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# taz.de -- Verfolgte Jesid*innen: Von der Welt vergessen
> Zehn Jahre nach dem Massaker von Sindschar sind Jesiden weiterhin in
> Gefahr. Während sie in Deutschland für einen Abschiebestopp kämpfen,
> bleibt die Lage in ihrer Heimat instabil.
Irakisch-Kurdistan/Potsdam taz | Shahab Smoqi ist aufgeregt. Der 21-Jährige
nimmt an diesem heißen Junitag in Potsdam zum ersten Mal an einer
Demonstration teil, er will sogar eine Rede halten. Hinter dem Podest
hängen zwei Banner mit den Forderungen „Eziden schützen!“ und
„Abschiebestopp jetzt“. Gegenüber tagen die Innenminister, die an diesem
Vormittag auch über Migration sprechen wollen. Vom Podest aus kann Shahab
Smoqi den Eingang sehen.
„Ich bin heute hier, um meine Geschichte mit euch zu teilen“, sagt er mit
fester Stimme ins Mikrofon. Er trägt Anzughose und Hemd, manchmal fällt ihm
eine seiner schwarzen Locken ins Gesicht. Über das, was er erlebt hat,
spricht er eigentlich nicht gerne. Es belaste ihn zu sehr. Aber heute geht
es um seine Zukunft und er findet, dass seine Geschichte stellvertretend
für das Schicksal und Trauma von so vielen Jesiden steht – in Deutschland
und im Irak.
Shahab Smoqi möchte heute davon berichten, wie er 2014 als 11-Jähriger im
Irak der Terrororganisation [1][„Islamischer Staat“ (IS)] knapp entkam und
so den [2][Genozid an seiner Glaubensgemeinschaft], den Jesiden, überlebte.
Er will davon erzählen, wie schnell er sich in die deutsche Gesellschaft
integriert hat. Dass er schon nach sechs Monaten fließend Deutsch sprach,
dass er in Hamburg als IT-Fachkraft in Festanstellung arbeitet, sich
ehrenamtlich in einer Umweltorganisation engagiert. Auch seine Familie, die
Eltern und Geschwister, leben hier. „Deutschland ist innerhalb von nur drei
Jahren zu meinem neuen Zuhause geworden“, sagt er. Doch sein Asylantrag
wurde abgelehnt. Als er ihn im Jahr 2020 stellte, galt der IS schon als
besiegt und Jesiden nicht mehr als verfolgt. Dass er im Irak bis zuletzt in
einem Flüchtlingslager lebte, zählt nicht. Shahab Smoqi soll abgeschoben
werden.
Deutschland hat lange nur sogenannte Gefährder und verurteilte Straftäter
in den Irak abgeschoben. Seitdem die beiden Länder ein Rückführungsabkommen
geschlossen haben, steigen die Zahlen stark an: 2023 wurden laut
Bundesinnenministerium (BMI) 300 irakische Staatsangehörige in den Irak
abgeschoben und damit fast viermal so viele wie im Jahr zuvor. In den
ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es bereits 345 Menschen. Wie viele
davon Jesiden sind, erfasst das BMI nicht. Die Hilfsorganisation ProAsyl
schätzt, dass fünf- bis zehntausend Jesiden ausreisepflichtig sind, also
potenziell abgeschoben werden können.
## 2.600 bis heute vermisst
Auf der Demo fordern Smoqi und seine Mitstreiter von den Innenministern
einen bundesweiten [3][Abschiebestopp] für Jesiden. „Der Irak ist ein Land
der Täter und der Mörder der Jesiden. Deshalb ist es besonders für uns
gefährlich, dorthin zurückzukehren“, sagt er.
Smoqi kommt aus einem kleinen Dorf in der Region Sindschar im Nordirak,
einem traditionellen Siedlungsgebiet der Jesiden. Die ethnisch-religiöse
Minderheit wird seit Jahrhunderten verfolgt. Im August 2014 hatte es der IS
auf sie abgesehen. Die Islamisten gingen systematisch vor, mit dem Ziel,
Jesiden zu vernichten. Sie drangen in ihre Dörfer ein und töteten etwa
5.000 Menschen. Tausende Frauen und Kinder wurden verschleppt, versklavt,
vergewaltigt. Hunderttausende wurden vertrieben, fanden Zuflucht in
[4][Flüchtlingslagern in der Autonomen Region Kurdistan]. Mehr als 2.600
Menschen werden bis heute vermisst.
