| # taz.de -- Jesid*innen im Irak: Multiple Krisen erschweren Rückkehr | |
| > Viele Jesid*innen leben noch immer in Flüchtlingslagern im Nordirak. | |
| > Der Staat hilft weder beim Wiederaufbau, noch gedenkt er des Völkermords. | |
| Bild: Annalena Baerbock besichtigt im Februar 2023 das zerstörte Stadtzentrum … | |
| „Man weiß nicht, wo man hingehen kann, wo sie als nächstes zuschlagen“, | |
| erzählt die 28-jährige Riham Hico über ihren Alltag in Sindschar im | |
| Nordirak. „24 Stunden lang fliegen Kampfdrohnen, Aufklärungsdrohnen und die | |
| türkische Luftwaffe über uns. Das erzeugt Angst, besonders bei Frauen und | |
| Kindern.“ | |
| Vor dem Einmarsch des IS lebte die Mehrheit der Jesid*innen im Irak, | |
| überwiegend im Distrikt Sindschar. Obwohl der IS seit 2017 bekämpft ist, | |
| sind nur wenige nach ihrer Flucht zurückgekehrt. Die gleichnamige Stadt | |
| beherbergte einst rund 70.000 Menschen. Heute sind es kanpp 2.000. | |
| 60 Prozent der Einwohnenden von Sindschar lebten immer noch in | |
| Vertriebenenlagern oder Übergangsbehausungen, sagte der Bürgermeister Naif | |
| Saido im August dem kurdischen Sender Rudaw. Die irakische Regierung | |
| versäume, die zerstörten Häuser wiederaufzubauen. Außerdem verhinderten | |
| politische Rivalitäten die Rückkehr. Denn in Sindjschar ringen viele | |
| bewaffnete Kräfte um die Kontrolle. Darunter die kurdischen Peschmerga, die | |
| Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Iran-nahen Popular Mobilization | |
| Forces (PMF). | |
| „Es herrscht keine stabile Lage in Sindschar“, sagt Kamal Sido von der | |
| Gesellschaft für bedrohte Völker. „Der islamische Staat und Gruppierungen | |
| des radikalen Islam sind noch in der Region. [1][Die Türkei fliegt fast | |
| täglich Luftangriffe], vor allem mit Kampfdrohnen. Von einer stabilen | |
| Infrastruktur kann man gar nicht sprechen, es gab ja keine Möglichkeit, | |
| wiederaufzubauen.“ | |
| ## Selbstverwaltung statt failed state | |
| Shanuz Khudaida Kari war 14, als sie mit ihrer Familie vor dem IS in die | |
| Berge von Sindschar floh. 2015 kehrten sie in ihr Dorf Sheva Resh zurück. | |
| „Die Menschen suchen nicht nach Arbeitsmöglichkeiten oder eröffnen | |
| Geschäfte, weil sie kein Vertrauen in die Sicherheit haben“, sagt die heute | |
| 23-Jährige. „Sie führen ein schwieriges Leben, da die meisten | |
| Sindschar-Gebiete landwirtschaftlich geprägt sind, so dass sie davon als | |
| Einkommensquelle abhängen, ebenso wie von den Tageslöhnen“, erzählt Kari. | |
| Sie selbst arbeitet als Landwirtin und besitzt ein Stück Land. 2017 bekam | |
| sie von der [2][Organisation DORCAS] ein Gewächshaus. Die Welthungerhilfe | |
| konnte sie mit Geldern des Entwicklungsministeriums und der Gesellschaft | |
| für internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit dem Rest ausstatten – | |
| Pflanzensamen, Düngemittel und ein kleiner Traktor. Heute baut sie unter | |
| anderem Gurken, Sellerie und Tomaten an. Sie verkauft das Gemüse auf | |
| Märkten, das Geld reicht für den Lebensunterhalt. | |
| „Im Irak wurde keine Aufarbeitung gemacht. Politik, Parteien und Moscheen | |
| erinnern nicht an den Völkermord.“, erklärt Sido und nennt das Dorf Kocho, | |
| in dem der IS Jesid*innen gesammelt erschossen hat. „Dort weht auf dem | |
| Dach einer Schule die irakische Flagge, darauf steht: Allahu Akbar. Unter | |
| diesem Ruf hat der IS Menschen massakriert. Wie können sich die Menschen | |
| dann geschützt fühlen, unter dem Hauptsymbol des Staates, der die | |
| Minderheiten schützen soll?“ | |
| Die 28-jährige Hico erzählt: „Wenn wir auf die staatliche Kommune warten | |
| würden, müssten wir monatelang auf Strom warten. Die Menschen haben deshalb | |
| eine Selbstverwaltung gegründet, die Brunnen baut, Stromleitungen legt oder | |
| die Straßen sauber macht.“ Hico ist Sprecherin der Jesid*ischen | |
| Frauenbewegung Tajê, die sich nach dem Genozid gegründet hat. „Wenn wir | |
| möchten, dass Leute zurückkehren, können wir nicht darauf warten, dass sich | |
| etwas ändert. Der Genozid hat gezeigt, dass das Gesellschaftsmodell und | |
| Staatsmodell im Irak nicht funktioniert. Deshalb verwalten wir uns selbst.“ | |
| 19 Jan 2024 | |
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| [1] /Tuerkischer-Militaereinsatz-im-Nordirak/!5981564 | |
| [2] https://dorcas.org/regions/middle-east/ | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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