| # taz.de -- Lyrik von Mila Haugová: Schlagfertigkeit der Seele | |
| > Alterssexualität, der Doppelpunkt als Dominantseptakkord: Für ihre Lyrik | |
| > erhält Mila Haugová Anerkennung auch außerhalb der Slowakei. | |
| Bild: Die Lyrikerin Mila Haugová zu Besuch beim 18. Poesiefestival Berlin im J… | |
| Insgesamt 23 Gedichtbände musste die 1942 in Budapest geborene, seit Langem | |
| in Levice und Bratislava heimische Mila Haugová in der kleinen slowakischen | |
| Sprache veröffentlichen, um der Anerkennung teilhaftig zu werden, wie sie | |
| nur wenige internationale Literaturpreise in Aussicht stellen. Mit dem | |
| Erhalt des „Vilenica Prize“ 2020 steht die für jüngere slowakische | |
| Lyriker:innengenerationen maßgebliche Haugová endlich in einer Reihe mit | |
| den namhaftesten Schriftsteller:innen der Welt. | |
| Parallel zu ihrer späten Würdigung zeichnet sie gemeinsam [1][mit Anja | |
| Utler verantwortlich für die Übersetzung] einer repräsentativen Auswahl an | |
| Gedichten aus ihren letzten drei slowakischen Büchern: „Zwischen zwei | |
| Leeren“ ist ihre dritte lyrische Publikation in der „Edition | |
| Korrespondenzen“ und ihre insgesamt sechste auf Deutsch. | |
| Der Titel, und das ist seine Schwäche, verweist nicht auf Haugovás große | |
| Leitthemen: die weibliche Autonomie in Liebesbeziehungen und familiären | |
| Kreisen, die Generationenfrage, die Aufhebung scheinbarer Gegensätze wie | |
| Natur und Kultur oder Verstand und Gefühl, das Leib-Seele-Problem, das | |
| spirituelle und mystische Erlebnis, die antike Mythologie und ihre | |
| Aktualisierungen. Doch er hält präzise den Kummer fest, in dem die Motive | |
| eingetaucht sind im autobiografisch grundierten Alterswerk der Lyrikerin. | |
| Typisch für dieses Alterswerk ist seine „Ungegenwart“. Unter dieser | |
| [2][Hegel’schen Negati]on sind die unzähligen Rückschauen in der | |
| Abwesenheit einer unmittelbar erlebten Gegenwart und einer persönlich | |
| vorgestellten Zukunft adäquat zusammengefasst. Die Zukunft ist Sache der | |
| weiblichen Nachkommenschaft geworden, der „Tochter“ und der „Töchter mei… | |
| Tochter“: „ich will nicht groß werden weil dann stirbst du“, wird eine | |
| Enkelin zitiert. Und der Gegenwart redet ständig die Vergangenheit über den | |
| Mund: „es gibt kein einziges neues / Erlebnis mehr das sich nicht verfangen | |
| würde in einer Erinnerung“. Haugovás von Bedauern gelenkte Poesie gipfelt | |
| in der Ernüchterung, dass die Vergangenheit sich nicht „geraderücken“ | |
| lasse. | |
| Auch das Sichverfangen, das ein Weiterkommen behindert oder in eine | |
| vielleicht unerwünschte Richtung ablenkt, wäre eine Schwäche des | |
| Gedichtbandes, wenn dahinter nicht etwa ein ganzes poetisches | |
| Konstruktionsprinzip stecken würde. Die „Pflanzentagebücher XXX“ mit ihrer | |
| kosmologischen und edenhaften Gartenmetapher geben Auskunft darüber: Eine | |
| Natter macht sich im „nassen Garten“ als „schlanker silbergrauer Körper�… | |
| bemerkbar, das macht die Gärtnerin neugierig und ängstlich, was zu ihrem | |
| Entschluss führt, „das Gras ganz kurz [zu] schneiden / so dass sie kein | |
| Versteck mehr hat“. | |
| Die angepeilte Sichtbarmachung der Natter durch das Grasschneiden verfängt | |
| sich im selben Text schließlich in einer Kombination biblischer | |
| Sinnbildhaftigkeit und sexueller Fantasie, die bei Haugová eingebettet ist | |
| im übergeordneten Komplex der Alterssexualität: „Ich habe lange/ mit | |