Eine Reise dorthin zeigt, wie schwierig die Lebensbedingungen für geflohene
Jesiden zehn Jahre nach dem Überfall durch den IS teilweise noch sind. Es
ist März, der Himmel über dem Flüchtlingslager „Qadia“ ist grau und
verhangen. Es liegt abseits einer Landstraße mitten im Niemandsland der
Autonomen Region Kurdistan. Die Gegend ist karg, sandfarben, die Straßen im
Camp sind durch seit Tagen anhaltenden Starkregen vermatscht. Die
20-jährige Berivan Elyas zeigt auf die Zelte und Container, die sich an den
parallel liegenden Schotterstraßen säumen. „In den Hütten vieler Familien
gibt es Löcher, durch die es bei Regen von der Decke tropft“, erklärt sie.
Ein Tanklaster fährt vorbei. Er bringt Wasser in das Camp, erklärt Berivan
Elyas. Fließendes Wasser gibt es nicht, alle vier Tage können sie ihren
Wassertank auffüllen. Auch das Gas für die Heizöfen ist rationiert. Was vor
allem im Winter eine Herausforderung werden kann, denn dann herrschen hier
oft Minusgrade.
Elyas lebt in einem der weißen Container am Eingang des Camps. Sie teilt
sich rund 20 Quadratmeter mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern. Ihren
Vater habe der IS getötet, sagt sie. Sie hat sich die schwarzen Haare zum
Zopf gebunden, ist groß, hat eine sportliche Figur, strahlt eine innere
Ruhe aus.
## Die Häuser von Bomben zerstört
„Weil die Menschen hier in Containern und nicht in Zelten leben, wird es
auch das „VIP-Camp“ genannt“, sagt Ava Abdullah von Hawar.Help. Die
deutsche NGO bietet im Camp unter anderem Fußballtraining für Mädchen und
Nähkurse für Frauen an. Sie wurde 2015 von der in Deutschland lebenden
Autorin Düzen Tekkal und ihren Geschwistern gegründet. „Man sagt, es sei
eines der besten Camps, aber wie man sehen kann, ist es schwer, hier zu
leben“, sagt Abdullah.
Elyas und ihre Cousine Shanahz Ravo sitzen im Schneidersitz auf dem
Teppich, Shanahz spielt ein Handyvideo ab. Es zeigt einen Straßenzug, an
dem jedes Haus zerstört ist. Die Kamera zoomt an ein Haus, von dem nur noch
die Außenwände stehen. Das sei ihr Haus. Aufgenommen im Dezember 2017, kurz
nachdem der damalige irakische Premierminister Haider al-Abadi verkündete,
der IS sei im Irak besiegt.
Errungen wurde dieser Sieg mithilfe einer von den USA geführten
internationalen Koalition, die die irakische Armee, kurdische Peschmerga
und schiitische Milizen unter anderem durch Luftangriffe auf den IS
unterstützte. Von dieser Bombardierung wurde vermutlich auch das Haus von
Shanahz Ravo getroffen. „Wie nackte Skelette“, sagt sie. „Bis heute ist
mein Haus zerstört.“ Auch deshalb könnten sie nicht zurück.
Aktuell leben immer noch mehr als 100.000 Jesiden in Flüchtlingslagern in
der Autonomen Region Kurdistan. Ihre Heimat Sindschar liegt keine 150
Kilometer entfernt. Doch zurückgekehrt sind die wenigsten.
Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes heißt es, in ihrer
Heimatregion Sindschar gebe es immer noch kein fließendes Trinkwasser,
keine geregelte Stromversorgung, zerstörte Gebäude und Infrastruktur. Zudem
sei die Sicherheitslage volatil, weil in der Region immer noch bewaffnete
Gruppen aktiv sind. Die Region ist strategisch wichtig, unter anderen die
kurdische Autonomiebehörde, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Iran-nahe
Truppen und die irakische Regierung ringen um die Kontrolle über Sindschar.
Auch der IS ist noch da, auch wenn er in der Fläche als besiegt gilt. All
das behindert den Wiederaufbau, obwohl in die Region in den letzten Jahren
Milliarden an internationaler Hilfe geflossen sind. Wo das viele Geld hin
ist – niemand weiß es so genau.
