Verfolgung. | |
Bild: Ali Saydo während des êzîdischen Hungerstreiks vor dem Deutschen Bunde… | |
BERLIN taz | Ali Saydo sitzt im Abschiebegewahrsam. Das berichtet seine | |
Anwältin Kareba Hagemann. [1][Noch im Oktober sagte Saydo der taz], eine | |
Abschiebung in den Irak wäre für ihn, einen Êzîden, „ein Todesurteil“. … | |
sei dort dem [2][Genozid durch den sogenannten Islamischen Staat] | |
entronnen, doch noch immer gebe es für ihn im Irak keinerlei Perspektive, | |
dafür umso mehr Diskriminierung. Wie der 40-Jährige erhielten in den | |
vergangenen Monaten viele Êzîd*innen Ausreiseaufforderungen. Einige | |
wurden bereits in den Irak abgeschoben. Das Bundesinnenministerium (BMI) | |
sieht keine Notwendigkeit, einzugreifen. | |
„Die Lageentwicklung in Irak und speziell in Nord-Irak wird von der | |
Bundesregierung dauerhaft aufmerksam beobachtet“, erklärt ein Sprecher des | |
Innenministeriums auf taz-Anfrage. „Derzeit sieht das BMI keinen | |
Handlungsbedarf.“ | |
Im Oktober campierten Angehörige der Volksgemeinschaft aus Protest vor dem | |
Bundestag, darunter auch Saydo. Einige traten in den Hungerstreik. Auch | |
Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken treibt das Thema um. Schließlich hat | |
der Bundestag im Januar dieses Jahres [3][den Völkermord an den Êzîd*innen | |
als Genozid anerkannt] und auch die andauernde Diskriminierung und | |
Perspektivlosigkeit der Gruppe im Irak benannt. | |
Insgesamt über 300.000 Menschen haben durch den Angriff des IS auf die | |
êzîdische Religionsgemeinschaft in Sinjar im Norden Iraks ihr Zuhause | |
verloren. Viele Tausend wurden ermordet. Tausende Frauen und Mädchen wurden | |
verschleppt und systematisch vergewaltigt. Über 2.700 Menschen werden noch | |
immer vermisst. Viele leben bis heute in großen Camps für Binnenvertriebene | |
in Irak, Syrien und der Türkei. Andere flohen nach Deutschland. | |
In dem fraktionsübergreifenden Antrag aus dem Bundestag vom Januar hieß es, | |
für die Menschen sei eine „sichere Rückkehr“ aufgrund der „hoch volatil… | |
Sicherheitslage“ kaum möglich. Die Situation in den Flüchtlingscamps sei | |
zudem „inakzeptabel“ und biete „keinerlei Zukunftsperspektiven“. Man | |
fordere die Bundesregierung auf, „weiterhin unter Berücksichtigung ihrer | |
nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des | |
Asylverfahrens Schutz zu gewähren“. Tatsächlich aber sind, seit der IS im | |
Irak zurückgedrängt wurde, die Schutzquoten für Êzîd*innen rapide | |
gesunken: von über 90 Prozent im Jahr 2017 auf knapp unter 49 Prozent 2022. | |
## Familie mit Kindern abgeschoben | |
Deutschland hat lange nur Straftäter und Gefährder in den Irak abgeschoben. | |
Das scheint sich nun zumindest in einigen Bundesländern geändert zu haben – | |
und immer wieder sind unter den Betroffenen auch Êzîd*innen. Mitte | |
November erst wurde ein êzîdisches Ehepaar aus dem Allgäu mit seinen zwei | |
minderjährigen Kindern in den Irak abgeschoben – die zwei volljährigen | |
Kinder blieben in Deutschland. | |
Die Ausländerbehörden würden „Verstand und Gewissen ausschalten, um die | |
Abschiebezahlen zu erhöhen“, kritisierte der Bayerische Flüchtlingsrat. | |
Viele derer, die damals den IS im Irak unterstützt hätten, lebten nach wie | |
vor dort. Êzîd*innen seien weder willkommen noch sicher im Irak. | |
Entsetzt ist auch der grüne Bundestagsabgeordnete Max Lucks. Die | |
Abschiebung der êzîdischen Familie sei „eine Schande“, sagt er der taz. Es | |
sei „absurd, dass ein Ministerium keinen Handlungsbedarf sieht, während | |
hunderte Menschen bereit sind, in einen Hungerstreik zu treten. Das kann | |
uns nicht kalt lassen.“ Lucks besuchte im Oktober auch das Protestcamp der | |
Êzîd*innen vor dem Bundestag. | |
Auf ihrem Parteitag Ende Oktober beschlossen die Grünen einen | |
