| # taz.de -- Verfolgte Jesid*innen: Von der Welt vergessen | |
| > Zehn Jahre nach dem Massaker von Sindschar sind Jesiden weiterhin in | |
| > Gefahr. Während sie in Deutschland für einen Abschiebestopp kämpfen, | |
| > bleibt die Lage in ihrer Heimat instabil. | |
| Irakisch-Kurdistan/Potsdam taz | Shahab Smoqi ist aufgeregt. Der 21-Jährige | |
| nimmt an diesem heißen Junitag in Potsdam zum ersten Mal an einer | |
| Demonstration teil, er will sogar eine Rede halten. Hinter dem Podest | |
| hängen zwei Banner mit den Forderungen „Eziden schützen!“ und | |
| „Abschiebestopp jetzt“. Gegenüber tagen die Innenminister, die an diesem | |
| Vormittag auch über Migration sprechen wollen. Vom Podest aus kann Shahab | |
| Smoqi den Eingang sehen. | |
| „Ich bin heute hier, um meine Geschichte mit euch zu teilen“, sagt er mit | |
| fester Stimme ins Mikrofon. Er trägt Anzughose und Hemd, manchmal fällt ihm | |
| eine seiner schwarzen Locken ins Gesicht. Über das, was er erlebt hat, | |
| spricht er eigentlich nicht gerne. Es belaste ihn zu sehr. Aber heute geht | |
| es um seine Zukunft und er findet, dass seine Geschichte stellvertretend | |
| für das Schicksal und Trauma von so vielen Jesiden steht – in Deutschland | |
| und im Irak. | |
| Shahab Smoqi möchte heute davon berichten, wie er 2014 als 11-Jähriger im | |
| Irak der Terrororganisation [1][„Islamischer Staat“ (IS)] knapp entkam und | |
| so den [2][Genozid an seiner Glaubensgemeinschaft], den Jesiden, überlebte. | |
| Er will davon erzählen, wie schnell er sich in die deutsche Gesellschaft | |
| integriert hat. Dass er schon nach sechs Monaten fließend Deutsch sprach, | |
| dass er in Hamburg als IT-Fachkraft in Festanstellung arbeitet, sich | |
| ehrenamtlich in einer Umweltorganisation engagiert. Auch seine Familie, die | |
| Eltern und Geschwister, leben hier. „Deutschland ist innerhalb von nur drei | |
| Jahren zu meinem neuen Zuhause geworden“, sagt er. Doch sein Asylantrag | |
| wurde abgelehnt. Als er ihn im Jahr 2020 stellte, galt der IS schon als | |
| besiegt und Jesiden nicht mehr als verfolgt. Dass er im Irak bis zuletzt in | |
| einem Flüchtlingslager lebte, zählt nicht. Shahab Smoqi soll abgeschoben | |
| werden. | |
| Deutschland hat lange nur sogenannte Gefährder und verurteilte Straftäter | |
| in den Irak abgeschoben. Seitdem die beiden Länder ein Rückführungsabkommen | |
| geschlossen haben, steigen die Zahlen stark an: 2023 wurden laut | |
| Bundesinnenministerium (BMI) 300 irakische Staatsangehörige in den Irak | |
| abgeschoben und damit fast viermal so viele wie im Jahr zuvor. In den | |
| ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es bereits 345 Menschen. Wie viele | |
| davon Jesiden sind, erfasst das BMI nicht. Die Hilfsorganisation ProAsyl | |
| schätzt, dass fünf- bis zehntausend Jesiden ausreisepflichtig sind, also | |
| potenziell abgeschoben werden können. | |
| ## 2.600 bis heute vermisst | |
| Auf der Demo fordern Smoqi und seine Mitstreiter von den Innenministern | |
| einen bundesweiten [3][Abschiebestopp] für Jesiden. „Der Irak ist ein Land | |
| der Täter und der Mörder der Jesiden. Deshalb ist es besonders für uns | |
