| # taz.de -- Unterdrückung in orthodoxer Gemeinschaft: Eine ezidische Rebellin | |
| > Die Freiheit ezidischer Frauen ist eingeschränkt. Yasemin, eine junge | |
| > Ezidin, spricht über diese Unterdrückung und wie sie sich von ihr | |
| > befreite. | |
| Bild: Ein blutiges Laken als Zeugnis der Hochzeitsnacht | |
| Duisburg taz | Elegant platzierte schwarze Möbel auf tristem grauem Boden: | |
| Yasemins dunkles Zimmer wirkt auf den ersten Blick sehr düster. Wer ihre | |
| Geschichte hört, erkennt, dass ihre Einrichtung auch ihr Inneres | |
| wiedergibt: Die gegenwärtige Angst, der immer wiederaufkommende Hass und | |
| der endlose Schmerz, den sie in ihrem Alltag verspürt. Schwarz steht häufig | |
| für ein Ende: In diesem Fall symbolisiert es Yasemins Bruch mit ihrer | |
| religiösen Gemeinschaft. | |
| Seit fast drei Jahren bezieht sie nun ihre erste eigene Wohnung im sechsten | |
| Stock eines Hochhauses in Duisburg. Gleich zu Beginn gibt sie zu verstehen, | |
| dass ihr neues Zuhause in keiner Weise mit dem prächtigen Haus ihrer Eltern | |
| vergleichbar sei. Doch für sie habe das Materielle an Bedeutung verloren. | |
| An oberster Stelle stehe ihre erkämpfte [1][Freiheit] – ein Gut, das für | |
| sie unbezahlbar ist. | |
| Diese langersehnte Freiheit hat eine bittere Vorgeschichte: Die 31-jährige | |
| Sachbearbeiterin habe immer versucht, die Konventionen ihrer ezidischen | |
| Glaubensgemeinschaft zu befolgen. Von klein auf wurde ihr eingetrichtert, | |
| dass sie jungfräulich in die Ehe zu gehen habe und dass sie einen Eziden | |
| heiraten müsse. Andere Glaubensrichtungen sind in ihrer endogamen | |
| Gemeinschaft tabu. | |
| ## Sie funktioniert nur noch | |
| Männer dürften alles und werden zu kleinen Halbgöttern erzogen, während | |
| Frauen in allen Lebensbereichen eingeschränkt und auf ihre Rolle als | |
| Hausfrau und Mutter vorbereitet würden. Wohl fühlte sie sich nie, doch | |
| Yasemin weiß, welche Konsequenzen Frauen drohen können, die gegen die | |
| Traditionen verstoßen: der Tod. Aus diesem Grund entschließt sie sich, | |
| einfach nur zu funktionieren, um zu überleben, obwohl sie weiß, dass sie so | |
| niemals glücklich werden kann. Yasemin erzählt, dass ihr Leben zum Alptraum | |
| wurde. | |
| Als Yasemin 14 Jahre alt ist, flüchtet ihre Schwester von zu Hause, weil | |
| sie mit einem muslimischen Mann zusammen sein will. In den Augen der streng | |
| orthodoxen Gemeinschaft gilt dies als das schwerstes Vergehen, beschreibt | |
| sie. | |
| Das Ezidentum ist eine ethnisch-religiöse Gruppe mit sehr strengen | |
| Endogamiegeboten. Es ist nicht nur verboten, außerhalb der Gemeinschaft zu | |
| heiraten, es gibt zudem auch ein Kastensystem, das vorsieht, sich nur | |
| innerhalb der eigenen Kaste zu vermählen. Zum Ezidentum zu konvertieren, | |
| ist nicht möglich. Ezide wird man nur durch Geburt. | |
| Doch Yasemin verachtet diese Regeln. Sie erkennt zwar an, dass die | |
| ezidische [2][Geschichte von Verfolgung, Vertreibung und Völkermord] | |
| geprägt ist und diese Regeln eingeführt wurden, um die Gemeinschaft vor der | |
| Übernahme durch feindliche Religionen zu schützen, denn auf diese Weise | |
| sollte das Ezidentum bewahrt werden. Gleichzeitig bedeuten die Regeln für | |
| sie auch Kontrolle – vor allem der Kontrolle ihres weiblichen Körpers und | |
| ihrer Sexualität. | |
| ## Ohne Jungfräulichkeit wertlos | |
| Auch Yasemins ältere Schwester wagt es, sich dagegen aufzulehnen. Sie | |