## Weiter Diskriminierung ausgesetzt
„Es sollte kontrolliert werden, was mit den Geldern passiert. Wie sie
ausgegeben werden. Dass das nicht passiert, ist eines der größten Probleme
hier“, sagt Abid. Er sitzt in einem Restaurant in der nordkurdischen Stadt
Dohuk, vor ihm auf dem Tisch dampft eine Tasse Tee, während es draußen
wieder anfängt zu regnen.
Abid heißt eigentlich anders. Er ist Aktivist, auch er hat den Völkermord
von 2014 überlebt. Mit Medien zu sprechen, kann gefährlich für ihn sein.
Aber gemeinsam mit zwei Freunden will er unbedingt von der Situation in
Sindschar berichten. Das Restaurant liegt am Stadtrand. Es gehört zu einer
türkischen Kette und ist eines der wenigen, das an diesem Sonntagnachmittag
offen hat. Es ist Ramadan, fast alle Geschäfte haben tagsüber geschlossen.
Jesiden fasten während des Ramadans nicht, aber jesidische Restaurants oder
Cafés gibt es in Dohuk so gut wie nicht.
„Wenn ich einen muslimischen Gast habe und der mich zu Hause besuchen
kommt, dann wird er auch nichts essen. Es ist ihnen verboten, sie sehen uns
als Ungläubige“, erzählt Abid. Er runzelt die Stirn noch mehr, als er von
seinen Erfahrungen berichtet. Etwa davon, wie manche seiner muslimischen
Kommilitonen während des Studiums nichts essen wollten, was er mitgebracht
hatte.
Das Auswärtige Amt schätzt die [5][Sicherheitslage für die jesidische
Gemeinschaft] in der Region Kurdistan-Irak als weitgehend stabil ein. Die
kurdische Regionalregierung habe demnach explizit unterstrichen, die
jesidische Gemeinschaft schützen zu wollen. Was genau das bedeutet, wird im
Lagebericht des Auswärtigen Amts jedoch nicht ausgeführt.
Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR, kommt in einem Bericht allerdings zu dem
Schluss, dass Jesiden im Irak noch immer Diskriminierung ausgesetzt sind
und zwar sowohl in der Autonomen Region Kurdistan, die zum Irak gehört, als
auch in Sindschar. Der UNHCR berichtet von Diskriminierung auf dem
Arbeitsmarkt sowie gesellschaftlicher Schikane. Dass trotz der schwierigen
Bedingungen in der kurdischen Region viele der Binnenflüchtlinge nach
Sindschar zurückkehren, können sich Abid und seine Freunde nicht
vorstellen. Sie leben in Sindschar, weil sie sich dort aktiv für den
Wiederaufbau einsetzen und kennen die Probleme vor Ort. „Politisch gesehen,
aber auch, was die Infrastruktur anbelangt, ist Sindschar noch nicht dafür
bereit, dass die Menschen zurückkommen“, sagt Abid. „Es braucht mehr
Schulen und Krankenhäuser. Etwa 40 Prozent der Jesiden sind zurück und die
Infrastruktur reicht noch nicht mal für die aus.“
Die genaue Anzahl der Zurückgekehrten ist schwer zu erfassen. Nach
Informationen der NGO Jiyan, die im Nordirak mit Jesiden arbeitet, haben
sich seit Mai fast 8.000 Menschen aus den Flüchtlingslagern nach Sindschar
aufgemacht.
Was viele Jesiden von einer Rückkehr abhält, ist aber auch die Angst, die
sie nicht loswerden. „Das Schwerste für uns ist, dass viele, als sie vom IS
gefangen genommen wurden, ihre Nachbarn sahen. Leute aus der Gegend, mit
denen sie seit mehr als 70 Jahren zusammenlebten“, erzählt Abid. „Und
plötzlich nehmen diese Leute ihre Mädchen mit, vergewaltigen und foltern
sie, töten die Männer. Die Menschen hier trauen ihren Nachbarn nicht mehr.“
Viele sunnitische Muslime schlossen sich 2014 in Sindschar dem IS an, der
eine radikale Auslegung des sunnitischen Islams vertritt. Sie fühlten sich
durch die schiitisch dominierte Regierung benachteiligt und unterdrückt.
Der IS versprach ihnen Schutz, wirtschaftliche Vorteile und eine neue
Identität. Auch Nachbarn, teils Freunde von Jesiden ließen sich davon
vereinnahmen.
