# taz.de -- Genozid an Êzîd*innen 2014: Die Erinnerung am Leben halten | |
> Der IS ermordete Zehntausende Êzîd*innen. Anlässlich des Gedenktags am | |
> Donnerstag richten Überlebende Forderungen an die deutsche Politik. | |
Bild: Genozidüberlebende wie Jihan und Suzan Alomar (3. u. 4. v. l) übergeben… | |
BERLIN taz | „Ich bin Überlebende des Genozids an den Êzîd*innen“, sagt … | |
19-jährige Jihan Alomar in einem großen Konferenzsaal des Deutschen | |
Bundestags. Gemeinsam mit anderen Überlebenden ist sie am vergangenen | |
Dienstag auf Einladung der NGOs [1][Háwar Help] und [2][Farida Global | |
Organization] sowie des Bundestagsabgeordneten Max Lucks (Grüne) hier, um | |
aus ihrem Leben zu erzählen, zu gedenken und Forderungen an die Politik zu | |
stellen. | |
„Heute bin ich mit meiner Schwester Suzan da“, fährt Jihan fort. „Sie wa… | |
Jahre in Gefangenschaft des IS und wurde erst letztes Jahr befreit. Das ist | |
eine große Sache und es gibt mir Hoffnung, irgendwann auch meinen Vater | |
oder meinen Bruder zu sehen.“ Dann spricht sie unter Tränen weiter: „Viele | |
sind noch in Gefangenschaft, aber wir wissen nicht, ob sie tot sind. Besser | |
wäre es zu wissen, was los ist. Sollen wir noch Hoffnung haben?“ Jihan hält | |
einen Moment inne und gibt sich dann kämpferisch: „Die IS-Männer haben | |
versucht, uns unsere Würde zu nehmen. Aber wir zeigen, dass sie das nicht | |
geschafft haben, dass wir hier sind und über unsere Geschichten sprechen.“ | |
Insgesamt über 300.000 Menschen haben durch den Angriff des IS auf die | |
êzîdische Religionsgemeinschaft in Shingal, im Norden Iraks, ihr Zuhause | |
verloren. Sie leben heute in großen Camps für Binnenvertriebene in Irak, | |
Syrien und der Türkei. Tausende wurden direkt ermordet. Tausende Frauen und | |
teilweise unter 10-jährige Mädchen wurden von IS-Männern verkauft, | |
verschleppt und systematisch vergewaltigt. Über 2.700 Menschen werden noch | |
immer vermisst. | |
Im Januar dieses Jahres hat der Bundestag den Völkermord an den | |
Êzîd*innen [3][als solchen formal anerkannt] und einen umfassenden | |
Maßnahmenkatalog zur Aufarbeitung und Unterstützung der Betroffenen in | |
Deutschland, aber auch in Irak und den kurdisch-irakischen Gebieten | |
beschlossen. | |
## Suche nach Vermissten muss weitergehen | |
Aus Sicht von Düzen Tekkal, der Gründerin von Háwar Help, einer der | |
Organisationen, die sich maßgeblich für die Belange der Überlebenden | |
einsetzen, ein historischer Erfolg. „Die Anerkennung hat eine große | |
Bedeutung für unsere Religionsgemeinschaft, die verfolgt wurde, seit es sie | |
gibt“, sagt sie. Der Genozid 2014 sei bereits der 74. in der Geschichte der | |
Êzîd*innen gewesen und endlich werde der Straflosigkeit ein Ende gesetzt. | |
Auch die anwesenden Überlebenden beteuern Dankbarkeit, betonen aber | |
gleichzeitig, wie viel noch zu tun ist, wie gravierend die Probleme noch | |
sind. Um ihren Aussagen Nachdruck zu verleihen, überreichen sie dem | |
Grünen-Politiker Max Lucks symbolisch weitreichende Forderungskataloge: Es | |
brauche psychosoziale Hilfe für die teils schwer traumatisierten Menschen, | |
einen besonderen Schutzstatus für Êzîd*innen, die in Deutschland Asyl | |
suchen und eine konsequente Strafverfolgung der IS-Terroristen. | |
Zudem müsse die Suche nach vermissten Menschen fortgeführt werden. | |
Besonders aufmerksamkeitsbedürftig sei auch die Lage in den Camps. „Es gibt | |
