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# taz.de -- Lyrik von Thomas Brasch: Die Suche nach dem Woanders
> Die ewig unterschätzte Songwriterin Masha Qrella macht aus den Gedichten
> von Thomas Brasch große Songs. Sie schöpft deren Pop-Potenzial voll aus.
Bild: Masha Qrella im Buchstabenregen
Verse und Wortfetzen flackern durch den Saal, sie werden in
Typewriter-Schriftart auf die Bühnenwand, auf Vorhänge, auf den Boden
projiziert. Es ist, als sähe man Thomas Brasch beim Schreiben mit der
Schreibmaschine zu, als hocke man in seiner Wohnung und könne ihm über die
Schulter schauen, wie er die Zeilen dahin wirft, die manchmal wie Strophen
von Popsongs klingen; als sei jetzt wieder 1980 und er hacke die
bleischweren Verse aus „Der schöne 27. September“ in die bleischweren
Tasten: „Wolken gestern und Regen/ Jetzt ist keiner mehr hier/ Ich bin
nicht dagegen/ Singe und trinke mein Bier.“
[1][Masha Qrella] hat einige Texte des 2001 verstorbenen Schriftstellers
[2][Thomas Brasch] nun zu den Songs verarbeitet, die sie vielleicht immer
schon sein wollten; am Mittwochabend feierte die Performance „Woanders“ im
HAU 2 in Berlin Premiere.
Die ewig unterschätzte Berliner Multiinstrumentalistin und Sängerin stellt
dabei die Lyrik Braschs ganz in den Vordergrund, Qrella reduziert die Musik
meist auf das Wesentliche, gießt seine Verse in New-Wave- oder
Songwriter-Stücke. Unterstützt wird sie von Chris Imler am Schlagzeug und
Drumpad, der sein unnachahmliches, ureigenes Imler-Uffta anrührt, sowie
Andreas Bonkowski, der für Synthesizer und Percussion zuständig ist.
## Melancholie und Outsidertum
Zunächst ist das Trio in einen zylinderförmigen Vorhang eingehüllt, darin
wie im Grauschleier versunken, die Buchstaben der Brasch’schen
Schreibmaschine prasseln auf die drei ein, ehe der Nebel sich lichtet, der
Vorhang sich öffnet. Es zeigt sich schnell, dass die Ästhetiken Braschs und
Qrellas sich sehr gut ergänzen: Wo Brasch das perfekte Gespür für die Zeile
hatte, hat Qrella einen todsicheren Instinkt, diese formgerecht in eine
Hookline zu übertragen.
Beide Künstler eint die Schwere, die Melancholie, das Outsidertum, das sich
in die Songs überträgt. Da können die Augen schon mal beschlagen, wenn
Qrella mit ihrem hellen Sopran singt: „Wenn man woanders wär (…)/ Nur
woanders/ aber wo nur, wo, wo ist man woanders/ wo ist man denn anders?“
Masha Qrella schöpft die Pop-Potenziale der Lyrik Thomas Braschs voll aus,
denn dieses „Woanders“ ist vielleicht nicht weniger als der zentrale Topos
von Pop überhaupt: Fast immer sucht der Pop ein Woanders.
Einige Gedichte Braschs, der zunächst in Ostberlin lebte und 1976 als
DDR-Dissident nach Westberlin ging, kann man im Übrigen als Popliteratur
klassifizieren; der Grund, warum er selten in der frühen Popliteratur
verortet wird, liegt wohl darin, dass er genauso andere Lyrik-Traditionen –
so unterschiedliche wie Heine, Brecht, Benn – verfolgt hat.
Text und Stimme bleiben sehr dominant an diesem Abend; einfach deshalb,
weil sie stark und stur sich selbst behaupten, sich selbst behaupten
müssen; das gilt für die zeitlosen Textvorlagen Braschs genauso wie für die
immer besser werdende Singstimme Qrellas, die jeden Ton trifft.
Die prominenten Duettpartner des Abends erweisen sich als kongeniale
Sidekicks: mit [3][Dirk Von Lowtzow] singt Qrella „Das Meer“ (aus dem
Nachlass, veröffentlicht 2002 in „Wer durch mein Leben will, muß durch mein
Zimmer“), mit Andreas Spechtl das maschinenmäßig getaktete „Frage“
(Nachlass, in „Gesammelte Gedichte“, 2013) und mit Roland Lippok die
[4][berühmten Verse aus „Der Papiertiger“] (1977): „Was ich habe, will i…
nicht verlieren, aber/ wo ich bin will ich nicht bleiben, aber/ die ich
liebe will ich nicht verlassen (…)“. Auch Braschs Schwester – die
Schriftstellerin und Moderatorin Marion Brasch – ist beteiligt; ihre Stimme
ertönt in einem Lied vom Band, sie liest Verse ihres Bruders.
Manchmal glaubt man, Masha Qrella hätte nun jene Eighties-Hits geschrieben,
die sie qua später Geburt – sie ist Jahrgang 1975 – zu NDW-Hochzeiten noch
nicht schreiben konnte. Zu minimalistischen Beats singt sie vor Einsamkeit
strotzende Verse wie folgende: „Jetzt bist du weg ein halbes Jahr/ ich sauf
mich voll vom Morgen in die Nacht/ Hab schon vergessen wer ich war/ und hab
mir eine Hure angelacht (…) sie liegt ach liegt/ wo wir zusammen eng
umschlungen standen“.
Nachdem sie zum Schlussapplaus den gesamten Cast auf die Bühne gebeten hat
– hervorgehoben sei an dieser Stelle noch mal das Videokonzept von Diana
Näcke –, sagt Masha Qrella ganz zum Ende: „Und in Gedanken und Gedichten
heute bei uns: Thomas Brasch“.
Wohl wahr.
5 Dec 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Lyrik
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Thomas Brasch
Masha Qrella
deutsche Literatur
Lyrik
Dokumentarfilm
Neues Album
Schwerpunkt 1968
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