| niemandem mehr geschlafen ist die Schlange wirklich ein / Symbol der | |
| Verführung?“ In einem anderen Gedicht ist es eine „keltische Stille“, die | |
| vermeintliche Disparatheiten „unterirdisch“ miteinander verknüpft, um das | |
| „umfassende Chaos der wahrgenommenen / Dinge“ ein Stück weit zu bändigen. | |
| Das ist keine bildungsbürgerliche Heranführung an poetische Konstrukte, | |
| sondern ein poetopsychologischer Versuch der Definierung von Archetypen. | |
| Ein solcher ist die weibliche Urform Alfa, die hier Nester baut und dort | |
| als „eingeborene Vertikale“ zu den „Gestalten der Tiefe“ gehört. Oder … | |
| „Urstern in rotem Zerfall“. Oder das „immer wieder […] aus der Dunkelhe… | |
| tauchende Tier. Und wenn Haugová den Archetyp sprachlich nicht fassen kann, | |
| weil „von dem was wir kennen […] nichts / das älteste“ sei, dann grenzt … | |
| ihn raumzeitlich vom menschlichen Erkenntnisvermögen ab. Das tut sie | |
| bisweilen mit vagen Begrifflichkeiten wie „Vorherrede“ oder | |
| „Vor-Erschaffenes“. | |
| Um sich Archetypen und Ursprüngen anzunähern, wägt Haugová auch Theorien | |
| ab. Ihre liebste Sprachursprungstheorie ist typischerweise feministischer | |
| Natur: „die Theorie dass die Sprache beim Sex entstanden ist gefällt mir | |
| besser / in der Tiefe der Lust kam aus der Kehle der Frau ein langes aaa…“ | |
| – wiederum eine Referenz auf die weibliche Urform und den „griechischen | |
| Buchstaben Alfa“. | |
| Doch ihr Unternehmen bevorzugt weitgehend den Traum in seiner | |
| psychoanalytischen Dimension und ist dementsprechend nicht frei von | |
| Hermetik, „codierter Sprache“ und „Privatsprache“. So sind Haugovás | |
| Gedichte oft Traumnotate, die, wenn sie aus zeitlicher Distanz durch die | |
| entsprechenden Traumdeutungen ergänzt werden, mit zwei Jahreszahlen datiert | |
| sind. Die „Pflanzentagebücher XXXIV“ sind mit dem Datum „1996–2016“ | |
| versehen: Im Traum erscheint ein Mann mit „asiatisch glatten / Haaren“, und | |
| in der Traumdeutung herrscht Gewissheit: „Es ist O.“, „ein Chinese aus | |
| Malaysia“. | |
| Analysand:in und Analytiker:in finden bei Haugová ihre poetische | |
| Entsprechung in „Traumsuche“ und „Traumheiler“, zwischen denen stets der | |
| „Traumzaun“ als interpretatorische Hürde ragt. „Traumzaun“ – das ist… | |
| psychoanalytische Abwandlung des [3][Celan’schen „Sprachgitter]s“. | |
| Um solchen verschlungenen Komplexitäten lyrisch gerecht zu werden, hat | |
| Haugová über Jahrzehnte hinweg ein quasimusikalisches Notationssystem | |
| entwickelt, das sich zu Adornos kurzem Entwurf über das „geschichtliche | |
| Wesen der Satzzeichen“ wie ein poetisches Abbild verhält. Beiden geht | |
| jegliche „Gebärde der Autorität“ vollkommen ab. Die autoritärste war für | |
| Adorno das Ausrufungszeichen. In Haugovás Gedichten ist es fast getilgt, | |
| wie auch das Komma und das Semikolon. Was vorherrscht, ist der | |
| mundaufsperrende, von Adorno mit dem Dominantseptakkord verglichene | |
| Doppelpunkt, den Haugová, ganz adornitisch, „nahrhaft füttert“. | |
| Es heißt einmal: „der Lebenswille lockert sein Seil“. Haugovás Alterswerk | |
| tut es nicht, im Gegenteil, es ist eine Manifestation von „Tempo und | |
| Schlagfertigkeit der Seele“. Es ist innerlich derart vibrierend | |
| unaufgeräumt, dass die von ihm verzauberte Lyrikwelt auf seine Fortsetzung | |
| hoffen darf. | |
| 14 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alexandru Bulucz | |
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