# taz.de -- Abschiebungen von Jesiden: Schutzversprechen auf der Kippe | |
> Vor einem Jahr hat sich die Bundesregierung zum Schutz jesidischen Lebens | |
> verpflichtet. Besonders in der Asylpolitik scheint sie das zu verfehlen. | |
Bild: Jesiden protestieren am 19.10.2023 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin g… | |
„Wir wissen immer noch nicht, wie wir uns hier sicher fühlen sollen“, sagt | |
Hakeema Taha. Die 28-Jährige hat den Völkermord an der jesidischen | |
Religionsgemeinschaft durch den Islamischen Staat (IS) 2014 überlebt, ist | |
der IS-Gefangenschaft entkommen und über ein Sonderkontingent des Landes | |
Baden-Württembergs nach Deutschland gelangt. Zwar habe sie eine | |
langfristige Bleibeperspektive, aber dennoch Angst, „auch irgendwann | |
abgeschoben zu werden. Obwohl ich hier arbeite und die Sprache lerne.“ | |
Heute vor einem Jahr, am 19. Januar 2023, hat [1][der Deutsche Bundestag | |
den Völkermord an den Jesid*innen durch den IS einstimmig anerkannt] und | |
einen weitreichenden Maßnahmenkatalog zur Aufarbeitung und Unterstützung | |
der Betroffenen beschlossen. Unter anderem sollen am Genozid beteiligte | |
IS-Verbrecher*innen verfolgt und bestraft werden, Entwicklungsgelder in die | |
jesidischen Gebiete in Nordirak fließen und eine zentrale Gedenkstätte in | |
Deutschland entstehen. | |
Man wolle sich „mit Nachdruck zum Schutz jesidischen Lebens in Deutschland | |
und ihrer Menschenrechte weltweit einsetzen“, [2][so der Beschluss]. Die | |
besondere Verantwortung ergebe sich einerseits daraus, dass in Deutschland | |
die größte jesidische Diaspora lebe. Zudem seien deutsche | |
Staatsbürger*innen an den Taten beteiligt gewesen. Laut | |
Verfassungsschutz rekrutierte der IS seit 2012 etwa 1.000 Personen. | |
[3][Wie grausam der IS gegen die Jesid*innen vorging], lässt sich aus | |
Hakeemas Erzählungen nur erahnen. Vor 9 Jahren lebte sie noch in ihrem | |
1.700-Seelen-Dorf Kocho, am Rande der jesidischen Gebiete. „Als die | |
Nachricht des Angriffs uns erreicht hat, haben wir versucht, noch schnell | |
in die Berge, in die kurdischen Gebiete zu fliehen. Doch der Weg war | |
versperrt. Wir hatten Angst und sind zurückgekehrt.“ | |
## Selektiert, versklavt und ermordet | |
Tage später, am 15. August 2014, „genau um 11 Uhr“, erinnert sie sich, | |
greifen die IS-Terroristen dann an. Sie pferchen alle Bewohner*innen | |
nach Geschlechtern getrennt in der Schule zusammen, beginnen zu selektieren | |
und zu morden. Hakeemas 60-jährige Mutter wird als zu alt erachtet, um den | |
Terroristen geeignete Dienste erweisen zu können. Sie wird erschossen. | |
Ihr Vater, sieben ihrer Brüder, vier Neffen, die Schwiegermutter und ihre | |
älteste Schwägerin – auch sie werden an jenem Tag erschossen. Als Hakeema | |
nach ihrer Familie fragt, wird ihr gesagt, dass sie umgebracht wurde, dass | |
sie sie vergessen solle, dass die Terroristen jetzt ihre neue Familie | |
seien. „In diesem Moment wollte ich auch sterben“, sagt sie. | |
Über 300.000 Menschen verloren durch den IS-Angriff ihr Zuhause, | |
zehntausende wurden ermordet. Tausende Frauen und teilweise unter | |
10-jährige Mädchen wurden von IS-Männern verschleppt, verkauft und | |
systematisch vergewaltigt. Über 2.700 Menschen werden noch immer vermisst. | |
Ein Jahr nach dem großen Schutzversprechen des Bundestages für die | |
Jesid*innen fällt die Handlungsbilanz gemischt aus. Zwar heben Derya | |
Türk-Nachbaur (SPD) und Michael Brand (CDU), die unter anderem die | |
Genozid-Anerkennung verhandelt haben, die Wichtigkeit und die Symbolkraft | |
der Genozid-Anerkennung durch den Bundestag an sich hervor. Und ihr Kollege | |
Peter Heidt (FDP) sagt, die Bundesregierung habe „einiges auf den Weg | |
gebracht.“ Jedoch bestehen außen- sowie innenpolitisch noch erhebliche | |
Baustellen. | |
## Jede*r zweite Jesid*in wird abgelehnt | |
Trotz eines [4][Irak-Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock im März | |
2023] und Entwicklungsgeldern in Millionenhöhe ist es bisher nicht | |
gelungen, mit der irakischen Zentralregierung und der kurdischen | |
Regionalverwaltung eine sichere Rückkehrperspektive für die | |
hunderttausenden, in Camps lebenden Binnenvertriebenen zu entwickeln. | |
