| # taz.de -- Genozid an den Jesid*innen: „Leben wieder in die Hand nehmen“ | |
| > Zehn Jahre sind seit dem Genozid an den Jesid*innen im Irak vergangen, | |
| > doch die Traumata bleiben. Psychologe Salah Ahmad hilft, mit dem Erlebten | |
| > umzugehen. | |
| Bild: Rückkehr nach Kocho im Nordirak: Tausende Frauen und Kinder wurden vom I… | |
| taz: Herr Ahmad, am 15. August 2014 beging die Terrormiliz „Islamischer | |
| Staat“ i[1][m nordirakischen Dorf Kocho] eines der tödlichsten Massaker im | |
| Verlauf des Genozids an den Jesid*innen. Die Kämpfer töteten über 600 | |
| Männer, versklavten Hunderte Frauen und Kinder. Was passiert mit einem | |
| Menschen, der solch traumatische Ereignisse überlebt? | |
| Salah Ahmad: Wenn in einem prall gefüllten Obstkorb nur eine verfaulte | |
| Frucht liegt, sind nach drei Tagen alle Früchte verdorben. So ähnlich | |
| verhält es sich mit einer Gesellschaft, wenn Menschen nach | |
| Gewalterfahrungen in sie zurückkehren. Viele sind nicht mehr dieselben. | |
| Manche üben Gewalt in der Familie aus, und isolieren sich von ihrer | |
| Umgebung. Die Überlebenden werden oft depressiv, bekommen suizidale | |
| Gedanken. | |
| taz: Viele der aus Kocho Entführten waren damals sehr jung: Kinder und | |
| Mädchen am Beginn der Pubertät. | |
| Ahmad: Die 2014 Entführten sind heute oft gerade einmal 20, 25 Jahre alt | |
| und [2][haben Fürchterliches erlebt], vor allem die Frauen. Sie erkennen | |
| sich selbst nicht wieder und tendieren dazu, sich aus der Gesellschaft | |
| zurückzuziehen. Und Kinder, die in traumatisieren Familien aufwachsen, | |
| entwickeln oft ähnliche Symptome wie ihre Eltern – ein Kreislauf der Gewalt | |
| und des sich Zurückziehens. | |
| taz: In Ihrer Heimat Kurdistan leben bis heute Zehntausende Jesid*innen | |
| in Camps für Binnenvertriebene. Sie versuchen, den Traumatisierten vor Ort | |
| zu helfen. Wie gehen Sie dabei vor? | |
| Ahmad: Zuerst kümmern wir uns um medizinische Notwendigkeiten. Eine Ärztin | |
| untersucht die Frauen, dann sprechen eine Sozialarbeiterin und eine | |
| Psychologin mit ihnen. Wir nutzen interkulturelle Psychotherapie, zusammen | |
| mit Methoden der Kunst- und Musiktherapie, Tanztherapie, oder auch die | |
| EMDR-Methode, also Traumaverarbeitung durch Augenbewegung. Über ihre | |
| Erfahrungen zu sprechen, fällt den Überleben meist erst einmal schwer. Mit | |
| unserer Unterstützung öffnen sie sich schließlich – und reden dann ganz | |
| viel, fast wie ein Wasserfall. | |
| taz: Können die Überlebenden von ihren Traumata geheilt werden? | |
| Ahmad: Nein. Wenn ich als Psychotherapeut von „Heilung“ spreche, dann | |
| betrüge ich mich und meine Klient*innen. Wir reden von einer | |
| Traumabearbeitung: Wir befähigen sie, mit dem Erlebten umgehen zu können. | |
| Ihre Traumata beeinflussen die Klient*innen, schlechte | |
| Lebensentscheidungen zu treffen: Sie fühlen sich wertlos, haben suizidale | |
| Gedanken. Durch die Traumabearbeitung lernen die Menschen, ihr Leben wieder | |
| selbst in die Hand zu nehmen. | |
| taz: Die von den IS-Kämpfern entführten Frauen und Mädchen haben meist | |
| sexuelle Gewalt erlitten. Wie gehen Sie damit in der Therapie um? | |
| Ahmad: Wir machen viele Übungen, damit die Frauen wieder ein positives | |
| Selbstbild entwickeln: Sie schminken sich, basteln eigenen Schmuck, ziehen | |
| schöne Kleidung an, machen Fotos. Die Frau dürfen sich bei uns ein Kleid | |
| aussuchen und es mit nach Hause nehmen – denn viele von ihnen sind verarmt | |
| und können sich diese Dinge nicht leisten. Wir bieten außerdem Nähkurse an | |
| und stellen den Frauen Nähmaschinen zur Verfügung, damit sie ihre eigene | |
| Kleidung erschaffen können. Wenn die Frauen zu uns kommen, sind sie oft | |
