# taz.de -- Debatte um Literaturjurys: Divers über Romane diskutieren | |
> Juliane Lieberts und Ronya Othmanns Insiderbericht aus der Jury des | |
> Internationalen Literaturpreises mag fragwürdig sein. Aber er ist auch | |
> wichtig. | |
Bild: Die HKW-Jury des Internationalen Literaturpreises 2024 | |
Bei Sitzungen von Literaturjurys sollte das gesprochene Wort den Raum nicht | |
verlassen. Diese Regel hat nichts mit Mauschelei zu tun, sondern damit, | |
dass eine produktive Jurysitzung, in der verschiedene Ansichten über | |
Literatur aufeinanderprallen, einen geschützten Raum braucht, in dem die | |
Beteiligten verbal die Samthandschuhe ausziehen können. Rhetorische Tricks | |
und Dramatisierungen gehören dazu. | |
Die Autorinnen [1][Juliane Liebert] und [2][Ronya Othmann] haben nun gegen | |
diesen Grundsatz verstoßen und einen Insiderbericht über die Sitzungen der | |
Jury zum Internationalen Literaturpreis in der Zeit veröffentlicht. Es | |
stimmt schon: Das ist fragwürdig. Doch das Thema ist wichtig, und es ist | |
gut, dass nun darüber geredet wird. | |
Über den unmittelbaren Anlass geht das Thema nämlich hinaus. Es hat mit | |
der Zusammensetzung der Jurys zu tun. Die werden seit einigen Jahren, so | |
lange her ist es noch gar nicht, zunehmend nicht nur mit Literaturkritikern | |
besetzt, sondern auch unter Diversitätsgesichtspunkten. | |
Dafür gibt es gute Gründe. Gesellschaftspolitische: Eine Jury, die aus fünf | |
männlichen Kritikern plus Sigrid Löffler besteht, wie das lange üblich war, | |
würde heute niemand mehr so einfach akzeptieren. Es gibt aber auch | |
literaturimmanente Gründe: Die Einteilung der Bücher in preiswürdige | |
Hochliteratur und von vornherein nicht preiswürdige Nischenliteratur – | |
sprich „Frauenliteratur“, „Migrationsliteratur“ und so weiter – ist | |
hinfällig. Zum Glück. | |
Um darauf sinnvoll reagieren zu können, brauchen Literaturjurys weiter | |
gefasste Expertisen und Sensibilitäten. Nur müssen damit eben auch | |
eingeübte Spielregeln breiter ausgehandelt werden. | |
## Die weiße Autorin fiel raus | |
Was war beim Internationalen Literaturpreis geschehen? Wenn man Liebert und | |
Othmann glaubt, wurde eine Rangfolge der eingereichten Romane nach rein | |
künstlerischen Gesichtspunkten erstellt, was immer das sein soll – die | |
Juror*innen verteilten Punkte, wie das auch so üblich ist, dann wurde | |
gesehen, welche Romane wie viele Punkte hatten. | |
Das Ergebnis gefiel dann allerdings manchen aus der Jury nicht, und zwar | |
aus identitätspolitischen Gründen. Es wurde neu abgestimmt. Eine weiße | |
Autorin fiel aus der Shortlist, weil sie weiß war, eine schwarze Autorin | |
kam neu rauf, weil sie schwarz war. Und Peter Nádas’ Roman | |
„Schauergeschichten“, vorher in der Jury als Meisterwerk gepriesen, sollte | |
auch wegfallen. Kurz: Künstlerische und identitätspolitische Gesichtspunkte | |
standen gegeneinander und Letztere sind gegen Erstere ausgespielt worden. | |
Das beschädigt nun aber tatsächlich, man muss es aussprechen, die | |
Reputation des Internationalen Literaturpreises, der eben kein | |
Förderprogramm für Übersetzungen und Diversität sein soll, sondern ein | |
ernsthafter Literaturpreis. Dann muss in der Jury aber auch ernsthaft | |
literarisch, also am Text diskutiert werden, wie das – wie einem ehemalige | |
Juroren jetzt stecken – zuvor bei anderen Juryzusammensetzungen auch der | |
Fall gewesen sein soll. | |
Nun gibt es ja aber gar nicht die in Stein gemeißelten und | |
allgemeingültigen Kriterien, was gute Literatur ist und was nicht. Genau. | |
Gerade da müsste die Jury ansetzen. Für ein ernsthaftes Abwägen von Für und | |
Wider vollkommen unterschiedlicher Literaturbegriffe und Romantraditionen | |
wäre nämlich gerade ein Internationaler Literaturpreis der richtige Ort. | |
Insofern hat die Jury schlicht ihre Aufgabe verfehlt. | |
## Die Legitimität der Entscheidungen | |
Nur: Um sie zu erfüllen, müsste in den Jurydiskussionen nun mal irgendwann | |
zwischen Werk und Autor*in getrennt werden – eine Herausforderung, der | |
sich jetzt auch divers zusammengesetzte Literaturjurys stellen müssen. Und | |
der zweite Punkt ist, dass eine verantwortliche Jury zwar im Blick haben | |
sollte, welche gesellschaftspolitischen Signale sie mit ihren | |
Entscheidungen sendet – dass jede Preisentscheidung aber an literarische | |
Gesichtspunkte gekoppelt sein muss. Sonst verliert sie ihre Legitimität. | |
Juryentscheidungen ohne literarische Legitimität schaden aber dem Standing | |
der Literatur insgesamt und damit allen Autor*innen, auch denen, die einen | |
Preis bekommen – der dann aber der Gefahr ausgesetzt ist, literarisch nicht | |
mehr ernst genommen zu werden. Damit haben Juliane Liebert und Ronya | |
Othmann schlicht recht. | |
17 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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