Auch das Auswärtige Amt räumt ein, die Sicherheitslage in der Region | |
Sindschar sei weiterhin instabil. Laut dem aktuellen internen | |
Irak-Lagebericht, der der taz vorliegt, könne der irakische Staat den | |
Schutz religiöser Minderheiten nicht sicherstellen, diese litten unter | |
„weitreichender faktischer Diskriminierung.“ Dennoch wurden allein im Jahr | |
2023 knapp 1.400 Asylerstanträge von Jesid*innen abgelehnt. Die | |
Schutzquote liegt bei unter 50 Prozent, etwa jede*r zweite Jesid*in wird | |
abgelehnt. | |
Ob der volatilen Sicherheitslage in Sindschar und der fehlenden | |
Rückkehrperspektive, „die auch der Nato-Partner Türkei mitverantwortet“, … | |
Max Lucks von den Grünen, sei es unverantwortlich, dass Deutschland | |
Jesid*innen in den Irak abschiebe, sagt er. Er sieht das | |
Bundesinnenministerium (BMI) in der Pflicht, den Jesid*innen einen | |
humanitären Schutzstatus zuzugestehen. „Es braucht ganz einfach einen | |
entsprechenden Paragrafen im Aufenthaltsgesetz.“ | |
Auch Peter Heidt von der FDP betont die besondere Situation der | |
Jesid*innen. „Ihre Traumata kommen bis heute wieder hoch. Sie sollten nicht | |
abgeschoben werden.“ | |
## Der IS ist noch nicht weg | |
Unterstützung gibt es dafür auch aus der Opposition. Clara Bünger | |
(Linkspartei) betont das selbstgesetzte Versprechen der Bundesregierung. | |
„Der Bundestag hat die Genozid-Anerkennung einstimmig beschlossen und dabei | |
auf die Unmöglichkeit einer sicheren Rückkehr für die Jesid*innen | |
hingewiesen.“ Das BMI müsse dafür sorgen, dass seine untergeordnete | |
Behörde, das BAMF, den irakischen Jesid*innen wieder einen | |
gruppenbezogenen humanitären Schutzstatus zugesteht, sagt sie. | |
Bis 2017 galt für irakische Jesid*innen ein solcher Schutz. Dieser wurde | |
aber vor Jahren aufgehoben. Die Bundesregierung geht taz-Informationen | |
zufolge davon aus, der IS sei territorial besiegt und es bestünde zumindest | |
kein genozidales Risiko mehr. | |
Düzen Tekkal die mit ihrer [5][Menschenrechtsorganisation Háwar Help] | |
Überlebende unterstützt, hält das für einen Trugschluss. „Die Angreifer | |
waren auch Nachbarn aus den umliegenden Dörfern. Der IS ist eine Ideologie. | |
Und sie ist noch immer da.“ Tekkal mahnt, dass die Anerkennung des | |
Völkermordes ohne asylrechtliche Konsequenzen drohe, zur Symbolpolitik zu | |
verkommen. | |
Einige Bundesländer haben bereits auf dieses Versäumnis des Bundes | |
reagiert. [6][Nordrhein-Westfalen und Thüringen haben formale, temporäre | |
Abschiebestopps verhängt.] Diese sind jedoch nur für drei Monate gültig und | |
können einmalig verlängert werden. | |
## Abschiebestopp hat nur aufschiebende Wirkung | |
Das Staatsministerium in Bayern wiederum hat der taz mitgeteilt, dass es | |
Abschiebestopps grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Einige andere | |
Länder hingegen scheinen offener zu sein. Nach taz-Informationen schiebe | |
das Land Berlin Jesid*innen aktuell ohnehin nicht nach Irak ab und in | |
Hessen soll ein formaler, landesspezifischer Abschiebestopp diskutiert | |
werden. | |
Ein Abschiebestopp hätte aber ohnehin nur aufschiebende Wirkung. Menschen, | |
deren Asylanträge abgelehnt wurden, bekämen nur eine Duldung. Sie hätten in | |
Deutschland also faktisch keine langfristige Perspektive. | |
Wie wichtig aber eine solche Perspektive wäre, macht Michael Blume (CDU) | |
deutlich. Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, | |
war maßgeblich am Sonderkontingent beteiligt, mit dem Hakeema Taha nach | |
Deutschland kam. Es sei schwer, „bei Menschen Vertrauen in unser | |
politisches System aufzubauen“, wenn ihnen eine sichere Perspektive fehle, | |
sagt er. Man müsse ihnen vermitteln: „Mach hier Schule, eine Ausbildung, | |
bau dir hier was auf!“ Das seien „fünfzig Prozent der Integration.“ | |
19 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Bundestag-ueber-Genozid-an-ziden/!5906527 | |
[2] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032 | |
[3] /Genozid-an-zidinnen-2014/!5948101 | |
[4] /Aussenministerin-Baerbock-im-Irak/!5920792 | |
[5] https://www.hawar.help/de/ | |
[6] /zidische-Diaspora-in-Deutschland/!5980923 | |
## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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