| ganz blass und bedrückt. Nach sechs Wochen können sie wieder lachen. Wir | |
| versuchen, ihnen ihr Selbstwertgefühl zurückzugeben, und sich [3][wegen des | |
| Erlebten nicht schuldig oder schmutzig zu fühlen.] | |
| taz: Wie wichtig ist Gerechtigkeit für die kollektive Aufarbeitung von | |
| Traumata? | |
| Ahmad: Es ist wichtig, dass zumindest anerkannt wird, dass die | |
| Jesid*innen Opfer sind. Wenn die Frauen eine Wiedergutmachung bekommen, | |
| können sie sich dadurch wieder mehr als akzeptierten und respektierten Teil | |
| der Gesellschaft sehen. Als Teil eines Bündnisses von irakischen | |
| Zivilorganisationen haben wir das „Gesetz für überlebende Jesid*innen“ | |
| mitinitiiert. [4][Es wurde schließlich im irakischen Parlament | |
| verabschiedet.] | |
| taz: Worum geht es bei diesem Gesetz? | |
| Ahmad: Dass jeder jesidischen Frau, die Opfer der IS-Kämpfer wurde, eine | |
| Wiedergutmachung zusteht. Die Zentralregierung muss ihnen eine monatliche | |
| Entschädigung zahlen, außerdem sollen sie einige gesellschaftliche Vorzüge | |
| erhalten, etwa präferiert im öffentlichen Dienst eingestellt werden. Es ist | |
| das erste Mal, dass durch den Dialog von Zivilbevölkerung und Parlament ein | |
| solches Gesetz erlassen werden konnte. Das ist ein ganz neuer Schritt im | |
| Irak. Niemals zuvor gab es einen solchen Vorstoß, Opfer zu rehabilitieren | |
| und Wiedergutmachung zu leisten. | |
| taz: Die [5][Zentralregierung in Bagdad] schien bisher wenig zu tun, um die | |
| IS-Verbrechen aufzuklären. Das werfen ihr auch die Überlebenden vor. | |
| Ahmad: Inzwischen gibt es sowohl bei der Regierung der Autonomen Region | |
| Kurdistan im Nordirak, als auch bei der Zentralregierung in Bagdad ein | |
| Bewusstsein dafür. Wir haben mit vielen irakischen Politikern über die | |
| Situation der Jesid*innen diskutiert. Die Gespräche haben ihnen bewusst | |
| gemacht, dass ein Gesetz erlassen werden muss, dass den Frauen | |
| Reparationszahlungen garantiert. | |
| taz: Welche Hürden gibt es bei der Umsetzung? | |
| Ahmad: Im Irak gibt es viele verschiedene Kräfte, die versuchen, das Land | |
| nach ihren Vorstellungen zu lenken. Trotz der Teilautonomie der | |
| Kurd*innen ist der Irak außerdem ein zentralistisches Land, Bagdad und | |
| die kurdische Regionalregierung liegen in einem Dauerkonflikt. Die | |
| Regionalregierung versagt dadurch im Alltag, so werden etwa Gelder, wie die | |
| Löhne von Staatsbediensteten, nicht ausgezahlt. Neben den gewählten | |
| Parlamentariern haben auch verschiedene paramilitärische Kräfte im Irak | |
| große Macht. All das ist ein großes Problem für das Land. Und wir dürfen | |
| uns als Organisation auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen – sonst | |
| werden wir am Ende verboten. | |
| taz: In Deutschland lebt heute die wohl größte jesidische Diaspora | |
| weltweit. Was sollte Berlin in seiner Irak-Politik, vor dem Hintergrund des | |
| Genozids, beachten? | |
| Ahmad: Derzeit gibt es Bemühungen, [6][einen Teil der in Deutschland | |
| lebenden Jesid*innen abzuschieben]. Dabei braucht Deutschland doch | |
| Arbeitskräfte. Diese Politik ist widersprüchlich. Es ist falsch, Menschen | |
| in ein unsicheres Land abzuschieben. Man muss sichergehen, dass die | |
| Menschen nicht nur physisch in Sicherheit leben, sondern auch psychisch. | |
| Gerade bin ich dabei, ein Institut für Psychotherapie in der Region | |
| Sindschar, aus der hier die meisten Jesid*innen stammen, aufzubauen. | |
| Dort sollen Therapeut*innen ausgebildet werden. Wenn die Menschen im | |
| Land behandelt werden könnten, gäbe es vielleicht weniger Geflüchtete aus | |
| dem Irak. | |
| 15 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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