entsprechenden Antrag: Durch die Anerkennung als Genozid erwachse eine | |
„besondere Verantwortung gegenüber den Opfern“. Bund und Länder müssten | |
„alle rechtlichen Mittel ausschöpfen“, um die Abschiebung von Êzîd*innen | |
zu verhindern. Die Möglichkeit der Rückkehr Betroffener solle geprüft und | |
im Aufenthaltsgesetz eine rechtssichere Bleibeperspektive für Êzîd*innen | |
geschaffen werden. Bis es zu einer gesetzlichen Lösung komme, müsse aber | |
das Innenministerium „endlich handeln“, fordert Lucks. | |
## Viele Fälle aus Bayern, NRW und Baden-Württemberg | |
Jene „besondere Verantwortung“, von der die Grünen sprechen, empfinden die | |
zuständigen Behörden offenbar nicht. Auf taz-Nachfrage kann das BMI zwar | |
sagen, dass 2023 bis Ende Oktober 164 Menschen in den Irak abgeschoben | |
wurden – aber nicht, wie viele davon Êzîd*innen waren. | |
Das verwundert insofern nicht, weil auch in den Ländern viele der | |
zuständigen Ministerien dies auf taz-Anfrage nicht beantworten können. So | |
geben etwa Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hessen, Baden-Württemberg, | |
Brandenburg und Bayern an, dass Volkszugehörigkeiten und Religionen | |
statistisch nicht oder nicht in jedem Fall erfasst würden und deswegen | |
keine Aussage möglich sei. | |
Aus einigen Bundesländern wird nur sehr restriktiv oder gar nicht in den | |
Irak abgeschoben. Viele schieben nach wie vor nur Straftäter und Gefährder | |
ab. Bremen schiebt nur in die kurdischen Gebiete im Nordirak ab, und auch | |
dorthin nur Personen, die von dort stammen. Die Abschiebung von Êzîd*innen, | |
die vor allem aus der Sindschar-Region kommen, sei somit „weitgehend auch | |
nicht möglich“, antwortet Bremen. | |
Fakt ist, dass ganze 57 der insgesamt 164 Abschiebungen bis Ende Oktober | |
aus Bayern kamen, und dass darunter auch sechs Frauen und sechs | |
Minderjährige waren. Auch NRW und Baden-Württemberg haben in zweistellig in | |
den Irak abgeschoben. Sachsen-Anhalt hat zwar nur vier Personen | |
abgeschoben, die aber allesamt keine Straftäter oder Gefährder waren. | |
## „Kaum Zukunftsperspektive“ | |
Rechtsanwältin Kareba Hagemann hat bereits mehrere Fälle von Abschiebung | |
bedrohter Êzîd*innen vertreten. Sie sagt, sie wisse von 17 vollzogenen | |
Abschiebungen. Das wären ganze zehn Prozent aller Abschiebungen in den | |
Irak. Ihrer Kenntnis nach seien davon nur zwei straffällig gewesen. Auch | |
Minderjährige seien abgeschoben worden. | |
Einer ihrer Mandanten berichte, wie prekär seine Lage in der Autonomen | |
Republik Kurdistan im Nordirak nun sei: Er bekomme keine Unterkunft in | |
einem der großen Flüchtlingslager, in denen bis heute viele Überlebende des | |
Genozids ausharren. „Die Sicherheits- und Versorgungslage im Irak ist nicht | |
annähernd so, dass Êzîd*innen dort wieder leben könnten“, kritisiert | |
Hagemann. | |
Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung erklärt auf taz-Anfrage, | |
Êzîd*innen würden heute „nicht mehr wie in den Zeiten der | |
Terrorherrschaft des sogenannten Islamischen Staates systematisch verfolgt | |
und bedroht“. Gleichwohl sei die Sicherheitslage im Sindschar-Gebiet | |
„weiterhin problematisch“, sagt Luise Amtsberg (Grüne). Viele êzîdische | |
Binnenvertriebene lebten nach wie vor in Camps in der Region Kurdistan-Irak | |
und trauten sich aufgrund der instabilen Sicherheitslage nicht, in ihre | |
Heimatdörfer zurückzukehren. | |
„Vor allem für Frauen und Kinder, unter denen auch Überlebende des | |
Völkermordes sind, hat das Leben in den Camps kaum Zukunftsperspektive“, so | |
Amtsberg. Parallel zum Engagement der Bundesregierung in Form von | |
humanitärer Hilfe, Stabilisierung und Entwicklungszusammenarbeit für den | |
Wiederaufbau vor Ort müssten „die politischen Voraussetzungen für die | |