„Überlebende des Völkermords befürchten, dass genau diese Nachbarn wieder
neben ihnen leben könnten“, erzählt Abids Freund Hezni. Auch er heißt
eigentlich anders. „Vielleicht waren es ihre Nachbarn, die sich dem IS
angeschlossen und ihre Familie getötet haben. Und jetzt leben sie wieder
nebenan, als wäre nichts gewesen. Wie kann man so leben, mit all den
Erinnerungen?“
Doch anstatt die Täter strafrechtlich zu verfolgen, ist im Irak gerade ein
allgemeines Amnestiegesetz im Gespräch, durch das zahlreiche Terroristen
freigesprochen werden könnten. Auch solche, die mutmaßlich am Völkermord an
den Jesiden beteiligt waren. „Was Jesiden vor allem wollen, ist
internationaler Schutz“, sagt Hezni. Die meisten von ihnen trauen weder der
irakischen Zentralregierung noch der Regierung der kurdischen
Autonomiebehörde.
## Gestiegene Suizidrate
Im Qadia-Flüchtlingslager zieht mittlerweile das nächste Gewitter auf,
Donner knallt vom Himmel herunter, der Regen prasselt hart und laut auf das
Wellblech über Berivan Elyas und Shahnaz Ravo. Sie stehen im Innenhof ihrer
Schule, ein flacher Containerbau mit offenem Innenhof, von dem die
Klassenzimmer abgehen. An den Wänden kleben Plakate, die über Landminen
aufklären und davor warnen, sie aufzuheben. Etwa 500 Kinder lernen hier im
Schichtbetrieb, erzählen sie: Morgens wird auf Kurdisch unterrichtet,
abends auf Arabisch. „Während der Klassenarbeiten sitzen bis zu 50 Kinder
in einem Raum“, sagt Berivan. „Es ist deswegen schwierig, gute Noten zu
schreiben.“
Berivan Elyas setzt viel auf den Schulabschluss, weil sie darin ihre
einzige Chance auf ein besseres und vor allem selbstbestimmtes Leben sieht.
Ihre Cousine hat keinen Schulabschluss bekommen. Sie fiel wiederholt durch
Prüfungen. „Das belastet mich sehr“, erzählt Shahnaz Ravo. Sie würde ger…
zu einem Arzt oder einer Psychologin gehen, sich mal durchchecken lassen.
„Aber es gibt hier keine Angebote. Wir kennen einige, die bereits
Selbstmord begangen haben“, sagt sie.
Dass die Suizidrate unter Überlebenden des Völkermords offenbar angestiegen
ist, davon berichtet auch das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht und
bezieht sich dabei auf zwei NGOs, die mit Überlebenden arbeiten. Doch
Angebote für psychologische Betreuung werden reduziert, auch, weil
insgesamt weniger internationale Hilfsgelder in die Region fließen, sondern
stattdessen in andere Konfliktregionen wie die Ukraine oder nach Gaza.
Staatliche Unterstützungsangebote gibt es nicht.
Umso wichtiger ist die Arbeit von Nada Salim in Alqosh, einer Stadt rund
eine Autostunde südöstlich vom Qadia-Camp. Alqosh liegt am Fuße eines
Berges, an dessen Hängen ein christliches Kloster aus dem siebten
Jahrhundert thront. Hier hat die Menschenrechtsorganisation Jiyan eines
ihrer Büros, in einem ruhig gelegenen Haus mit vielen verwinkelt gelegenen
Zimmern.
Nada Salim sitzt gemeinsam mit Kolleginnen in einem Besprechungsraum an
einem großen langen Tisch. Sie leitet hier die psychotherapeutische
Abteilung. Jiyan bietet unter anderem kostenlose Therapie für Überlebende
des Völkermords an. „Viele Jesiden sind noch immer tief traumatisiert durch
die Misshandlungen, die sie erlebt haben“, sagt Nada Salim. „Eine Frau hat
erzählt, dass sie sich in der Gefangenschaft nicht wie ein Mensch gefühlt
hat, sondern eher wie eine Maschine, die benutzt wurde. „Sie sagte: „Ich
wurde für den Haushalt oder als Sexobjekt benutzt.“ Nada Salim ist selbst
Jesidin, stammt allerdings nicht aus Sindschar, wie die meisten ihrer
Patienten. Ihre Religionszugehörigkeit hilft dennoch vielen, Vertrauen zu
ihr aufzubauen und psychische Erkrankungen so besser behandeln zu können.
