# taz.de -- Gedichte von Juliane Liebert: Lieber Kippen statt Verzweiflung | |
> Der Rhythmus des Gedichts nimmt den Herzschlag der Mutter auf: Die | |
> „lieder an das große nichts“ von Juliane Liebert sind oft große Kunst. | |
Bild: Journalistin und Dichterin: Juliane Liebert | |
Eines der Gedichte, das etwas weiter hinten versteckt ist in diesem | |
eleganten schmalen Lyrikband, trägt den Titel „christa p.“. Es ist Christa | |
Päffgen alias Nico gewidmet, dem vielleicht ersten (und einzigen) deutschen | |
Pop-Weltstar, dem vielleicht ersten deutschen Goth. „ich habe neun geliebte | |
/ (…) über eine spreche ich nie / sie ist mir die liebste / (…) wenn ich | |
müde werde, bringt sie mich in mein zimmer / sie faltet mich zusammen wie | |
ein taschentuch / sie berührt mich wie ein vogel“, heißt es in dem Text. | |
Die kleine Hommage stammt von der Journalistin und Schriftstellerin Juliane | |
Liebert, die kürzlich diesen Gedichtband bei Suhrkamp veröffentlicht hat. | |
„lieder an das große nichts“ heißt er, und dass eine Figur wie Nico darin | |
gewürdigt wird, ist alles andere als Zufall, steht diese Künstlerin doch so | |
sehr für den Pomp und den Wahnsinn, die Tiefe, die Schwere und die | |
Verzweiflung, die in großer Popmusik stecken kann. | |
All das findet sich in diesen Gedichten in anderer Form wieder. Nur kommt | |
hier noch der Humor dazu, für das lyrische Ich oft ähnlich | |
überlebenswichtig wie Zigaretten: „die große verzweiflung hat mich, und ich | |
hätte lieber kippen / ich hätte lieber kippen als alles andere auf der | |
welt“, schreibt Liebert im titelgebenden Gedicht. | |
Den popinteressierten Leser:innen dürfte ihr Name ein Begriff sein. | |
Seit einigen Jahren schreibt die in Halle (Saale) aufgewachsene und in | |
Berlin lebende Autorin scharfe, präzise und unterhaltsame Texte zu | |
Popkultur und Kunst für verschiedene Feuilletons. Dabei frühstückt sie von | |
Justin Bieber über Cyberpunk bis zu [1][Hengameh Yaghoobifarah] viele | |
unterschiedliche Themen ab. Im vergangenen Jahr hat Liebert Fotografien zu | |
einem [2][Gedichtband von Franz Dobler] beigesteuert, zudem hat sie eine | |
Apologie des Schimpfens vorgelegt („Hurensöhne! Über die Schönheit und | |
Notwendigkeit des Schimpfens“). | |
„lieder an das große nichts“ kommt nun auch wie eine Liebeserklärung an d… | |
Format Gedichtband daher. Das Büchlein ist toll und minimalistisch | |
gestaltet; die Prägung auf dem Buchcover, der Satz, in dem manchmal wenige | |
Worte eine Doppelseite füllen, all das ist so sorgfältig gearbeitet wie | |
auch die Gedichte. Man nimmt es gern zur Hand wie eine schicke LP. | |
## „die battlerapper trösten“ | |
Einige dieser Texte sind ganz große Kunst. „na einer muss ja auch die | |
battlerapper trösten“ etwa: „komm lass mich meinen kopf in deinen legen / | |
ich bin der spiele so müde, selbst die messer/ haben das stechen satt und | |
das schneiden / und das steak will wachsen zum tier / und einer muss doch | |
auch die battlerapper trösten / wenn sie in tränen aufgelöst in ihren | |
jaguaren / kauern, und einer muss doch die berge glätten / bis sie flach | |
sind wie hotelbetten gegen drei am nachmittag“. Die Ironie, die Metaphorik, | |
der Subtext, da stimmt alles. Der Tonfall erinnert einen an die | |
journalistische Arbeit Lieberts. | |
Man könnte die hier versammelten Texte Gelegenheitsgedichte nennen (aber | |
ohne die leicht pejorative Konnotation, mit der dieser Begriff manchmal | |
belegt ist). Manche sind formal Miniaturen („kraken“), manche lyrische | |
Aphorismen („grob gefasst“), andere fallen in die Kategorie Prosagedichte, | |
zum Beispiel das tolle „badamm badamm“. Darin beschreibt die Autorin, wie | |
eine Tochter ihrer Mutter auf der Intensivstation eines Krankenhauses beim | |
Sterben zusehen muss. Der Rhythmus des Gedichts nimmt den Herzschlag der | |
Mutter auf, mit den vielen Kommata, die man klopfen zu hören meint. | |
## Sockendandys und Senfeier, Suizid und Seuche | |
Die literarischen Referenzen, die einem in den Sinn kommen können, sind zum | |
einen US-amerikanische (Underground-)Lyrik von Bukowski über Ferlinghetti | |
bis zu Patti Smith, aber auch die frühe deutsche Poplyrik eines Rolf Dieter | |
Brinkmann. Namentlich nennt Liebert aber vor allem Künstlerinnen als | |
Inspiration, etwa die Berliner Surrealistin Unica Zürn oder Marianne | |
Faithfull. „auf ihrem bett in paris marianne“ ist eine kleine Verneigung | |
vor der britischen Musikerin, das Gedicht handelt von einem Treffen | |
Lieberts mit ihr vor ein paar Jahren (als sie ein Porträt für den Spiegel | |
schrieb). | |
Thematisch geht es ansonsten eigentlich um alles, was gedichttauglich ist – | |
also um alles. Ein Lob dem Schamhaar, eine Alternativversion von | |
Rotkäppchen, eine „Blade Runner“-Würdigung kommen vor, Sockendandys und | |
Senfeier, Suizid und Seuche. Auch das Lebensgefühl der 10er Jahre in Berlin | |
(Sockendandys!) findet man in diesen Texten wieder, nicht nur, weil | |
gelegentlich Orte genannt werden. | |
Einige wenige Beiträge wären vielleicht verzichtbar gewesen, etwa der | |
Dada-Dialog „streitgespräch“, aber das reißen viele andere allemal wieder | |
raus. Und ein Buch, auf dessen Rückseite ein Leitspruch steht, den man | |
gerne groß auf Häuserwände gepinselt sähe, kann eh nur gut sein. „friede | |
den irren, / friede den politikern den popstars / friede den dichtern/ den | |
gefühlsmenschen den maden / im mantel der sensation“, ist da zu lesen. | |
7 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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