| gefährlich, dorthin zurückzukehren“, sagt er. | |
| Smoqi kommt aus einem kleinen Dorf in der Region Sindschar im Nordirak, | |
| einem traditionellen Siedlungsgebiet der Jesiden. Die ethnisch-religiöse | |
| Minderheit wird seit Jahrhunderten verfolgt. Im August 2014 hatte es der IS | |
| auf sie abgesehen. Die Islamisten gingen systematisch vor, mit dem Ziel, | |
| Jesiden zu vernichten. Sie drangen in ihre Dörfer ein und töteten etwa | |
| 5.000 Menschen. Tausende Frauen und Kinder wurden verschleppt, versklavt, | |
| vergewaltigt. Hunderttausende wurden vertrieben, fanden Zuflucht in | |
| [4][Flüchtlingslagern in der Autonomen Region Kurdistan]. Mehr als 2.600 | |
| Menschen werden bis heute vermisst. | |
| Eine Reise dorthin zeigt, wie schwierig die Lebensbedingungen für geflohene | |
| Jesiden zehn Jahre nach dem Überfall durch den IS teilweise noch sind. Es | |
| ist März, der Himmel über dem Flüchtlingslager „Qadia“ ist grau und | |
| verhangen. Es liegt abseits einer Landstraße mitten im Niemandsland der | |
| Autonomen Region Kurdistan. Die Gegend ist karg, sandfarben, die Straßen im | |
| Camp sind durch seit Tagen anhaltenden Starkregen vermatscht. Die | |
| 20-jährige Berivan Elyas zeigt auf die Zelte und Container, die sich an den | |
| parallel liegenden Schotterstraßen säumen. „In den Hütten vieler Familien | |
| gibt es Löcher, durch die es bei Regen von der Decke tropft“, erklärt sie. | |
| Ein Tanklaster fährt vorbei. Er bringt Wasser in das Camp, erklärt Berivan | |
| Elyas. Fließendes Wasser gibt es nicht, alle vier Tage können sie ihren | |
| Wassertank auffüllen. Auch das Gas für die Heizöfen ist rationiert. Was vor | |
| allem im Winter eine Herausforderung werden kann, denn dann herrschen hier | |
| oft Minusgrade. | |
| Elyas lebt in einem der weißen Container am Eingang des Camps. Sie teilt | |
| sich rund 20 Quadratmeter mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern. Ihren | |
| Vater habe der IS getötet, sagt sie. Sie hat sich die schwarzen Haare zum | |
| Zopf gebunden, ist groß, hat eine sportliche Figur, strahlt eine innere | |
| Ruhe aus. | |
| ## Die Häuser von Bomben zerstört | |
| „Weil die Menschen hier in Containern und nicht in Zelten leben, wird es | |
| auch das „VIP-Camp“ genannt“, sagt Ava Abdullah von Hawar.Help. Die | |
| deutsche NGO bietet im Camp unter anderem Fußballtraining für Mädchen und | |
| Nähkurse für Frauen an. Sie wurde 2015 von der in Deutschland lebenden | |
| Autorin Düzen Tekkal und ihren Geschwistern gegründet. „Man sagt, es sei | |
| eines der besten Camps, aber wie man sehen kann, ist es schwer, hier zu | |
| leben“, sagt Abdullah. | |
| Elyas und ihre Cousine Shanahz Ravo sitzen im Schneidersitz auf dem | |
| Teppich, Shanahz spielt ein Handyvideo ab. Es zeigt einen Straßenzug, an | |
| dem jedes Haus zerstört ist. Die Kamera zoomt an ein Haus, von dem nur noch | |
| die Außenwände stehen. Das sei ihr Haus. Aufgenommen im Dezember 2017, kurz | |
| nachdem der damalige irakische Premierminister Haider al-Abadi verkündete, | |
| der IS sei im Irak besiegt. | |
| Errungen wurde dieser Sieg mithilfe einer von den USA geführten | |