| konvertiert sogar zum Islam. Ihr „Fehlverhalten“ führt dazu, dass die | |
| gesamte Familie Toprak von der ezidischen Gemeinschaft verstoßen wird. Die | |
| junge Frau erinnert sich sehr genau an diese schwierige Zeit. Einige | |
| Verwandte wechseln kein Wort mehr mit ihrer Familie und auch | |
| Hochzeitseinladungen bleiben aus. | |
| Dieses Ereignis traumatisiert Yasemins Eltern, sodass sie ihren | |
| Kontrollzwang auf sie ausweiteten. Das Ziel der Eltern: eine anständige | |
| Tochter zu erziehen. Zunächst scheint es auch so, als sei ihnen das | |
| geglückt, denn Yasemin verlobt sich mit einem ezidischen Mann. | |
| Er überzeugt sie davon, dass sie miteinander schlafen können – schließlich | |
| würden sie ohnehin bald heiraten. Doch als aus dem Umfeld des Verlobten | |
| alte und bereits auf Yasemins Social-Media-Accounts gelöschte Bikini-Bilder | |
| von ihr auftauchten, trennt er sich von ihr. | |
| Für Yasemin bricht eine Welt zusammen. Sie hinterfragt ihr ganzes Leben, | |
| weil ihr das bis zu diesem Zeitpunkt wichtigste, nämlich ihre | |
| Jungfräulichkeit, genommen wurde. Sie weiß, dass Männer Frauen darauf | |
| reduzieren. Ohne den jungfräulichen Status fühlt sie sich wertlos. | |
| ## Ein blutiges Laken | |
| Yasemin erzählt von der Tradition, einer ezidischen Braut an ihrem | |
| Hochzeitstag ein rotes Band umzulegen, das ihre Jungfräulichkeit | |
| symbolisieren soll. Daraus entstehe für viele Frauen ein Druck, in der | |
| Hochzeitsnacht bluten zu müssen. Yasemins Meinung ist eindeutig: „Für mich | |
| ist das eine geplante Vergewaltigung, denn die Frau muss in dieser Nacht | |
| Sex haben, und sie muss bluten.“ | |
| Am nächsten Tag muss das blutige Laken oft der Tante der Braut übergeben | |
| werden. Yasemin selbst habe bei ihrem ersten Mal nicht geblutet und weiß, | |
| [3][dass ihre Kultur an einem Mythos festhält]. Dieser Irrglaube gefährde | |
| das Leben von Frauen. | |
| Vor dem Hintergrund, dass ihrer Gemeinschaft biologische Tatsachen | |
| gleichgültig seien, fragt sie sich, nachdem sie verlassen wurde: „Welcher | |
| Mann würde mich noch heiraten wollen?“ Auch die ablehnende Haltung der | |
| Eltern, die ihre Tochter allein für die geplatzte Verlobung verantwortlich | |
| machen, trägt dazu bei, dass sich Yasemins psychische Stimmung | |
| verschlechtert. | |
| Die junge Frau erzählt, dass sie als letzten Ausweg in Betracht zog, Suizid | |
| zu begehen, und dass sie bereits vor einer Brücke stand, um sich das Leben | |
| zu nehmen. Auch wenn sie diesen Schritt nicht wagte, verfolgen sie seitdem | |
| Depressionen. | |
| ## Sex, Party und Alkohol | |
| Auf diesen Tiefpunkt folgt ein Paradigmenwechsel in Yasemins Leben, der | |
| einen schleichenden Bruch mit den orthodoxen Traditionen einleitet. Sie | |
| fragt sich: „Warum soll ich mich für meine Familie aufopfern und meine | |
| Bedürfnisse hintanstellen, wenn ich am Ende keinen Rückhalt bekomme?“ | |
| Die fehlende Unterstützung nimmt Yasemin zum Anlass, um Distanz gegenüber | |
| den ezidischen Wertvorstellungen zu entwickeln und zur geheimen Rebellin zu | |
| werden. Schließlich sei sie keine Jungfrau mehr und habe somit nichts mehr | |
| zu verlieren. Sie fängt an, ein Doppelleben zu führen und eine Lüge | |
| aufrechtzuerhalten. | |
| Zu Hause vor ihrer Familie gibt sie sich weiterhin als fromme und | |
| konservative Frau ab, während sie außerhalb der eigenen vier Wände das | |
