# taz.de -- Mauerfall auf Zelluloid: Am Ende holt die Geschichte dich ein | |
> Die kommentarlos aneinandergeschnittenen Bilder aus den letzten Tagen der | |
> DDR entfalten in Thomas Heises "Material" große Wirkung. | |
Bild: Szene aus "Material". | |
"Immer bleibt etwas übrig/ Ein Rest, der nicht aufgeht/ dann liegen die | |
Bilder herum/ und warten auf Geschichte", heißt es anfangs. Die | |
größtenteils im Umfeld von 1989 entstandenen Bilder, die gewartet haben, | |
sind übriggebliebene Szenen, die der Dokumentarfilmer Thomas Heise im | |
Umfeld anderer Filme gedreht und nun kommentarlos aneinandergeschnitten | |
hat. | |
Was DDR ist oder war, wer zur DDR-Geschichte also steht, wie der | |
Theaterregisseur Fritz Marquardt, und sie nicht verleugnet, ist | |
schwarz-weiß; zwei Szenen, die von Post-89er-Verwirrungen handeln - | |
Häuserkampf und Bilder von dem Versuch, die Aufführung von Heises Film | |
"Stau" zu verhindern -, sind in Farbe. | |
Die Szenen mit Fritz Marquardt bilden den zeitlichen Rahmen von "Material". | |
Man sieht den knorrigen, von der Geschichte gezeichneten Theatermacher des | |
Volkes 1988 in Arbeitsgesprächen mit Kollegen während seiner Inszenierung | |
von Heiner Müllers "Germania Tod in Berlin" und 2008, bei der Feier seines | |
80. Geburtstags in der Volksbühne. | |
Eine Szene hat mich regelrecht elektrisiert, wahrscheinlich, weil ich mir | |
früher immer gern die Krawalle am ersten Mai anguckte. Sie steht ziemlich | |
am Anfang des Films und wurde nachts während der Räumung der Mainzer Straße | |
am 14. November 1990 gedreht: eine Straßenschlacht. Polizeisirenen. Wannen. | |
Rauchschwaden. Scheinwerfer. Leuchtgranaten. Pflastersteine fliegen auf | |
Polizisten und ihre Einsatzwagen. Über Lautsprecher versucht ein Polizist, | |
mit den Angreifern zu verhandeln. Seine Stimme ist gleichzeitig flehend, | |
ängstlich und entschlossen. Um eine gemeinsame Gesprächsgrundlage | |
herzustellen, sagt er mehrmals: "Ich bin aus Kreuzberg." Und danach immer | |
wieder: "Ich möchte mit euch sprechen." Während Steine auf die Wanne | |
hageln, ruft er: "Ich komme jetzt auf die Straße heraus mit erhobenen | |
Händen. Ich möchte mit euch sprechen." Menschen rufen: "Haut ab!" Der | |
Polizist ruft: "Ich möchte gerne zu euch hochkommen und mit euch da oben | |
auf dem Dach reden. Könnt ihr mir jemanden runterschicken, der mir den Weg | |
nach oben zeigt? Ich komm jetzt raus." | |
Kamera und Ton sind beängstigend nahe am dramatischen Geschehen. | |
Polizeischeinwerfer richten sich auf junge Leute, die unschlüssig auf dem | |
Dach stehen. Die Polizisten starten eine Gegenoffensive. Sie wirken | |
verängstigt hinter ihren Schildern, auf die Steine fliegen, und rufen | |
"Hopp, hopp", als sie losrennen. Die Kamera scheint nun ein wenig planlos | |
hin- und herzuirren. | |
Nun taucht ein Mann auf. Mit seinem Bart sieht er aus, wie man sich einen | |
DDR-Bürgerrechtler vorstellt. Er steht fassungslos vor einem Wasserwerfer | |
und brüllt: "Hört auf!" Er fällt vor dem Wasserwerfer auf die Knie, faltet | |
die Hände, beugt sein Haupt mehrmals, beschwört die Polizisten, die ihn so | |
wenig beachten, wie die Steinewerfer auf dem Dach das Gesprächsangebot des | |
Polizisten beachtet hatten. Wie um ihn zu verhöhnen, tröpfelt der | |
Wasserwerfer schon ein bisschen. Der "Bürgerrechtler" begreift, dass er | |
nichts erreicht. Wütend wirft er seine Jacke auf den Boden, hebt sie wieder | |
auf und geht seiner Wege. | |
Die Szene dauert vielleicht fünf Minuten. Bis man irgendwann ein | |
Straßenschild sieht, hätte es auch Kreuzberg in den Achtzigern sein können. | |
Es sind aber Bilder von der letzten großen Schlacht der West-Autonomen im | |
Osten, an der die rot-grüne Koalition zerbrach. | |
Die Autonomen versuchten damals, die "faschistischen Angriffe der Bullen" | |
(wie es in dem 100-minütigen Video des Kollektivs Mainzer Straße heißt, das | |
sich zur Parallellektüre von "Material" gut eignet) tatsächlich mit allen | |
Mitteln zu stoppen; die Polizisten setzten teils auch scharfe Munition ein. | |
Dass niemand starb, ist Glück, das tatsächliche Ausmaß der Gewalt in | |
"Material" nur angedeutet. | |
Wenn man das sieht, kommt es einem vor, als sei es wahnsinnig lange her, | |
und es korresponndiert auf eine ganz seltsame Weise mit anderen Szenen, die | |
völlig unspektakulär sind, aber tatsächliche Veränderung der Verhältnisse | |
illustrieren. Bilder von der Basis der Einheitspartei, die einen Tag vor | |
Maueröffnung vor dem Haus ihrer Führung demonstriert; eine SED-Grinse-Oma, | |
die bei einer Einwohnerversammlung auf Schönwetter macht. Wärter und | |
Gefangenensprecher der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg, die im | |
Dezember 1989 vor der Kamera sagen, was ihnen wichtig erscheint. | |
Volkskammerabgeordnete erklären in einer der letzten Volkskammersitzungen | |
ihre Stasi-Mitarbeit. Sie versuchen zu sprechen und es kommt nur ein | |
durchgehend unbeholfenes Schriftdeutsch dabei heraus. | |
In Heises Film "Eisenzeit" von 1991 hieß es: "Immer bleibt etwas übrig/ Ein | |
Rest, der nicht aufgeht/ Und am Ende habe ich den Anfang fast vergessen/ | |
Eines Tages holt dich die Geschichte ein." | |
12 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
## TAGS | |
Dokumentarfilm | |
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