| internationalen Koalition, die die irakische Armee, kurdische Peschmerga | |
| und schiitische Milizen unter anderem durch Luftangriffe auf den IS | |
| unterstützte. Von dieser Bombardierung wurde vermutlich auch das Haus von | |
| Shanahz Ravo getroffen. „Wie nackte Skelette“, sagt sie. „Bis heute ist | |
| mein Haus zerstört.“ Auch deshalb könnten sie nicht zurück. | |
| Aktuell leben immer noch mehr als 100.000 Jesiden in Flüchtlingslagern in | |
| der Autonomen Region Kurdistan. Ihre Heimat Sindschar liegt keine 150 | |
| Kilometer entfernt. Doch zurückgekehrt sind die wenigsten. | |
| Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes heißt es, in ihrer | |
| Heimatregion Sindschar gebe es immer noch kein fließendes Trinkwasser, | |
| keine geregelte Stromversorgung, zerstörte Gebäude und Infrastruktur. Zudem | |
| sei die Sicherheitslage volatil, weil in der Region immer noch bewaffnete | |
| Gruppen aktiv sind. Die Region ist strategisch wichtig, unter anderen die | |
| kurdische Autonomiebehörde, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Iran-nahe | |
| Truppen und die irakische Regierung ringen um die Kontrolle über Sindschar. | |
| Auch der IS ist noch da, auch wenn er in der Fläche als besiegt gilt. All | |
| das behindert den Wiederaufbau, obwohl in die Region in den letzten Jahren | |
| Milliarden an internationaler Hilfe geflossen sind. Wo das viele Geld hin | |
| ist – niemand weiß es so genau. | |
| ## Weiter Diskriminierung ausgesetzt | |
| „Es sollte kontrolliert werden, was mit den Geldern passiert. Wie sie | |
| ausgegeben werden. Dass das nicht passiert, ist eines der größten Probleme | |
| hier“, sagt Abid. Er sitzt in einem Restaurant in der nordkurdischen Stadt | |
| Dohuk, vor ihm auf dem Tisch dampft eine Tasse Tee, während es draußen | |
| wieder anfängt zu regnen. | |
| Abid heißt eigentlich anders. Er ist Aktivist, auch er hat den Völkermord | |
| von 2014 überlebt. Mit Medien zu sprechen, kann gefährlich für ihn sein. | |
| Aber gemeinsam mit zwei Freunden will er unbedingt von der Situation in | |
| Sindschar berichten. Das Restaurant liegt am Stadtrand. Es gehört zu einer | |
| türkischen Kette und ist eines der wenigen, das an diesem Sonntagnachmittag | |
| offen hat. Es ist Ramadan, fast alle Geschäfte haben tagsüber geschlossen. | |
| Jesiden fasten während des Ramadans nicht, aber jesidische Restaurants oder | |
| Cafés gibt es in Dohuk so gut wie nicht. | |
| „Wenn ich einen muslimischen Gast habe und der mich zu Hause besuchen | |
| kommt, dann wird er auch nichts essen. Es ist ihnen verboten, sie sehen uns | |
| als Ungläubige“, erzählt Abid. Er runzelt die Stirn noch mehr, als er von | |
| seinen Erfahrungen berichtet. Etwa davon, wie manche seiner muslimischen | |
| Kommilitonen während des Studiums nichts essen wollten, was er mitgebracht | |
| hatte. | |
| Das Auswärtige Amt schätzt die [5][Sicherheitslage für die jesidische | |
| Gemeinschaft] in der Region Kurdistan-Irak als weitgehend stabil ein. Die | |
| kurdische Regionalregierung habe demnach explizit unterstrichen, die | |
| jesidische Gemeinschaft schützen zu wollen. Was genau das bedeutet, wird im | |
