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# taz.de -- Dokumentar- und Familienfilm: Notrufe aus Wien
> Mit alten Briefen und Tagebüchern ging es los: In Thomas Heises Film
> „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ erwachen verlassene Orte zu spukhaftem
> Leben.
Bild: „Das Schöne ist nichts als der Anfang des Schrecklichen“ – so ist …
Thomas Heise zitiert gern den Satz, dass man mit Biografien beginnen müsse,
wenn man Geschichte verstehen will. Auch die boomende Serien-Industrie
scheint diesem Motto des Publizisten Sebastian Haffner zu folgen, aber der
Dokumentarfilmregisseur Thomas Heise meint es anders.
Lange beschäftigten ihn die persönlichen Fundstücke seines Erbes, nachdem
2014 seine Mutter und bald darauf sein Bruder gestorben waren. Es ging dem
1955 in Ostberlin geborenen Sohn des Philosophieprofessors Wolfgang Heise
und der Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Rosemarie Heise wie
vielen aus seiner Generation: Er sah sich mit Briefen, Tagebüchern und
Dokumenten konfrontiert, die in einer besonderen Anschaulichkeit und
Intensität, die im digitalen Zeitalter kaum noch fortgesetzt wird, aus dem
vergangenen Jahrhundert berichten.
Intime Zeugnisse seiner prominenten DDR-Intellektuellen-Familie treffen auf
die öffentliche Neugier, aber für Heise, ein erklärter Außenseiter des
gegenwärtigen Dokumentarfilm-Betriebs, kam die gängige Narration zu
illustrierenden Foto- und Filmpassagen, wie sie etwa Annekatrin Hendels
Film über die Familie Brasch mit bequemen Identifikationsangeboten
verknüpft, nicht in Frage.
## Die große Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Als Material versteht er die Relikte, als spröde, für sich selbst
sprechende Fragmente der großen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts,
ähnlich seinem Ansatz in dem Film „Material“ (2009), in dem er Brüche und
Widersprüche aus zwei Dekaden nach der friedlichen Revolution 1989 zu einem
ernüchternden Tableau montierte.
„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ – mit diesem sprechenden Titel fasst Thomas
Heise seine Suche nach der schlüssigen Form für die Mikrogeschichten seiner
Familie in ein schönes Bild. Sein Film ist ein Brocken, der dreieinhalb
Stunden Lebenszeit seines Publikums fordert und seine volle
Suggestionskraft erst im Dunkelraum eines Kinos entfaltet.
An Schauplätzen in Wien, Berlin, Peenemünde, Zerbst, auf Güterbahnhöfen, an
Gleisen, Straßen und Brachen entstanden – u. a. mit dem Kameramann Peter
Badel, mit dem Thomas Heise seit Langem zusammenarbeitet – menschenleere
Einstellungen von extremer Dauer, melancholische Totalen in kontrastreichem
Schwarz-Weiß, die mit minimalistischen Soundcollagen aus den authentischen
Geräuschen am Ort zu einem spukhaften Leben erweckt werden.
## Angst vor der Deportation
In Zerbst zeigt er das ehemalige NS-Gefangenenlager und nachmalige
sowjetische Kasernengelände, das heute in ruinösem Zustand nur noch ein
paar einsamen Windkrafträdern Platz bietet, und liest dazu den Entwurf
eines Lebenslaufs, den Thomas Heises Vater Wolfgang 1944 verfasste, als er
von den Nazis in Zerbst inhaftiert wurde und erst im Chaos vor der
heranrückenden Roten Armee fliehen konnte.
Die Bilder dieses Unortes stehen für sich und wirken zugleich wie Metaphern
auf das Elend der Familie, das der 19-Jährige nüchtern und gefasst
beschreibt. Wegen der jüdischen Identität der Mutter, einer Keramikerin,
von der sich der Vater nicht trennte, verloren die Großeltern von Thomas
Heise im Dritten Reich ihre Existenz und lebten in ständiger Angst vor der
Deportation.
Eine zwanzig Minuten lange Passage zuvor gehört zu den eindringlichsten
dieses monumentalen Familienporträts. Aus Wien erreichten Postkarten und
Briefe die Familie, in denen die Angehörigen verzweifelt und dennoch mit
unglaublicher Contenance von der eskalierenden Entrechtung, Vertreibung und
schließlich Deportation seiner Urgroßeltern und vieler Verwandter
berichten.
Sachlich, spröde, mit Understatement Distanz haltend, liest der Regisseur
die dramatische Folge der Notrufe vor, während dazu die Namenslisten der
Wiener Juden im Bild erscheinen, eine nicht enden wollende Folge infamer
bürokratischer Dokumente zur Vorbereitung der KZ-Transporte, in denen der
Regisseur die Namen seiner vielen ermordeten Vorfahren rot markierte.
## Hallraum der Ideengeschichte
Wer die Rolle von Wolfgang Heise als Mentor von Wolf Biermann und Gegner
der Ausgrenzung von Robert Havemann, seinen Einfluss als undogmatischer
Philosoph, nicht zuletzt die Rolle seiner Frau Rosemarie in der Literatur-
und Theaterszene der DDR kennt, wird Heises Spiel mit Zitaten, darunter
Briefe von Christa Wolf, und eine knappe Brecht-Reflexion zwischen Wolfgang
Heise und Heiner Müller, mit anderen Augen wahrnehmen.
Viel wird vorausgesetzt in dem Hallraum der Zeit-, Ideen- und
Gefühlsgeschichte, der sich in den Briefen und Notizen seiner Protagonisten
öffnet. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ verweigert radikal die
eingeschliffenen Konventionen, die die gängigen Formate zur
Geschichtsvermittlung zu Sehgewohnheiten verfestigt haben. In Erinnerung
bleibt das Material der Familiengeschichte jedoch auch ohne diese
Vorkenntnisse. Klar und einprägsam treten die Gespenster der Vergangenheit
in Heises „Raum aus Zeit“ ans Licht.
26 Sep 2019
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
Dokumentarfilm
DDR
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Mauerfall
Melancholie
Dokumentarfilm
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Lyrik
Lesestück Interview
Frank Castorf
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