| Gegenteil lebt: Sex, Party und Alkohol. Yasemin schaut aus dem Fenster und | |
| gibt zu verstehen, dass dieser Schritt nicht einfach war. Sie gibt zu: | |
| „Selbst beim Sex denke ich an meine Familie.“ Die Schuldgefühle lassen sie | |
| bis heute nicht los. | |
| Doch als sie im Jahr 2021 von ihrer jüngeren Schwester [4][im Podcast | |
| „1Live Intimbereich“] entdeckt wird, fliegt Yasemins Lügengerüst auf. Dort | |
| spricht die junge Frau über das absolute Tabuthema Sex. Yasemin regt sich | |
| darüber auf, dass ihr Ex-Verlobter ihre Jungfräulichkeit anzweifelte, weil | |
| sie bei ihrem ersten Mal nicht blutete. Die Schwester gibt den Inhalt der | |
| Folge an ihre Eltern weiter. | |
| ## Obdachlos, arbeitslos und allein gelassen | |
| Der Horror wurde damit eröffnet. Der Vater kochte vor Wut und wollte auf | |
| die zu der Zeit an Depressionen leidende Yasemin einschlagen, erzählt sie. | |
| „Warum hast du dich nicht damals einfach umgebracht?“, brüllt er sie an. | |
| Der Vorwurf des Vaters sei eindeutig: Seine Tochter habe die Ehre und das | |
| Ansehen der Familie beschmutzt und das sei wichtiger als das Leben seiner | |
| Tochter. | |
| Ihre Eltern setzten Yasemin vor die Tür – das mitten im Corona-Lockdown. | |
| Obdachlos, arbeitslos und allein gelassen, läuft die 29-Jährige durch die | |
| Gegend. Ihre erste Nacht verbrachte sie auf einem Spielplatz. Dann schlief | |
| sie vier Tage im Obdachlosenheim und ein paar Monate bei Freunden, bis sie | |
| eine eigene Wohnung fand. Auf die Frage, was sie verbrochen habe, antwortet | |
| Yasemin: „Ich habe außerehelichen Sex gehabt.“ | |
| In Deutschland leben etwa 200.000 Eziden – es ist ein sehr kleiner Kreis, | |
| erklärt Yasemin. Deshalb sei es auch nicht schwer, herauszufinden, welche | |
| Tochter in diesem Podcast mit einem Tabu bricht. Yasemins Geschichte | |
| verbreitet sich in der ezidischen Community wie ein Lauffeuer. Ihre Familie | |
| schämt sich. | |
| Die Beleidigungen reichen von „Hure“, „Schlampe“, „Nutte“ bis hin zu | |
| Vorwürfen wie: „Nur weil du für jeden deine Beine breitmachen willst, musst | |
| du nicht versuchen, andere Frauen zu verderben.“ Mehrere Anhänger ihrer | |
| Glaubensgemeinschaft schreiben ihr, sie sei keine Ezidin mehr, weil sie vor | |
| der Ehe Sex hatte. „Seit wann kann dir ein Schwanz deine Religion nehmen?“, | |
| empört sie sich. | |
| ## Drohungen der Familie | |
| Heute ist Yasemin mit über 70.000 Followern erfolgreiche Tiktokterin und | |
| versucht auf der Plattform, die Missstände in ihrer Community zu | |
| thematisieren. Frech und aufgedreht beschwert sie sich über schlechten Sex | |
| und spricht offen über ihre psychische Gefühlslage. Yasemins | |
| Netzaktivitäten blieben von ihrer Familie nicht unkommentiert. „Lösch | |
| deinen Twitter-Account, sonst bringe ich dich um“, schrieb ihr einmal ihr | |
| Vater in einer Mail. | |
| Viele Frauen aus ihrer Gemeinschaft wenden sich mit ähnlichen Problemen an | |
| sie. Sie seien zu Hause gefangen und wissen nicht weiter. Yasemin möchte | |
| ein Vorbild sein und sie ermutigen, diese misogynen Strukturen zu | |
| hinterfragen und mit ihnen zu brechen. Schließlich bedeute der Verlust der | |
| Familie auch einen großen Gewinn: das Recht auf ein freies und | |
| selbstbestimmtes Leben. | |
| 30 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ninve Ermagan | |
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