dort keine Arbeit, Frauen haben dort keine Möglichkeiten, Kinder können | |
nicht in die Schule“, die Lage verschärfe sich zusehends, sagt Hakeema | |
Taha, eine der anwesenden Überlebenden. | |
Auch Max Lucks, der auf einer Reise in der Region Kurdistan-Irak war, | |
bestätigt: „Die Situation in den Camps ist dramatisch.“ Lucks verweist | |
zudem auf besonders vulnerable Gruppen: „Noch heute leben dort Frauen mit | |
Kindern, die durch Vergewaltigungen seitens des IS gezeugt wurden, weil | |
ihre Kinder nicht zurück in die jesidischen Dörfer dürfen. Diese Kinder | |
haben keine Lobby.“ | |
## Geld kommt in der Region kaum an | |
Es bräuchte ein Sonderkontingent auf Bundesebene, um sie nach Deutschland | |
zu holen. Bei der Umsetzung sieht er besonders Bundesinnenministerin Nancy | |
Faeser (SPD) in der Pflicht, verweist aber auch auf die Möglichkeiten der | |
Länder, eigene Sonderkontingente aufzusetzen. Baden-Württemberg [4][habe | |
2015 vorgemacht, dass es geht], sagt er. | |
Ein weiteres drängendes Problem ist die Rückkehrperspektive der 300.000 | |
Binnenvertriebenen. Viele Orte sind leer und weitestgehend zerstört. Es | |
gibt zwar bereits seit Jahren [5][Aufbauunterstützung in Millionenhöhe], | |
teilt das Auswärtige Amt auf taz-Anfrage mit. | |
Êzîdische Vertreter*innen, wie Sabriye Savgat, vom [6][Dachverband des | |
Êzîdischen Frauenrats], beklagen jedoch, dass kaum Geld in der Region | |
ankomme. „Einen Großteil des Wiederaufbaus finanzieren wir mit unserer | |
Lohnarbeit hier in Deutschland und dem Geld, das wir in unsere Heimat | |
schicken“, sagt sie. Aufbau- und Entwicklungsgelder müssten direkt an die | |
Êzîd*innen verteilt werden und nicht indirekt über die irakische | |
Zentralregierung oder die kurdische Regionalverwaltung. | |
Feleknas Uca, Vorstandmitglied der türkischen Linkspartei HDP und selbst | |
êzîdische Kurdin, bemängelt zudem die Sicherheitslage in der Region. | |
Besonders die Türkei greife die êzîdischen Gebiete immer wieder an. 2021 | |
wurde gar ein neu aufgebautes Krankenhaus zerstört, so Uca. Diese Angriffe | |
müssten gestoppt werden. | |
Das Auswärtige Amt teilt dazu mit, es habe die Türkei, die sich bei ihren | |
Angriffen auf Terrorbekämpfung beruft, in der Vergangenheit aufgefordert, | |
verhältnismäßig zu agieren und dabei das Völkerrecht zu achten – diese | |
Forderung habe unverändert Bestand. | |
Max Lucks geht das nicht weit genug. Er verurteilt die Angriffe der Türkei | |
als völkerrechtswidrig. „Die Türkei destabilisiert die Region Shingal. | |
Deutschland und Europa müssen sich dazu verhalten“, fordert er. Nur wenn | |
die Sicherheitslage in der Region stabil ist, haben die Menschen dort | |
wirklich wieder eine Perspektive, so Lucks weiter. | |
Eine Rückkehrperspektive bedeute aus Sicht der Überlebenden aber auch Mit- | |
und Selbstbestimmung auf allen politischen Ebenen. Eine weitere zentrale | |
Forderung lautet daher „Mit uns, für uns“. Das gelte auch in Deutschland. | |
3 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hawar.help/de/ | |
[2] https://faridaglobal.org/ | |
[3] /Bundestag-ueber-Genozid-an-ziden/!5906527 | |
[4] /Jesiden-aus-dem-Nordirak/!5917377 | |
[5] /Annalena-Baerbock-in-Bagdad/!5920767 | |
[6] https://www.smje.de/ | |
## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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