## Multiple Traumata, zu wenig Hilfe
Angststörungen, Posttraumatische-Belastungsstörungen und Depressionen sind
besonders verbreitet. Doch es gebe nicht genug professionelle Hilfe wie die
von Jiyan. Obwohl durch das Leben in den Flüchtlingslagern häufig weitere
Traumata hinzukommen. „Die Menschen in den Camps leiden nicht nur psychisch
an den Ereignissen von 2014, sondern auch wirtschaftlich und materiell,
wodurch multiple Traumata entstehen“, sagt Nada Salim. „Je länger sie nicht
behandelt werden, desto schwieriger ist es, sie zu bewältigen.“
Solche multiplen Traumata erleben oft auch jene, die aus der Gefangenschaft
zurückkommen. Nada Salim erzählt von einem Jungen, den der IS als
Kindersoldat missbrauchte: „Als er vom IS zurückgekommen ist, hat er
gehofft, seine Familien zu treffen. Aber die meisten wurden vom IS ermordet
oder verschleppt. Und er musste erfahren, dass er nicht in sein altes
Zuhause kann, sondern im Camp leben muss.“
Was Nada Salim besonders Sorgen bereitet, ist, dass sich die erlebten
Traumata in der nächsten Generation fortsetzen. Auch bei Kindern, die nach
dem Völkermord geboren wurden. „Wir stellen fest, dass die Kinder oft sehr
gewalttätig sind, auch gegenüber anderen Kindern. Oft erzählen die Familien
von den schlimmen Erlebnissen beim IS, während die Kinder dabei sind. Das
prägt sich bei diesen ein.“
Die Not, der Bedarf ist groß. Das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat den Wiederaufbau im Irak seit 2014
mit zwei Milliarden Euro unterstützt. Aus dem BMZ heißt es, weil sich die
Lage im Irak „deutlich verbessert“ habe, würden auch die humanitäre Hilfe
und die Maßnahmen zur Krisenbewältigung schrittweise zurückgefahren. In
Sindschar werden weiterhin Projekte unterstützt, beispielsweise vergangenes
Jahr mit 15 Millionen Euro der Neubau von Wohnhäusern und die
Instandsetzung von Abwassersystemen. Grundsätzlich wäre der Irak auch
alleine in der Lage, Sindschar wieder aufzubauen. Das Land ist reich an
Bodenschätzen, vor allem an Erdöl.
Berivan Elyas wünscht sich mehr Unterstützung, egal von wem. Sie hat Angst,
dass die irakische Regierung die Flüchtlingslager schließen wird. Das hatte
sie für Ende Juli angekündigt. Offenbar möchte die irakische
Zentralregierung das Jesiden-Kapitel zehn Jahre nach dem Völkermord
schließen. Auch deshalb haben sich einige dann doch auf den Weg zurück nach
Sindschar gemacht. Auf dem Weg zurück zu ihrem Wohncontainer laufen Elyas
und ihre Cousine bereits an leeren Behausungen vorbei. Wer wieder nach
Sindschar zieht, bekam von der Regierung bis Ende Juli vier Millionen
Irakische Dinar. Das sind umgerechnet knapp 3.000 Euro. Ein zerstörtes Haus
wieder aufzubauen, sich eine Lebensgrundlage zu schaffen – im Irak sei das
mit diesem Betrag nicht möglich, sagen sie.
## In Deutschland nur geduldet
Berivan Elyas und ihre Familie wollen so lange bleiben, wie das Camp
besteht. Auch wenn sie sich, so wie die meisten nach ihrer Heimat sehnen,
ist eine Rückkehr nach Sindschar doch für viele keine Option. Und das
scheint die Regierung verstanden zu haben: Die Camps wurden bis jetzt
zumindest nicht geschlossen.
In Deutschland hangelt sich Shahab Smoqi derweil weiter von Duldung zu
Duldung, die alle drei Monate ausläuft. „Im Irak habe ich kein Zuhause
mehr, ich müsste dort wieder ganz von vorne anfangen“, sagt er. „Wo ich
dann hingehen würde? Ich weiß es nicht.“ Smoqi hofft, dass die
Demonstrationen und Initiativen irgendwann wirken. Dass die Politikerinnen
und Politiker, die sich für Jesiden einsetzen, nicht mehr nur reden,
sondern auch handeln. Und dass sich das Versprechen erfüllt, dass es bei
der Anerkennung gegeben hat: Jesiden zu schützen.
2 Aug 2024
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## AUTOREN
Johanna Sagmeister
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