| Lagebericht des Auswärtigen Amts jedoch nicht ausgeführt. | |
| Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR, kommt in einem Bericht allerdings zu dem | |
| Schluss, dass Jesiden im Irak noch immer Diskriminierung ausgesetzt sind | |
| und zwar sowohl in der Autonomen Region Kurdistan, die zum Irak gehört, als | |
| auch in Sindschar. Der UNHCR berichtet von Diskriminierung auf dem | |
| Arbeitsmarkt sowie gesellschaftlicher Schikane. Dass trotz der schwierigen | |
| Bedingungen in der kurdischen Region viele der Binnenflüchtlinge nach | |
| Sindschar zurückkehren, können sich Abid und seine Freunde nicht | |
| vorstellen. Sie leben in Sindschar, weil sie sich dort aktiv für den | |
| Wiederaufbau einsetzen und kennen die Probleme vor Ort. „Politisch gesehen, | |
| aber auch, was die Infrastruktur anbelangt, ist Sindschar noch nicht dafür | |
| bereit, dass die Menschen zurückkommen“, sagt Abid. „Es braucht mehr | |
| Schulen und Krankenhäuser. Etwa 40 Prozent der Jesiden sind zurück und die | |
| Infrastruktur reicht noch nicht mal für die aus.“ | |
| Die genaue Anzahl der Zurückgekehrten ist schwer zu erfassen. Nach | |
| Informationen der NGO Jiyan, die im Nordirak mit Jesiden arbeitet, haben | |
| sich seit Mai fast 8.000 Menschen aus den Flüchtlingslagern nach Sindschar | |
| aufgemacht. | |
| Was viele Jesiden von einer Rückkehr abhält, ist aber auch die Angst, die | |
| sie nicht loswerden. „Das Schwerste für uns ist, dass viele, als sie vom IS | |
| gefangen genommen wurden, ihre Nachbarn sahen. Leute aus der Gegend, mit | |
| denen sie seit mehr als 70 Jahren zusammenlebten“, erzählt Abid. „Und | |
| plötzlich nehmen diese Leute ihre Mädchen mit, vergewaltigen und foltern | |
| sie, töten die Männer. Die Menschen hier trauen ihren Nachbarn nicht mehr.“ | |
| Viele sunnitische Muslime schlossen sich 2014 in Sindschar dem IS an, der | |
| eine radikale Auslegung des sunnitischen Islams vertritt. Sie fühlten sich | |
| durch die schiitisch dominierte Regierung benachteiligt und unterdrückt. | |
| Der IS versprach ihnen Schutz, wirtschaftliche Vorteile und eine neue | |
| Identität. Auch Nachbarn, teils Freunde von Jesiden ließen sich davon | |
| vereinnahmen. | |
| „Überlebende des Völkermords befürchten, dass genau diese Nachbarn wieder | |
| neben ihnen leben könnten“, erzählt Abids Freund Hezni. Auch er heißt | |
| eigentlich anders. „Vielleicht waren es ihre Nachbarn, die sich dem IS | |
| angeschlossen und ihre Familie getötet haben. Und jetzt leben sie wieder | |
| nebenan, als wäre nichts gewesen. Wie kann man so leben, mit all den | |
| Erinnerungen?“ | |
| Doch anstatt die Täter strafrechtlich zu verfolgen, ist im Irak gerade ein | |
| allgemeines Amnestiegesetz im Gespräch, durch das zahlreiche Terroristen | |
| freigesprochen werden könnten. Auch solche, die mutmaßlich am Völkermord an | |
| den Jesiden beteiligt waren. „Was Jesiden vor allem wollen, ist | |
| internationaler Schutz“, sagt Hezni. Die meisten von ihnen trauen weder der | |
| irakischen Zentralregierung noch der Regierung der kurdischen | |
| Autonomiebehörde. | |
| ## Gestiegene Suizidrate | |
| Im Qadia-Flüchtlingslager zieht mittlerweile das nächste Gewitter auf, | |