Rückkehr der Vertriebenen zwischen der irakischen Zentralregierung und der | |
kurdischen Autonomieregierung geschaffen werden“. Auch hierfür setze sich | |
die Bundesregierung auf politischer Ebene ein. | |
## Letzte Rettung: Öffentlicher Druck | |
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger hatte die Abschiebungen schon | |
im Oktober als „perfide“ bezeichnet und ein „Bleiberecht für alle nach | |
Deutschland geflohenen Êzîd*innen“ gefordert. Anders als das SPD-geführte | |
Innenministerium sieht auch die SPD-Bundestagsfraktion durchaus | |
Handlungsbedarf: [4][In einem Video auf Facebook] schlagen die beiden | |
Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe und Derya Türk-Nachbaur eine | |
Stichtagsregelung vor: Êzîd*innen, die vor November 2023 nach Deutschland | |
gekommen sind und nie straffällig geworden sind, sollten bleiben dürfen – | |
die Fälle aller danach eingereisten sollten dann individuell geprüft | |
werden. | |
Türk-Nachbaur ist eine der Initator*innen des Antrags zur Anerkennung | |
des Genozids. In dem Video erklärt sie, dass keineswegs Opfer des | |
Völkermords abgeschoben würden. Solche Berichte entsprächen „nicht der | |
Wahrheit“, so Türk-Nachbaur. Êzîd*innen, die „viele Jahre nach dem | |
Genozid“ nach Deutschland gekommen seien, bekämen keinen pauschalen Schutz | |
– anders als jene, die zwischen 2014 und 2017 geflohen sind, also während | |
des Völkermords. Ihr Werdegang und ihr Schicksal werde individuell | |
beurteilt. Nur, wenn keine Verfolgung drohe, komme eine Abschiebung in | |
Betracht. | |
Anwältin Hagemann ist über diese Argumentation empört. „Auch unter denen, | |
die nicht direkt 2017 geflohen sind, sind viele Opfer des Genozids“, sagt | |
sie. Viele hätten Familienangehörige verloren, und viele litten bis heute | |
unter den Fortwirkungen des Genozids. „Der Bundestag hat es in seinem | |
Antrag selbst benannt: Es gibt für Êzîd*innen im Irak keine Sicherheit | |
und keine Perspektive“, sagt Hagemann. „Sie erleben noch immer massive | |
Diskriminierung.“ Eine Stichtagsregelung hingegen würde Hagemann begrüßen. | |
„Aber bisher sehe ich dafür weder den politischen Willen noch den Einsatz.“ | |
Für ihren Mandanten Saydo dürfte jede politische Lösung zu spät kommen. | |
Schon Ende Oktober hatte Hagemann eine Petition beim bayerischen | |
Petitionsausschuss eingereicht, um eine Härtefallentscheidung | |
herbeizuführen. Am Mittwoch wurde diese abgelehnt. | |
„Da sei rechtlich nichts zu machen, wurde uns mitgeteilt“, so Hagemann. | |
„Dabei sind diese Petitionen doch genau für diese Fälle da, in denen | |
rechtlich nichts möglich.“ Die Anwältin hat eine Beschwerde gegen die Haft | |
eingelegt. „Aber sonst ist das einzige, was Ali Saydo jetzt noch vor einer | |
Abschiebung bewahren kann, öffentlicher Druck.“ | |
Aktualisierung: Ali Saydo wurde am Dienstag den 12.12.2023 zusammen mit | |
weiteren irakischen Staatsbürgern über die Türkei in den Irak abgeschoben, | |
darunter ein weiterer Êzîde. Nach seiner Ankunft im Irak berichtete er | |
seiner Anwältin am Telefon, er wolle sich bald in das Camp im Nordirak | |
aufmachen, in dem seine Familie seit etwa 10 Jahren in Zelten lebt. Seinen | |
minderjährigen Sohn werde er dort nicht mehr antreffen, berichtet Anwältin | |
Hagemann. Dieser habe sich wegen der „unerträglichen Lage“ im Camp vor | |
einiger Zeit auf eigene Faust auf den Weg nach Europa gemacht. | |
7 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Protest-von-zidinnen-in-Berlin/!5963951 | |
[2] /Genozid-an-zidinnen-2014/!5948101 | |
[3] /Bundestag-ueber-Genozid-an-ziden/!5906527 | |
[4] https://www.facebook.com/derytnSPD/videos/237489752488062/?locale=de_DE | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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