| Donner knallt vom Himmel herunter, der Regen prasselt hart und laut auf das | |
| Wellblech über Berivan Elyas und Shahnaz Ravo. Sie stehen im Innenhof ihrer | |
| Schule, ein flacher Containerbau mit offenem Innenhof, von dem die | |
| Klassenzimmer abgehen. An den Wänden kleben Plakate, die über Landminen | |
| aufklären und davor warnen, sie aufzuheben. Etwa 500 Kinder lernen hier im | |
| Schichtbetrieb, erzählen sie: Morgens wird auf Kurdisch unterrichtet, | |
| abends auf Arabisch. „Während der Klassenarbeiten sitzen bis zu 50 Kinder | |
| in einem Raum“, sagt Berivan. „Es ist deswegen schwierig, gute Noten zu | |
| schreiben.“ | |
| Berivan Elyas setzt viel auf den Schulabschluss, weil sie darin ihre | |
| einzige Chance auf ein besseres und vor allem selbstbestimmtes Leben sieht. | |
| Ihre Cousine hat keinen Schulabschluss bekommen. Sie fiel wiederholt durch | |
| Prüfungen. „Das belastet mich sehr“, erzählt Shahnaz Ravo. Sie würde ger… | |
| zu einem Arzt oder einer Psychologin gehen, sich mal durchchecken lassen. | |
| „Aber es gibt hier keine Angebote. Wir kennen einige, die bereits | |
| Selbstmord begangen haben“, sagt sie. | |
| Dass die Suizidrate unter Überlebenden des Völkermords offenbar angestiegen | |
| ist, davon berichtet auch das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht und | |
| bezieht sich dabei auf zwei NGOs, die mit Überlebenden arbeiten. Doch | |
| Angebote für psychologische Betreuung werden reduziert, auch, weil | |
| insgesamt weniger internationale Hilfsgelder in die Region fließen, sondern | |
| stattdessen in andere Konfliktregionen wie die Ukraine oder nach Gaza. | |
| Staatliche Unterstützungsangebote gibt es nicht. | |
| Umso wichtiger ist die Arbeit von Nada Salim in Alqosh, einer Stadt rund | |
| eine Autostunde südöstlich vom Qadia-Camp. Alqosh liegt am Fuße eines | |
| Berges, an dessen Hängen ein christliches Kloster aus dem siebten | |
| Jahrhundert thront. Hier hat die Menschenrechtsorganisation Jiyan eines | |
| ihrer Büros, in einem ruhig gelegenen Haus mit vielen verwinkelt gelegenen | |
| Zimmern. | |
| Nada Salim sitzt gemeinsam mit Kolleginnen in einem Besprechungsraum an | |
| einem großen langen Tisch. Sie leitet hier die psychotherapeutische | |
| Abteilung. Jiyan bietet unter anderem kostenlose Therapie für Überlebende | |
| des Völkermords an. „Viele Jesiden sind noch immer tief traumatisiert durch | |
| die Misshandlungen, die sie erlebt haben“, sagt Nada Salim. „Eine Frau hat | |
| erzählt, dass sie sich in der Gefangenschaft nicht wie ein Mensch gefühlt | |
| hat, sondern eher wie eine Maschine, die benutzt wurde. „Sie sagte: „Ich | |
| wurde für den Haushalt oder als Sexobjekt benutzt.“ Nada Salim ist selbst | |
| Jesidin, stammt allerdings nicht aus Sindschar, wie die meisten ihrer | |
| Patienten. Ihre Religionszugehörigkeit hilft dennoch vielen, Vertrauen zu | |
| ihr aufzubauen und psychische Erkrankungen so besser behandeln zu können. | |
| ## Multiple Traumata, zu wenig Hilfe | |
| Angststörungen, Posttraumatische-Belastungsstörungen und Depressionen sind | |
| besonders verbreitet. Doch es gebe nicht genug professionelle Hilfe wie die | |
| von Jiyan. Obwohl durch das Leben in den Flüchtlingslagern häufig weitere | |
| Traumata hinzukommen. „Die Menschen in den Camps leiden nicht nur psychisch | |
| an den Ereignissen von 2014, sondern auch wirtschaftlich und materiell, | |
| wodurch multiple Traumata entstehen“, sagt Nada Salim. „Je länger sie nicht | |
| behandelt werden, desto schwieriger ist es, sie zu bewältigen.“ | |
| Solche multiplen Traumata erleben oft auch jene, die aus der Gefangenschaft | |
| zurückkommen. Nada Salim erzählt von einem Jungen, den der IS als | |
| Kindersoldat missbrauchte: „Als er vom IS zurückgekommen ist, hat er | |
| gehofft, seine Familien zu treffen. Aber die meisten wurden vom IS ermordet | |
| oder verschleppt. Und er musste erfahren, dass er nicht in sein altes | |
| Zuhause kann, sondern im Camp leben muss.“ | |
| Was Nada Salim besonders Sorgen bereitet, ist, dass sich die erlebten | |
| Traumata in der nächsten Generation fortsetzen. Auch bei Kindern, die nach | |
| dem Völkermord geboren wurden. „Wir stellen fest, dass die Kinder oft sehr | |
| gewalttätig sind, auch gegenüber anderen Kindern. Oft erzählen die Familien | |
| von den schlimmen Erlebnissen beim IS, während die Kinder dabei sind. Das | |
| prägt sich bei diesen ein.“ | |
| Die Not, der Bedarf ist groß. Das Bundesministerium für wirtschaftliche | |
| Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat den Wiederaufbau im Irak seit 2014 | |
| mit zwei Milliarden Euro unterstützt. Aus dem BMZ heißt es, weil sich die | |
| Lage im Irak „deutlich verbessert“ habe, würden auch die humanitäre Hilfe | |
| und die Maßnahmen zur Krisenbewältigung schrittweise zurückgefahren. In | |
| Sindschar werden weiterhin Projekte unterstützt, beispielsweise vergangenes | |
| Jahr mit 15 Millionen Euro der Neubau von Wohnhäusern und die | |
| Instandsetzung von Abwassersystemen. Grundsätzlich wäre der Irak auch | |
| alleine in der Lage, Sindschar wieder aufzubauen. Das Land ist reich an | |
| Bodenschätzen, vor allem an Erdöl. | |
| Berivan Elyas wünscht sich mehr Unterstützung, egal von wem. Sie hat Angst, | |
| dass die irakische Regierung die Flüchtlingslager schließen wird. Das hatte | |
| sie für Ende Juli angekündigt. Offenbar möchte die irakische | |
| Zentralregierung das Jesiden-Kapitel zehn Jahre nach dem Völkermord | |
| schließen. Auch deshalb haben sich einige dann doch auf den Weg zurück nach | |
| Sindschar gemacht. Auf dem Weg zurück zu ihrem Wohncontainer laufen Elyas | |
| und ihre Cousine bereits an leeren Behausungen vorbei. Wer wieder nach | |
| Sindschar zieht, bekam von der Regierung bis Ende Juli vier Millionen | |
| Irakische Dinar. Das sind umgerechnet knapp 3.000 Euro. Ein zerstörtes Haus | |
| wieder aufzubauen, sich eine Lebensgrundlage zu schaffen – im Irak sei das | |
| mit diesem Betrag nicht möglich, sagen sie. | |
| ## In Deutschland nur geduldet | |
| Berivan Elyas und ihre Familie wollen so lange bleiben, wie das Camp | |
| besteht. Auch wenn sie sich, so wie die meisten nach ihrer Heimat sehnen, | |
| ist eine Rückkehr nach Sindschar doch für viele keine Option. Und das | |
| scheint die Regierung verstanden zu haben: Die Camps wurden bis jetzt | |
| zumindest nicht geschlossen. | |
| In Deutschland hangelt sich Shahab Smoqi derweil weiter von Duldung zu | |
| Duldung, die alle drei Monate ausläuft. „Im Irak habe ich kein Zuhause | |
| mehr, ich müsste dort wieder ganz von vorne anfangen“, sagt er. „Wo ich | |
| dann hingehen würde? Ich weiß es nicht.“ Smoqi hofft, dass die | |
| Demonstrationen und Initiativen irgendwann wirken. Dass die Politikerinnen | |
| und Politiker, die sich für Jesiden einsetzen, nicht mehr nur reden, | |
| sondern auch handeln. Und dass sich das Versprechen erfüllt, dass es bei | |
| der Anerkennung gegeben hat: Jesiden zu schützen. | |
| 2 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Islamischer-Staat-IS/!t5009390 | |
| [2] /taz-Talk-zu-jesidischen-Perspektiven/!6027487 | |
| [3] /Abschiebestopp-von-zidInnen/!6016857 | |
| [4] /Jesidinnen-im-Irak/!5983289 | |
| [5] /Protest-von-zidinnen-in-Berlin/!5963951 | |
| ## AUTOREN | |
| Johanna Sagmeister | |
| Maria Caroline Wölfle | |
| ## TAGS | |
| Jesiden | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Genozid | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Irak | |
| Kurdistan | |
| GNS | |
| Jesiden | |
| wochentaz | |
| Nordirak | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Jesiden | |
| Jesiden | |
| Jesiden | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Êzîdische Familie in Irak abgeschoben: Zurück ins Land des Verbrechens | |
| 2014 verübte der IS im Irak einen Genozid an den Êzîd*innen. Nun wurden | |
| erneut Überlebende abgeschoben – Minuten bevor eine Richterin dies | |
| verhindert hätte. | |
| Geflüchtete Jesid:innen: Abgeschoben in das Land des Genozids | |
| Saber Elias hat einen Völkermord überlebt und tat alles, um sich in | |
| Gütersloh zu integrieren. Trotzdem schoben die Behörden den Jesiden ab. | |
| Radioprojekt im Nordirak: Traumata und Träume | |
| Im Nordirak ist das Misstrauen zwischen Jesiden, Arabern und Kurden groß. | |
| Jetzt wollen sie gemeinsam einen Radiosender gründen. Wie kann das | |
| gelingen? | |
| Weniger Angriffe auf Geflüchtete: Keine Einzelfälle | |
| Die Bundesregierung hat 500 Übergriffe auf Geflüchtete für das erste | |
| Halbjahr von 2024 verzeichnet – ein Rückgang gegenüber dem | |
| Vorjahreszeitraum. | |
| Ezîdinnen über den Völkermord: „Wir haben keinen sicheren Ort“ | |
| Vor den Augen der Weltöffentlichkeit überfielen IS-Kämpfer 2014 Dörfer und | |
| Städte im Nordirak. Çiçek Yildiz und Ayfer Özdogan erinnern daran. | |
| Abschiebungen von ÊzîdInnen in den Irak: Pro Asyl fordert Sonderregelung | |
| Niedersachsen schiebt seit April uneingeschränkt in den Irak ab. Besonders | |
| für ÊzîdInnen ist das unzumutbar, heißt es in einem neuen Gutachten. | |
| Abschiebungen von Jesiden: Schutzversprechen auf der Kippe | |
| Vor einem Jahr hat sich die Bundesregierung zum Schutz jesidischen Lebens | |
| verpflichtet. Besonders in der Asylpolitik scheint sie das zu verfehlen. | |
| Literatur über jesidische Erfahrungen: Die heilende Wirkung des Schreibens | |
| Sie wurden einst vor der genozidalen Gewalt des „Islamischen Staats“ | |
| gerettet. Nun lasen jesidische Autorinnen und Autoren in Stuttgart. |